FRANZ ULRICH

NACHRICHTEN AUS EINEM SCHWEIZERISCHEN ENTWICKLUNGSGEBIET — WIR BERGLER IN DEN BERGEN SIND EIGENTLICH NICHT SCHULD, DASS WIR DA SIND VON FREDI M. MURER

CH-FENSTER

Fredi M. Murers Film über — oder besser mit — Urner Berglern ist das Werk eines Insiders, eines Betroffenen, eines Mit-Leidenden, fast möchte ich sagen: eines Liebenden. Murer ist mit seiner Equipe nicht in den Kt. Uri gefahren, um Bilder für einen «interessanten» Filmbericht zu schiessen. Er hat keine Schau mit knorrigen, bärtigen Älplertypen, Feiertagsfolklore und Landschaftskulissen zur Fremdenverkehrswerbung veranstaltet. Murer bemühte nicht den an vaterländischen Feiern zur Hebung patriotischer Gefühle so beliebten Gemeinplatz von der Urschweiz als «Wiege der Demokratie». Sein Blick war nicht der eines Touristen, der in diesem Gebiet einige Tage Ferien verbringt oder in den Wochentagen in den Bergen Konditionstraining treibt. Er ist tief unter die Oberfläche von Klischeevorstellungen und hinter Fassaden aus Scheu, Unsicherheit, Trotz und Minderwertigkeitsgefühlen gedrungen. Murer und seine Mitarbeiter haben sich einer schwierigen Aufgabe unterzogen, sich bescheiden — diese Feststellung ist keine blosse Floskel! — in ihren Dienst gestellt: Bergler, die als Minderheit am Rande unserer Konsum- und Konjunkturwelt und doch in ihrem Einflussbereich leben, sich und ihre Lage selbst darstellen zu lassen. Dass ihm dies überzeugend gelungen ist, liegt wohl auch daran, dass die Welt der Bergler Murer nicht fremd ist. Er selbst ist Innerschweizer, 1940 in Beckenried geboren und in Altdorf zur Schule gegangen. Die Vertrautheit mit dem Menschenschlag der Urschweiz mag es ihm erleichtert haben, den keineswegs leichten Zugang zu diesen Berglern zu finden. Nur wer die Bergbewohner näher kennt, kann ermessen, wie schwierig ein solches Unterfangen für einen Fremden, einen Unterländer und Städter wäre. Murer hat sich mit dem Projekt dieses Dokumentarfilms fast vier Jahren lang beschäftigt. Anhand langwieriger und sorgfältiger Recherchen hat er sich mit der Urner Bergbevölkerung, ihrem Charakter und ihren Problemen vertraut gemacht. Das Ergebnis, 12 Kilometer belichteter Film und 30 Stunden Tondbandgespräche, zeugen vom Einsatz des Filmteams. Aus diesem Material wurde ein fast zweistündiger Film zusammengestellt, der sich auf die spezifische Lage von drei Urner Tälern konzentriert und typische Aspekte des Berglerlebens von heute dokumentiert. Dabei ist es Murer in keiner Weise darum gegangen, Bildmaterial zur Illustrierung einer gesellschaftspolitischen These oder eines ideologischen Exposés zu sammeln. Wir Bergler ist kein Thesenfilm, im Gegenteil. Kein besserwisserischer Kommentar stellt sich neben oder vor das, was die Leute selbst zu sagen und vorzustellen haben: Sich selbst, Familie, Arbeit und Umwelt. Murers Film ist ein authentisches Zeugnis vom Leben der Urner Bergler in den Jahren 1973/74, dargestellt weitgehend aus deren eigener Sicht und Vorstellung. Murers Stellungnahme liegt darin, dass und wie er diesen Film gemacht hat, liegt in der überlegten Auswahl und sorgfältigen, subtilen Montage des Materials, vor allem auch in der behutsamen Wahl der sparsam eingesetzten Musik mit Stücken von Bach bis Ligeti. Murers Einstellung, seine Achtung und Sympathie diesen Berglern gegenüber, lassen sich auch daran ablesen, dass sie sich offensichtlich vom Filmteam und seinem ungewohnten technischen Aufwand nicht gehemmt und bedrängt fühlten, sondern sich frei gaben und frisch von der Leber weg sprachen. Wo es dennoch Hemmungen gab, hat Murer darauf Rücksicht genommen und z. B. Interview und Kameraaufnahmen nicht gleichzeitig gemacht, sondern die Person erst beim Abhören ihrer eigenen Tonbandaufnahme gefilmt. All dies zeugt von Respekt und einem keineswegs sentimentalen Feingefühl Menschen gegenüber, für die das Drum und Dran des Filmens nicht zum vertrauten Alltag gehört.

«Ein Film mit Urnern in drei Sätzen» — so lautet der Untertitel des dreiteiligen Werkes, dass sich im Speziellen mit der Situation der Bewohner Göschenens und des Göscheneralptals, des Schächen- und Maderanertals befasst. Schon der Beginn macht klar, dass die Kamera den Zuschauer nicht in eine heile, problemlose Alpenwelt führen wird: In rascher Fahrt geht es das von riesigen Strassentunnels durchlöcherte, verbetonierte Reusstal hinauf. Dieser Sequenz ist eine Musik von György Ligen’ unterlegt, die Trauer, Schmerz und Empörung ausdrückt.

«Es muss eine ganz andere Änderung geben im ganzen Ding da.» — Das Tunneldorf Göschenen steht für das Ende einer Entwicklung: Hier gibt es nur noch einen einzigen Landwirt. Die ehemaligen Bauern und ihre Söhne sind als Arbeiter oder Angestellte bei der SBB, im Strassenbau oder im Elektrizitätswerk tätig. Es gibt nur drei Lehrstellen; einer versucht sich als SBB-Arbeiter, Freizeit-Schafzüchter und Metzger durchzuschlagen. Die technische und industrielle Entwicklung hat die Struktur des früheren Bauern- und Säumerdorfes völlig verändert. Die neue Zeit mit ihren Vor- und Nachteilen hat Einzug gehalten: Heute verdingen sich hier Türken als Knechte. — Durch den Staudammbau 1955-62 hat auch das Göscheneralptal sein Aussehen verändert. Ein Filmdokument von 1935, aufgenommen vom damaligen Kaplan, blendet in die Zeit vor dem Kraftwerkbau zurück. Von 11 Familien blieben dann nur noch zwei und siedelten sich neu unterhalb der Staumauer an. Der Bergführer und Wirt Julius Mattli, 84, hält das Göscheneralptal für das schönste wild-romantische Tal der Schweiz. Er hat mit 38 geheiratet — immer noch früh genug, denn er hat sechs Buben und eine Tochter. Nicht vorzustellen, wenn er mit 20 geheiratet hätte. Er ist zufrieden und denkt, dass auch der Wohlstand Grenzen hat und einmal zu Ende geht, dann bleiben die Leute wieder eher in den Bergen. «Noch besser leben, noch besser leben — einmal hörts auf. Und dann gehts hoffentlich langsam bergab und nicht geschwind, sonst gibts eine Katastrophe.» Andern macht das Bergbauernleben hier oben mehr zu schaffen. Da sitzt einer in einem stattlichen Haus, allein in Stube und Kammer. Er hat keine Frau gefunden, nur zum Bauern wollen sie nicht kommen. «Da ist es mir auch fast verleidet.» Aber als Ältester harrt er auf dem Heimet aus. Die Frauen sehen bei ihm keine Zukunft; denn wie steht es mit den Ausbildungsmöglichkeiten für Kinder, wie mit der ärztlichen Betreuung, der sozialen und wirtschaftlichen Sicherheit? Einen Bergbauern heiraten, das könnte man wirklich nur aus lauter Liebe, meint eine Frau.

«Diese Kinder haben bereits die Leidenschaft zum Älplern gelernt.» — In einer andern Situation als das Göscheneralptal befindet sich das Schächental. Der Bauer im «Butzen» hat, wohin er auch blickt, Nachbarn, die gleich ihm einen kleinen Betrieb bewirtschaften. Hier scheint die Tradition des Familien-, Bauern- und Alpbetriebs noch ungebrochen. Es mangelt nicht an Kindern, und daher auch nicht an heiratswilligen Burschen und Mädchen. Im Rhythmus der Jahreszeiten ziehen die Familien vom Hof im Tal in mehreren Stationen bis auf die obersten Alpweiden und auf den Urner-boden; es wird in einem Sommer bis zu achtmal «gezügelt». Das ist gewiss ein mühsames, beschwerliches Nomadenleben, das von Erwachsenen und Kindern einiges an Arbeit und Einsatz abfordert. Auf Bequemlichkeit und die meisten «Segnungen» der Zivilisation muss verzichtet werden, manche Gebäude sind in einem schlimmen Zustand, die sanitären Einrichtungen oft jämmerlich. Das Rezept eines 92jährigen vom Urnerboden, alt zu werden, lautet: «Wir haben früher viel kleinen Hunger gehabt, aber nie grossen.» Trotz aller Beschwerlichkeiten, zu denen auch Krankheiten, Lawinen und Unwetter gehören, hangen diese Männer und Frauen an der eigenen Scholle, ihr Dasein steht noch in einem ursprünglichen Zusammenhang mit der Natur. Auf natürlichste Weise wachsen die Kinder in diese Welt hinein, die geprägt ist von einer festen Ordnung geistiger und religiöser Werte. Uralte Lebensrituale und Bräuche, noch kaum angefressen vom Rationalismus der modernen Zeit, tragen bei zu einem Gefühl der Beheimatung und Geborgenheit. In diesen magisch-religiösen Bereich gehört die besonders eindrückliche Betruf-Sequenz: Während der Vater das Alprund mit Mensch und Vieh dem Schutz des Allmächtigen, der Gottesmutter und den Heiligen empfiehlt — «Über der Alp liegt ein goldener Ring» —, bringt die Mutter die Kinder zu Bett im sinkenden Abendlicht — ein Bild scheuer, inniger Poesie, kreatürlicher Geborgenheit und Naturverbundenheit. Höchstes Lob verdient hier die unaufdringliche, subtile Kameraführung.

«Aber wir sagen uns manchmal hier oben, wir sind Bürger zweiter Klasse». — Bristen und das Maderanertal befinden sich offensichtlich im Umbruch und in einer schwierigen Lage. Die Hälfte der Bewohner sind Bauern, die andern arbeiten auswärts oder gehen dm Unterland zur Schule. Zwischen beiden Teile ist so etwas wie eine Kluft entstanden, man misstraut sich gegenseitig. Die Probleme drohen den Leuten über den Kopf zu waschen. Golzern hat keinen Arzt, keine rechte Zufahrt. Erwachsene Söhne haben es schwer, eine Frau zu finden — wozu sich hier auch derart abmartern? Warum eigentlich noch bleiben? Man will das Heimetli nicht einfach verlassen, schliesslich ist es mit Fremdkapital belastet, es ist in den Händen von jenen, die Geld haben — für die eine sichere Geldanlage, denn auf die Beharrlichkeit, Redlichkeit une Treue kann man eben Häuser bauen. Aber für die Ausharrenden ist das Leben schwer, der Boden oft schlecht und steil — in Bristen gibt es nur drei Güter, auf denen Maschinen einsetzbar sind. Die Entscheidungen werden vielfach anderswo getroffen, in Altdorf oder «oben» in Bern. Verbitterung und Resignation greifen um sich. Trotz des kargen Bodens wollen manche ausharren, wobei sie jedoch auf Hilfe angewiesen sind. Es braucht bessere Zufahrtsstrassen, es muss rationalisiert werden, um überleben zu können. Seit Jahrhunderten besteht eine Alpgenossenschaft, deren wirtschaftliche Bilanz negativ ist. Vielleicht liegt aber in der Erneurung und Ausweitung des Genossenschaftsgedankes eine Möglichkeit, der Schwierigkeiten Herr zu werden. Wenn die Bristener am Schluss auf dem Dorfplatz zusammenstehen und einen Kreis der Gemeinschaft und Solidarität bilden, setzen sie ein Zeichen der Hoffnung.

Als Dokumentarfilm ist Wir Bergler eine ganz hervorragende Leistung und setzt die Reihe von Ursula oder das unwerte Leben (Walter Marti/Reni Mertens), Die letzten Heimposamenter (Yves Yersin), Freut euch des Lebens (Roman Hollenstein) und ähnlicher Schweizer Filme würdig fort. Und als Dokument unserer schweizerischen Gegenwart besitzt Murers Film grossen kultur- und staatspolitischen Wert. Denn nicht zuletzt ist er eine Herausforderung an die Glaubwürdigkeit der vielberufenen freundeidgenössischen Solidarität. Die Berglandwirtschaft braucht Unterstützung. Die Arbeit der Bergbauern und ihr Nutzen für die Allgemeinheit werden noch nicht genügend anerkannt. Sie bewahren unsere Berggebiete vor der Vergandung und erhalten als Landschaftspfleger ein Erholungsgebiet von unschätzbarem Wert. Sie schaffen Lebensqualität. Aber mit Geldhilfe allein ist es nicht getan. Es gilt vielmehr das Selbstbewusstsein der Bergler zu stärken, damit ihre Identität intakt bleibt und sie sich als vollwertige und nicht-benachteiligte Mitglieder unserer Gesellschaft akzeptiert fühlen.

Murers Film nimmt sich Zeit, ein differenziertes Porträt der Urner Bergler zu zeichnen. Mit langsamen Schwenks werden Menschen und Landschaft eingefangen. Dabei entsteht ein wirklichkeitsnahes, klischeefreies Bild eines schweizerischen Entwicklungsgebietes. Murer lässt die Bilder auf den Zuschauer einwirken, wodurch Zeit und Raum für Überlegungen geschaffen werden, um die verschiedenen Ebenen des Films, etwa die politische, soziale und volkskundliche, zu erfassen. Es ist z. B. höchst aufschlussreich, genau auf die Sprache der Leute zu hören. Man entdeckt dabei nicht nur die verschiedenen Dialektfärbungen der Talschaften, sondern auch Ausdrucksformen, die auf die seelisch-geistige Verfassung der Sprechenden schliessen lassen. Die Skala reicht von der präzisen, träfen und in ihrem melodischen Rhythmus beeindruckenden Sprache des alten Mattli aus dem Göscheneralptal, der sich ein gesundes skeptisches Bewusstsein bewahrt hat, bis zum mühsamen, verräterischen Ringen um Ausdrücke bei jenen, deren Identität beeinträchtigt ist. Vieles wird nur mit «Ding» und «Es» bezeichnet oder ganz verschluckt und trotzig im Innern, im Schweigen, verschlossen. Solche Sprachbarrieren lassen auf Verdrängungen, Entfremdung, Minderwertigkeitsgefühl und Kommunikationsschwierigkeiten schliessen. Das liegt nur zum Teil an der alemannischen Streusiedlung der Innerschweiz mit ihren relativ weit auseinanderliegenden Heimen. Allzu lange sind diese Leute mit ihren Problemen vernachlässigt worden. Sie haben sich fast an ihre Randsituation, an die Bewusstseinsunterdrückung durch die moderne Zivilisation gewöhnt und resignieren. Ihr Selbstbewusstsein haben sie vielfach verloren, damit aber auch Tatkraft, Initiativgeist und der Wille zum Überleben. Diesen gilt es ihnen zurückzugeben.

Wenn man Murers bisheriges Werk überblickt, lässt es nicht ohne weiteres einen Film wie diesen, der sein zehnter ist, erwarten. Seine Frühwerke, etwa Pazifik oder Die Zufriedenen (1965) und Chicorée (1966), waren die etwas narzisstisch gefärbten Geniestreiche von «King Melchior», wie ihn seine Freunde nannten. Formal eigenwillige und intensive Künstlerporträts folgten — Bernhard Luginbühl (1966), Sad-is-fiction (1969) und Passagen (1972). Eine Art Zwischenspiel war die Episode «2069» in Swissmade (1969). Ein längerer Aufenthalt in London wurde für Murer offenbar zu einer schöpferisch fruchtbaren Pause, in der er Distanz zu sich selbst, seinen Fähigkeiten und Intentionen gewonnen hat. Abzulesen war diese Wandlung und künstlerische Reifung bereits bei Christopher & Alexander, dem an den diesjährigen Solothurner Filmtagen vielfach missverstandenen Familienfilm eines Bankiers — ein distanziert-kühles, aber den Auftraggeber und seinen Lebensstil erbarmungslos entlarvendes Werk. Eine Weiterentwicklung dieses Stils, wo der Standpunkt des Autors nicht mit Zitaten, Sentenzen, Inserts, formalen Mätzchen und ähnlichen grobschlächtigen Mitteln plakatiert wird, sondern ganz in die Form eingegangen ist, zeigt Murers Film mit der Urner Berglern. Man darf wohl vermuten, dass Murer mit diesem Film nicht nur geographisch zu seiner Herkunft, sondern in ganz persönlicher Weise zu sich selbst zurückgefunden hat.

Fredi M. Murer: Wenn man einen unbequemen Bergler loshaben will, muss man nur anfangen, mit ihm schriftlich zu verkehren

Mit Ihrer Anfrage etwas über meinen Film zu schreiben, bringen Sie mich in Verlegenheit. Ich weiss nicht, ob meine innerschweizerische Herkunft daran beteiligt ist, dass ich eher dazu neige, nur dann etwas zu sagen, wenn ich gefragt werde. Vielleicht sind es auch ganz persönlich Gründe, jedenfalls kann ich mich kaum daran erinnern, dass ich während meiner Schulkarriere jemals freiwillig den Finger gestreckt hätte. Heute denke ich, dass dieser Umstand ein Notstand meines Selbstbewusstseins war, an dessen Untergrabung die Schule und der Religionsunterricht, was zu meiner Zeit praktisch identisch war, einiges beigetragen hatte. Ich hadere nicht mit einer vertanen Kindheit, ich staune bloss, wieviel System eigentlich in der Sache liegt, und es fällt mir auf, welche Kluft zwischen meiner Muttersprache und jener Sprache besteht, die einem in der Schule aufgepfropft wurde und wird. Würde es auf mich ankommen, ich würde das Lesen und Schreiben in unseren Schulen abschaffen und dafür das Erzählen und Zuhören einführen. Es kam mir schon immer ungeheuerlich vor, dass jemand, in einen Raum eingeschlossen, Bücher von über 300 Seiten mit Buchstaben vollschreiben kann. Aber in der Schule habe ich gelernt, dass wir auf unsere Kultur stolz sein müssen. Wie müssen dann erst die Kulturträger auf ihr Volk stolz sein. Vermutlich schützte ich mich gegen diese Fremdherrschaft einer Herren-Kultur durch Ignoranz und zog mich in trotziges Schweigen zurück.

Dieser Versuch einer kurzen Selbstdarstellung hat viel mit meinem Film zu tun. Während meiner Recherchenarbeit bei den Urner Berglern bin ich immer wieder auf dieses trotzige Schweigen gestossen und wie oft habe ich auf Fragen, die ihre eigenen Probleme betroffen haben, die abweisend-verunsicherte Antwort bekommen: Fragen sie da lieber einen Studierten. Sie glauben bereits selber daran, dass die andern es besser wissen, die Besserwisser. Eine Urnerische Persönlichkeit hat mir gesagt, wenn man einen unbequemen Bergler loshaben wolle, müsse man nur anfangen, mit ihm schriftlich zu verkehren. Er würde verstummen. Stumm sind sie nicht, das kann der Film beweisen, aber manche haben das Gefühl, dass sie als solche behandelt werden, und mit der Zeit verinnerlicht sich dieses Gefühl. Wir sogenannten Kulturträger sind an der Bewusstseins-Unterdrückung dieser Bevölkerungsschicht mehr beteiligt als wir wahrhaben wollen.

Wir wissen zwar die Sache beim Namen zu nennen und glauben, sie auch erledigt zu haben, wenn wir finden, das sei ein typischer Fall von Autoritätsangst. Das Reduzieren von komplexen Situationen auf die Ebene der Sprache und das Reduzieren dieser Sprache auf einzelne Begriffe und Kernsätze führen zwangsläufig in eine praxislose Isolation und von da zum Doktrinarismus. Die scheinwissenschaftliche Gier, es mit Marx, Moses oder Freud zu sagen (es soll auch noch andere Vaterfiguren geben), stellt nichts als unsere eigene Autoritätsangst unter Beweis, die wir dadurch zu bannen glauben, wenn wir sie auf andere projizieren. Ich glaube, wir entfremden uns immer mehr unserer Sprache, d. h. unserem Selbstverständnis. Mit Individuen, denen das Selbstbewusstsein abgenommen ist, lässt sich noch lange auf Demokratie machen. Demokratie, wie sie von denen verstanden wird, die dank ihrer Machtstellung das Bewusstsein nicht von selbst verlieren.

Wenn also in meinem Film die Bergler in Uri sich selber darstellen und ihre Arbeit erklären, heisst das nicht, dass ich mich einer eigenen Stellungnahme entziehen wollte. Der Film hat sich deshalb noch nicht selbst gemacht; gerade wie er gemacht ist, reflektiert meine Haltung. Die Musik, die ich verwendete, kann man auch als meinen persönlichen Kommentar auffassen.

Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind. Premiere: Fernsehen DRS, 31. Juli 1974. Produktion: Nemo Film, Zürich, mit Unterstützung des Schweizer Fernsehens, des Eidgenössischen Departements des Innern sowie weiterer Institutionen und Persönlichkeiten. Konzeption und Regie: Fredi M. Murer. Kamera: Iwan P. Schumacher. Ton: Luc Yersin. Script und Beleuchtung: Benny Lehmann. Schnitt: F. M. Murer, Eveline Brombacher. Wissenschaftliche Mitarbeiter: Jean-Pierre Hoby, Georg Koller. Verleih: Filmpool, Zürich. 16 mm, 108 Min., Magnetton, Farbe.

INFORMATIONS SUR UNE REGION SUISSE SOUS-DEVELOPPEE

Fredi M. Murer et ses collaborateurs se sont soumis à une tâche très difficile: laisser des montagnards présenter leur situation et leurs problèmes — des montagnards vivant marginalement et toutefois influencés par notre société de consommation et les conjonctures. Pendant presque quatre ans, Murer s’est penché sur le projet de ce «film en trois mouvements» sur (ou mieux avec) des montagnards du canton d’Uri. Les origines de Murer — né à Beckenried en 1940, il a suivi les écoles d’Altdorf

et la connaissance qu’il a de ce milieu de Suisse centrale, lui ont facilité l’accès au sujet. Son film n’est pas l’illustration d’une thèse politico-sociale ni un exposé idéologique. Il est surtout un témoignage authentique sur la vie des paysans-montagnards d’Uri dans les années 1973-1974, présenté selon leur optique et selon leur conception. La prise de position de l’auteur s’exprime non seulement dans le fait d’avoir réalisé le film et par le style, mais aussi par la sélection réfléchie qu’il pratique, par le montage soigné et subtil et surtout par le choix prudent de la musique utilisée d’ailleurs discrètement — de Bach à Ligeti. Le film traite en particulier la situation dans trois vallées: Göschenen et la Vallée du Göscheneralp se trouvent à la fin d’un développement économique, industriel et social qui a changé totalement les anciennes structures. Dans le Schächental, la tradition des propriétés alpestres appartenant à des familles de paysans semble intacte. A Bristen et dans le Maderanertal en revanche, les problèmes menacent de dépasser les gens. La moitié de la population est formée de paysans, l’autre travaillant au dehors ou allant à l’école dans le bas-pays. Les décisions sont prises souvent ailleurs, à Altdorf ou «là-haut», à Berne. Le film de Murer dessine un portrait très détaillé et proche de la réalité d’une région suisse sous-développée. Il laisse agir les images sur le spectateur pour créer des impressions de temps et d’espace pour des réflexions permettant de saisir les différents niveaux du film — politique, social ou ethnographique. (ul)

Franz Ulrich
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(Stand: 2020)
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