PETER BICHSEL

FONDAS FELSEN

CH-FENSTER

«Hier sollte man einen Film machen», ist ein häufiger Ausspruch von Laien angesichts eines zerfallenen Hauses etwa oder irgendeiner Landschaft. Oberhalb Solothurn im Jura gibt es Felsen, die mich an Film erinnern (oder besser an Kino).

Das Leben imitiert die Kunst weit öfter als die Kunst das Leben, sagte Oscar Wilde. Oft verfalle ich der unsinnigen Meinung, dass vom Verhältnis Landschaft und Film ähnliches zu sagen wäre.

Ich habe meine Augen vom Kino, dort habe ich durch die Optik anderer sehen gelernt, und das ist der Grund, dass mich die Felsen über Solothurn an Kino erinnern.

Unnötig eigentlich, dass ich sage an welches Kino, an den Western selbstverständlich; ein sogenannter Schweizer Film wäre hier nicht zu drehen, derartige Felsen sind vergeben und besetzt. Vielleicht nur noch die Parodie hätte hier eine Möglichkeit.

Wenn ich mit meinen Kinoaugen durch Landschaften gebe, dann scheinen sie mir alle abgedreht, oder weil ich wohl nur das bereits Gedrehte erkenne, erscheinen nur alle andern Landschaften als nicht drehwürdig.

Das Kino hat mir meine Umgebung zum Klischee gemacht. Ich bin ihm nicht böse deswegen, sondern dankbar — um den Satz von Oscar Wilde noch einmal zu strapazieren. Weit öfter sind mir die Felsen über Solothurn ein Ersatz für Kino als umgekehrt.

Ich meine Landschaft hier nur als Beispiel für Umgebung und Umwelt, und ich frage mich, was unter diesen Bedingungen ein sogenannter Schweizer Film noch sein könnte.

Gut, ich weiss, dass man der Bezeichnung und der Absicht unter Fachleuten den Abschied gegeben hat, aber auf den zweiten Schweizerfilm nach «Romeo und Julia auf dem Dorfe» wartet doch jeder noch im Stillen, und gemeint ist damit nationales Thema, nationaler Inhalt, nationale Kulissen.

Es ist nicht leicht zu motivieren, weshalb öffentliche und halböffentliche Stellen den Film in der Schweiz zu unterstützen haben. Die Motivation bleibt dann Sache der Filmmacher, sie haben in ihren Drehbüchern «Schweiz» nachzuweisen. Andern subventionierten Wirtschaftszweigen geht es besser, sie haben nur die Brauchbarkeit des Produkts zu beweisen und den Umstand, dass Leute davon leben und existieren.

Wünschbar wäre eine Emanzipation des Schweizer Filmers, der sich darauf zurückzieht, dass er einer ist, der Filme macht, also vorerst einmal und in erster Linie einen Film machen will und dazu — zweitens — ein Thema braucht, ein filmisches Thema und eine filmische Kulisse, vielleicht meine Felsen.

Kino jedenfalls (und ich weiche der Bezeichnung Film mit Absicht aus) ist ein Bestandteil meines Lebens, ich konsumiere Film wie ich Landschaften oder Wirtschaften konsumiere. Ich sehe nicht in erster Linie einen Film über, sondern ich sehe einen Film.

Vor Leuten, die Filme machen, scheint man sich zu fürchten. Mit der Forderung «Thema» legt man sie in Ketten. Weil sie mitunter so tun als ob sie golden wären, rennen die Filmemacher nach ihnen, aus Filmern werden Verfilmer, Verfilmer von Schweizer Literatur zum Beispiel, und Verfilmer sind weit weniger gefährlich, sie können gemessen werden am Autor: Keller getroffen, Keller verfehlt — politisches Risiko fällt weg. Sicher, warum nicht Keller? Eine Möglichkeit ist es, aber eine schäbige Doktrin.

Filmemacher und Filmpolitiker machen sich dauernd etwas vor, während sie um das notwendige Geld feilschen. Jeder behauptet letztlich, dass es ihm um eine Schweiz gehe, um ein Bild dieser Schweiz, um ein Bild des Schweizers, als ob ein Bild des Lebens oder ein Bild des Menschen nicht genügen würde.

Wie auch immer, die Felsen oberhalb Solothurn sind besetzt, ich habe nicht die Absicht zu Henry Fonda zu pilgern und zu betteln: «Gib sie uns zurück!»

LES ROCHERS DE FONDA

Peter Bichsel, écrivain, reprend ici ses réflexions qu’il a abordées sur le cinéma lors de la première manifestation à Soleure en 1966.

Peter Bichsel
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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