MARTIN SCHAUB

MAINSTREAM — ÜBER DEN DOKUMENTARFILM IN EINEM KLEINEN LAND, MIT KLEINER PRODUKTIONSBASIS, MIT UHRMACHERTRADITION UND FILMER-SOLIDARITÄT

CH-FENSTER

«Vom Traktat zum Essay» hat Beatrice Leuthold in CINEMA 2/74 ihren Aufsatz zu den neuesten Dokumentarfilmen überschrieben; darin hat sie dargetan, wie in den neusten Dokumentarfilmen die Agitation zurückgenommen wird und die Wirklichkeit in ihrer Komplexität und in ihren historischen Wurzeln beobachtet wird. Die «Wahrnehmung» ist. vor das «Wahrhabenwollen» getreten, das Zuhören an die Stelle des Redens. Schliesslich: der «Darsteller» (seiner selbst) an die Stelle des «Zeugen» (für die Argumentation des Filmemachers).

Es soll hier nicht wiederholt werden, welche Wendung Naive Maler in der Ostschweiz, Schweizer im Spanischen Bürgerkrieg, Le Moulin Déveley, Le Pays de mon corps, Freut Euch des Lebens, Die letzten Heimposamenter, Viktor und Wir Bergler in den Bergen im schweizerischen Dokumentarfilm herbeigeführt haben. Vielmehr soll einmal gefragt werden, weshalb die Entwicklungen im Schweizer Film fast immer so ausschliesslichen Charakter haben. Als Villi Herman in Mannheim seinen Enquetefilm Cerchiamo per subito operai, offriamo... zeigte, konnte man — sogar von Kritikern — hören, dass so ein Film nach Die letzten Heimposamenter einfach nicht mehr möglich sei. Eine verhängnisvolle Formulierung. Wer sie braucht, tut dergleichen, als ob Entwicklungen im Film immer auf eine Perfektion, auf den «idealen Film» hinliefen. Er redet jenem «Mainstream»-Denken des schweizerischen Dokumentarfilms das Wort, das neben Vorteilen auch viele Nachteile hat.

Ein Beispiel: Kurt Gloor, der in seinen besten Filmen sein filmisches «Beweismaterial» auf überzeugende und einleuchtende Weise zugespitzt hatte, so sehr, dass sich jene, die getroffen werden sollten, sich tatsächlich auch getroffen fühlten, schwenkte mit «Die besten Jahre» in den Mainstream ein. Das Projekt dieses Films sah noch ganz anders aus als dieser zahme «Redefilm»; das erste Projekt Hess einen weiteren «Gloor-Film» erwarten, eine kritisch-polemische Stellungnahme zu einem Zeitproblem. Weil aber nun alle Filmemacher sich aufs Zuhören eingelassen hatten, überbot sie Gloor im Zuhören. Seine gestalterischen Interventionen schrieb er auf ein Minimum ab. (Selbstverständlich konnte er diesen Schritt, diesen Abschied von der eigenen filmischen Vergangenheit, ideologisch klarmachen.) Das Resultat: Gloors schwächster Film seit seinen allerersten Anfängen. Gloor ist hoffentlich nur vorübergehend — im Mainstream untergegangen, in den er sich überstürzt, das heisst ohne Rücksicht auf seine wirkliche Stärke, geworfen hatte.

Zu Beginn der in diesem Heft untersuchten Periode des Schweizer Films gab es bei den Dokumentaristen sozusagen einen «Bolex»-Film und einen «Eclair»-Film (oder einen Stummfilm und einen Tonfilm). Zum Teil reflektierte die Ausrüstung der Filmemacher die unterschiedlich kleinen Mittel der Produzenten. Die armen unter den Armen benützten Kameras mit Federwerkmotor und kleinen Magazinen; die reichen unter den Armen konnten sich geräuschlose Kameras leisten. Aber die unterschiedliche Ausrüstung reflektierte auch ein unterschiedliches Filmverständnis. Ich meine, das schweizerische Filmschaffen sei vor zehn Jahren in einer bestimmten Hinsicht reicher gewesen als das heutige. Die Ansätze der verschiedenen Autoren waren verschieden bis zur Inkompatibilität. Schon 1969 und 1970 machte sich ein Haupttrend — der des interventionistischen, agitatorischen Films — so breit, dass daneben nicht mehr viel Platz hatte. Heute tut es der dokumentarische Film-Essay in fast gleich starkem Masse. Der heutige Schweizer Dokumentarfilm ist — grosso modo — ein ethnographischer, soziologischer, historischer Film. Die Hörner, die er noch vor fünf Jahren trotzig und fast exhibitionistisch zeigte: sind die abgestossen, oder sind sie lediglich geschickt getarnt?

Diese Frage lässt sich generell nicht beantworten. Die Antworten würden von Werk zu Werk, von Autor zu Autor spezifisch ausfallen. Immerhin kann die Tendenz zum leidenschaftslosen Beobachten generell festgestellt werden.

Zu fragen wäre erstens, woher die kohärente Gesamtentwicklung des schweizerischen Dokumentarfilmschaffens (und zum Teil auch des Spielfilms) rühren könnte, und zweitens: was die Mainstream-Entwicklung dem Schweizer Film gebracht und was sie ihm genommen hat.

Zur ersten Frage: Hier dürfte die Kleinheit des Landes eine entscheidende Rolle spielen; es ist hier ja kaum möglich, isoliert zu arbeiten. In der Schweiz sitzen alle nahe aufeinander, und alle arbeiten auch heute noch so ziemlich mit den gleichen Equipen. Die Produktion ist in den letzten Jahren zwar gestiegen, doch nicht so stark, dass die Zahl der Filmtechniker wesentlich gestiegen wäre. Die Techniker können lediglich ein bisschen kontinuierlicher arbeiten als früher. Einen nicht geringen Einfluss auf das Mainstream-Prinzip dürften auch die Solothurner Filmtage ausgeübt haben. Ich bin nicht der erste, der feststellt, dass jeder in Solothurn gezeigte hervorragende Film zum Erfolgsmuster wird und epigonale Nachfolger bekommt. (Es sei in dieser Hinsicht nur auf die Kultur der Künstlerporträtfilme hingewiesen.) Der Hauptgrund der homogenen Entwicklung des Dokumentarfilms scheint mir aber in der von den schlechten Produktionsverhältnissen erzwungenen In-Group-Mentalität, in der lebensnotwendigen Solidarität der Schweizer Filmschaffenden zu liegen. Sowohl gegenüber dem Fernsehen als wichtigstem, noch immer im Schlaf der Gerechten versunkenem Ko-Produzenten, als auch gegenüber dem Bund als einzigem Förderungsorganismus, müssen die Filmer gemeinsame Front machen, wenn sie nicht untergehen wollen. Und die Gemeinsamkeit erschöpft sich natürlicherweise nicht etwa in der Ordnung finanzieller und produktionstechnischer Dinge, sondern greift hinüber in ästhetische Fragen. Um es ganz pointiert zu sagen: die sich und alle anderen zensurierenden Fernsehredaktoren und die Begutachter der Sektion Film im Eidgenössischen Departement des Innern sind mitverantwortlich für das Mainstream-Phänomen im Schweizer Film. (Dazu gibt es einschlägiges Material, das man aus Diskretionsgründen nicht publizieren kann. Beispielweise ein Schreiben des Fernsehens an «Krawall-Hassler».)

Zur zweiten Frage: Was hat die Konsistenz gebracht? Ganz kurz (und damit, wie immer, nicht ganz richtig): die nationale und internationale Reputation. In dem Bericht eines der klarsten deutschen Filmkritiker über die Internationale Filmwoche in Mannheim las ich im vergangenen Herbst (sinngemäss): es sei keine Überraschung gewesen, dass die umsichtigen und zuverlässigen filmischen Enqueten aus der Schweiz zu den positivsten Ereignissen der Veranstaltung gehört hätten. Andere Beobachter halten dem Schweizer Dokumentarfilm seit ein paar Jahren leisetreterische Vorsicht vor: das ist nur ein anderer Schluss aus dem gleichen Grundmaterial.

Es ist zu hoffen, dass es nicht so weit kommt, dass der Zuschauer bereits im Voraus weiss, was ungefähr ihn erwartet, wenn ein Dokumentarfilm aus der Schweiz auf dem Programm (eines Festivals, einer Fernsehstation) steht. Das wäre der Anfang vom Ende des «schweizerischen Filmwunders».

Gewisse Beobachtungen, die ich in den letzten zehn Jahren (immer wieder besonders intensiv an den Solothurner Filmtagen) gemacht habe, lassen mich die Gesamtentwicklung

(nicht die einzelnen Werke) mit einer gewissen Skepsis verfolgen. Zwei davon seien immerhin erwähnt: Die Reaktion des Publikums auf Peter Ammanns Der rote Zug schien mir anzudeuten, dass sich auch das Publikum im Mainstream am wahrsten fühlt. Ammann, der sichtlich auf dem Weg zu neuen, dokumentarische und fiktive Elemente vermischende Filmformen ist, wurde in schon fast alarmierender Weise missverstanden. Das andere Beispiel bezieht sich auf den Spielfilm: Einige Reaktionen auf Daniel Schmids drei Spielfilme Thut alles im Finstern..., Heute nacht oder nie und La Paloma zeigten bereits hysterische Züge. (Am deutlichsten im Übrigen — dies zur Ehrenrettung der Filmkritik — waren hysterische Reaktionen bei den Filmerkollegen festzustellen. Da durfte man an das alte Sprichwort denken: Was der Bauer nicht kennt, isst er nicht.)

Im Kampf um Anerkennung und Erfolg, um Wirkung, um nationale Unverwechselbarkeit ist dem Schweizer Film im Laufe von etwa sechs Jahren ein guter Teil seiner Experimentierfreudigkeit abhandengekommen. Der «Experimentalfilm» als Gattung existiert kaum mehr, aber auch die Wagnisse, in einem Dokumentarfilm alles zu gewinnen oder alles zu verlieren.

Ich behaupte keineswegs, dass sich die Autoren schon nicht mehr identifizieren lassen. (Nur die Epigonen sind verwechselbar.) Auch ohne Zusammenhang würde ich wahrscheinlich Sequenzen von Yves Yersin, Claude Champion, Fredi Murer, Richard Dindo, Alexander J. Seiler, Roman Hollenstein auseinanderhalten können. Jedoch mit sekundären Merkmalen, mit Differentialdiagnosen, auf einer «zweiten Ebene» sozusagen. Aber irgendwie nehmen alle Rücksicht auf den Mainstream, und sei es mit der Wahl des Filmgegenstands. Ist die Anzahl der Künstler-, Sonderling- und Einzelgängerporträts nicht auffällig? (Dass das Thema der Verrücktheit im Genfer Spielfilm ganz nahe bei diesen Porträts liegt, muss wohl nicht noch betont werden.)

Die Voraussetzungen für eine Mainstream-Entwicklung des schweizerischen Films sind evident und zum Teil wohl auch zwingend; zum Teil sind sie ja auch nicht rein schweizerisch, sondern mindestens europäisch. Trotzdem möchte man sich und dem Schweizer Filmschaffen wünschen, dass in Zukunft das Misstrauen in die Trends, Rezepte und Moden wieder etwas wüchse. Die Konsistenz und die Kohärenz unserer Dokumentarfilmproduktion, nur schon ihre technische (Uhrmacher-) Präzision, haben neben ihren guten auch ihre bedenklichen Folgen. Vielleicht täten den erfreulich zahlreichen soliden und wohlabgewogenen «Eclair-Nagra-Filmen» ein paar ungehobelte, extreme, genialische, respektlose, verrückte «Bolex-Filme» ganz gut. Vor zehn Jahren hatten wir noch «Verrückte» hinter der Kamera: heute sind die «Verrückten» nur noch Objekt der Filme.

LE FLEUVE PRINCIPAL

Le documentaire suisse s’est développé du tract à l’essai. L’écoute a remplacé les affirmations, le témoin est devenu un personnage complet et complexe. Nous ne voulons pas répéter ce qui a été dit (dans CINEMA 2/74) à propos des Derniers Passemantiers, de Jouissez de la vie, Suisses dans la guerre d’Espagne etc. Nous partageons l’admiration pour ces essais cinématographiques. Pourtant, il y a dans ce développement quelque chose d’inquiétant: Un nouveau courant dans le cinéma suisse semble, depuis quelques années, exclure les autres possibilités. Les cinéastes se bousculent au même endroit (esthétique et thématique).

On remarque le danger croissant que le documentaire suisse témoigne plus des tendances cinématographiques actuelles (de la mode même) que des personnalités bien diverses des documentaristes. Exemple: Les meilleures années de Kurt Qloor, auparavant spécialiste incontesté du documentaire revendicatif. Gloor a modifié son projet pour joindre le fleuve principal du documentaire. Il a renoncé aux interventions (dans les prises, dans le montage) et a fait son film le plus faible.

Il y à cinq ans, nous n’avions que des films documentaires interventionistes et agitateurs. Aujourd’hui c’est le documentaire «objectif» qui triomphe. Le documentaire de 1966 était dus riche en formes. Il y avait le «documentaire-Bolex» et le «documentaire-Eclair», le muet et le sonore, la dénonciation, l’expérimentation, l’enregistrement.

Qui est responsable de l’exclusivité des courants? Nombreuses raisons: les exemples qui engendrent des épigones, la télévision qui n’aime ni l’expérimentation ni les prises de position nettes, finalement les experts de la confédération qui favorisent les courants.

La consistance du cinéma suisse a provoqué une réputation nationale et internationale. Un film suisse rencontre déjà automatiquement une opinion préconçue, positive ou négative. Ceux qui ne nagent pas dans le fleuve principal risquent des malentendus et même l’hostilité. Exemples: Peter Ammann avec Le train rouge, Daniel Schmid qui a provoqué avec Ce soir ou jamais et puis encore avec La Paloma des réactions presque hystériques (surtout chez les autres réalisateurs I).

En Suisse, depuis cinq ans, le genre «film expérimental» n’existe presque plus. Les causes d’un tel appauvrissement sont connues: base de production restreinte, contrainte du succès, «tradition horlogère» du pays, censure économique. Je souhaiterais que le cinéma suisse ait à nouveau des films plus crus, plus géniaux, moins solides, plus fous, plus sensationnels, plus corrosifs. II y a dix ans, les fous se trouvaient derrière la caméra; aujourd’hui ils ne sont plus que devant. (msch)

Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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