BEATRICE LEUTHOLD / HANSPETER STALPER

WIDER POLITISCHE DISZIPLINIERUNG — ZUM FILM EIN STREIK IST KEINE SONNTAGSSCHULE VON HANS STÜRM, NINA STÜRM UND MATHIAS KNAUER

CH-FENSTER

An den Solothurner Filmtagen 1969 zeigte Hans Stürm als ersten Teil einer geplanten Reihe von Kurzfilmen über das Leben in der Grosstadt Métro, eine Betrachtung über den Menschen in der Pariser Untergrundbahn. Mit diesem Film trat Stürm erstmals ins Bewusstsein einer breiteren Filmöffentlichkeit. Sein eigentlicher Debutfilm jedoch war Hauterive, ein meditativer Dokumentarfilm über das Zisterzienserkloster bei Fribourg, produziert von der Gesellschaft Christlicher Film, bei deren erstem Treatmentwettbewerb er sich mit einer Arbeit über den Sonnengesang die Teilnahme an einem Filmkurs gewonnen hatte. Mit diesem Film wiederum wurde er nach einer kurzen Zeit an der Universität Fribourg in das Institut des Hautes Etudes Cinématographiques (IDHEC) in Paris aufgenommen, wo er ab 1964 studierte und 1967 als Kameramann abschloss. Im Anschluss daran war er Chefkameramann bei einem Fernsehfilm fürs ORTF. 1971-2 realisierte er in Deutschland und in der Schweiz den Film Zur Wohnungsfrage 72, der sich bereits wesentlich von Metro unterschied.

Die deutlich feststellbare Entwicklung hat stattgefunden zwischen Métro und Zur Wohnungsfrage 72:

vom dichterischen Stil zum journalistischen, von der Poesie zur Prosa, vom Empfinden zum Denken, vom Erleben zum Tun, von der gekonnten Erbauung zur dialektischen Belehrung, von der Meditation zur Agitation, vom Allgemeinmenschlichen zum konkret Politischen.

Diese Entwicklung widersprach aber genau dem, was sich das Schweizer Fernsehen wünscht. Dies belegt ein Brief von Dr. Guido Frei, den der Verband Schweizerischer Filmgestalter am 30. Januar 1973 erhielt und in dem es unter anderem heisst: «Der eindeutig und einseitig agitatorische Charakter dieser Filme» (gemeint sind Zur Wohnungsfrage 72 und Isidor Huber von Urs und Marlies Graf) führte zum Entscheid, auf eine Ausstrahlung im Rahmen der «Filmszene Schweiz» zu verzichten. Wir meinen, bereits Zur Wohnungsfrage 72 sei ein Diskussionsfilm gewesen, und der Streik-Film ist auf dem besten Weg, zum wichtigsten Diskussionsfilm dieses Jahres zu werden, finden doch Aufführungen mit anschliessender Diskussion allabendlich irgendwo statt. Gewerkschaften setzen ihn in Schulungskursen ein. In diesen Kreisen führt er zu den dringend notwendigen Diskussionen zum Thema Streik, zur Auseinandersetzung mit einem Kampfmittel, das seit Jahrzehnten zu den Schweizerischen Tabus gehört. Gerade ältere Arbeiter äussern in den Diskussionen, dass sie seit Jahren auf einen solchen Anstoss zum Überdenken und zur Neu-Bewertung des Streiks gewartet haben.

Zum Inhalt von Ein Streik ist keine Sonntagsschule: Am 10. Juni- 1974 treten die Arbeiter der Bieler Pianofabrik Burger und Jacobi in den Streik, weil ihnen die Firma den im Gesamtarbeitsvertrag (GAV) des Schreinergewerbes vereinbarten 13. Monatslohn nicht gewähren will. Die Firma erklärt, sie unterstehe nicht dem GAV des Schreinergewerbes. Die Gewerkschaft Bau und Holz (SBHV) -unterstützt unter dem Druck der Basis die Forderungen der Arbeiter und deren Streik. Von den 43 Streikenden kommen im Film vier Schweizer und vier Ausländer zum Wort. Die Vorgeschichte, die Reaktionen der Firma und weitere Informationen liefern die Zwischentitel. Das Hauptthema der ersten Streikwoche ist die Solidarität zwischen Schweizern und Ausländern. In der zweiten Woche finden Demonstrationen von andern Betrieben statt. Während der dritten Streikwoche erhalten die Arbeiter die Kündigung. Mit Hilfe des Unterstützungskomitees, das sich gleich am Anfang gebildet hat, werden in der vierten Woche in der ganzen Schweiz Solidaritätsaktionen und Geldsammlungen organisiert. In der fünften Streikwoche einigen sich die Firmenleitung und die Gewerkschaftszentrale in Zürich überraschend auf einen Kompromiss. Aufgrund der «Ungewissen Rechtslage» erwirkt die Gewerkschaft darauf in einer Vollversammlung den Abbruch des Streiks. Vier Monate später äussern sich sechs Arbeiter zur Lage nach dem Streik: Die Solidarität zwischen den Arbeitern ist zerfallen; die Firma setzt die Arbeiter unter Druck und entlässt einzelne; die Gewerkschaft hält sich zurück; der Firmenvertrag lässt weiter auf sich warten; die Arbeiter jedoch sprechen sich erneut für den Streik aus.

Die Autoren hätten die Realisierung dieses Films kaum gewagt (lediglich 20% der Produktionskosten waren gedeckt), wäre ihnen ‘die Initiative und Mitarbeit der Streikenden nicht entgegengekommen. Als erstes Prinzip galt den Autoren, nicht einem vorbestimmten Konzept zu folgen, sondern ausschliesslich mit Fragestellungen an die Arbeit zu gehen. Im Film stellen sich ‘die Streikenden selbst dar. Es ist daraus jedoch kein formloser Film entstanden, im Gegenteil: Filmische Darstellung und Inhalt entsprechen sich genau. Der Film besteht aus Einleitung, Ablauf des Streiks in fünf Teilen (entsprechend den 5 Streikwochen), Nachtrag. Die Einleitung führt mit einer raschen Schnittfolge mitten ins Geschehen. Erstes Bild: Grossaufnahme der Fabrik von unten, eine eindrückliche Fassade, wie es sich für ein alteingesessenes Familienunternehmen gehört. Zweites Bild: Eingang zur Fabrik, ein leerer Torbogen (das Team durfte innerhalb der Fabrik keine Aufnahmen machen). Achtmal wiederholt sich darauf die Schnittfolge: Torbogen — Titel mit kurzer Inhaltsangabe zur Vorgeschichte des Streiks — Kommentar eines Arbeiters. Damit sind die acht Arbeiter, die im Hauptteil vorwiegend sprechen werden, kurz und prägnant vorgestellt. Ein Portrait des Direktors mittels Photo (Filmaufnahmen seiner Person waren nicht gestattet) und firmeneigenem Kommentar zum Geschehen rundet die Einleitung ab. Ähnlich ist der Nachtrag gestaltet: Sechsmal folgt auf einen Titel, in dem drei Entlassungen und andere Folgeerscheinungen des Streiks (Angst vor Arbeitslosigkeit, Spaltungsversuche der Firma, verschärftes Arbeitstempo und zuschlagsfreie Überstunden) formuliert sind, der Kommentar eines Arbeiters. Abschliessend sprechen drei Streikende eingehend über ihre nach wie vor positive Einstellung zum Streik.

Bei der formalen Gliederung des Hauptteils spielt die Musik eine wichtige Rolle. In Wohnungsfrage 72 hatten H. und N. Stürm aus der Meinung heraus auf Musik verzichtet, dass eine Filmmusik, die sich nicht streng aus den inneren Zusammenhängen des Films ergibt, am besten ausbleibt. Im Streik-Film ist es geglückt, das Tonmaterial in einen aktiven Bezug zum Inhalt treten zu lassen. Zwar hören wir «nur» einen Klavierstimmer, keinen Filmkomponisten. Der Klavierstimmer hat im Musik- und Konzertbetrieb die gleiche Funktion inne wie der Schreiner in der Pianofabrik; er ist Lohnarbeiter. Das Tonmaterial des Stimmers ist sein spezifischer Beitrag zum Streik. Der Hauptteil des Films ist aufgebaut nach den Arbeitsprinzipien des Klavierstimmers, wonach in der Ausgangslage ausgehend vom Kammerton A eine Oktave und von da aus kontinuierlich tonleiter-aufwärts gestimmt wird bis zum höchsten Ton. Ist dieser erreicht, geht es vom Normalton A aus auf der Klaviatur rückwärts bis zum untersten Ton. Auf den Inhalt bezogen heisst das im Streik-Film: Während sich der Streik entwickelt, werden die Töne heller und höher. Auf dem Höhepunkt der Solidaritätsaktionen lässt der Stimmer, abweichend von seinem strengen Arbeitsgang, die ersten Töne von Avanti Popoli und der «Internationalen» aufklingen. Mit den auftretenden Schwierigkeiten, dem Aushandeln des Kompromisses erfolgt die Umkehr. Die Töne gleiten hinunter auf der Skala, werden tiefer, bedrohlicher. Bei der Schlussversammlung, die vollends schief verläuft, spielt der Klavierstimmer nebenbei mit den Tönen g - b - h (Gewerkschaft Bau und Holz).

Mathias Knauer, von Haus aus Musikwissenschaftler, und der Zürcher Posaunist, Klavierbauer und -Stimmer Richard Hager haben mit diesem ausgeklügelten Tonmaterial einen wertvollen Beitrag zum Film geleistet. Es geht ihnen jedoch nicht darum, Musikologen Rosinen anzubieten. Ob der Betrachter und Zuhörer etwas von Oktaven, Quinten und Quarten versteht, spielt keine Rolle. Hört er einmal zufällig von dieser raffinierten Tonmontage, wird sie ihm lediglich erklären, warum ihm diese Musik in Erinnerung geblieben ist als eine in jeder Hinsicht zum Inhalt des Films passende.

Zum Abschluss soll der Film Ein Streik ist kein Sonntagsschule nochmals in einen grösseren Zusammenhang gestellt werden. Nach Zur Wohnungsfrage 72 plante Stürm einen Film über die Mitbestimmungsfrage mit dem Arbeitstitel Lieber Herr Direktor. Seine Recherchen waren im vollen Gange. Das Departement des Innern sprach ihm eine Drehbuchprämie von Fr. 10 000 zu. Doch die Ton- und Filmarbeiten wollten nicht recht vorangehen; überall stiess das Team auf Wiederstand. Die Erklärung fanden die Autoren anlässlich der Solothurner Filmtage 1974, als sie an den Wänden des Hotels «Krone» die Fotokopien eines vierseitiges Briefes des Zentralverbandes Schweiz. Arbeitgeber-Organisationen aufgehängt sahen. Dieser Brief war im Original als Kreissehreiben 1/1974 an die Mitgliederorganisationen verschickt worden. Direktor Allenspach und Sekretär Dr. Hug schreiben darin u. a.: «Es handelt sich eindeutig um einen Propagandafilm für die gewerkschaftliche Mitbestimmungsinitiative in linksextremer Ausprägung... Es ist uns unverständlich und kann nicht mit den demokratischen Spielregeln in Einklang gebracht werden, dass das Eidg. Dep. des Innern aus Steuergeldern einseitige Propagandafilme für politische Abstimmungen mitfinanziert... Unser Mitwirken könnte aber wegen der manifesten Tendenzen des Autors die einseitige Aussage und die propagandistische «Absichten des Autors nicht verhindern... Wir bitten Sie, Ihre Mitgliedfinnen, insbesondere die grösseren industriellen Unternehmen, auf dieses Vorhaben aufmerksam zu machen und, falls Sie unsere Auffassung teilen, sie zu bitten, allfällige Anfragen betreffend Mitwirken am geplanten Film abschätzig zu beantworten.»

Am 29. März wurde diese Angelegenheit in der Fernsehsendung Kassensturz behandelt. Zu Worte kamen Hans Stürm, Alex Bänninger, Heinz Allenspach und Ezio Ganonica. Hier einige Ausschnitte des Statements des Präsidenten des Zentralverbandes Schweiz. Arbeitgeber-Organisationen:

Das ist ohne weiteres möglich, dass ein solcher Film ohne Zugang zum Arbeitsplatz gemacht werde. Denn nach den Initianten bezieht sich die Mitbestimmung ja nicht nur auf den Arbeitsplatz selbst. Und es wäre ein bedenkliches Zeichen für die Phantasie der Filmschaffenden, wenn sie daran allein scheitern würden... Herr Stürm kann ja ohne weiteres einen Film machen, es geht letztlich nur darum, wer es finanziert. Recht auf Diskussion heisst nicht, dass der Bund die verschiedenen Meinungen subventionieren müsse.

Der Gewerkschaftssekretär konterte:

Letzten Ende zielt die Haltung der Arbeitgeber auf die politische Disziplinierung des gesamten Kulturschaffens ab. Das Vorgehen der Unternehmer liefert auch einen offenen und drastischen Beweis dafür, wie in unserem Lande wirtschaftliche Macht eingesetzt wird, um unbequeme Informationen und Diskussion, d. h. die immer wieder hochgespielte Transparenz, schon im Keime zu ersticken. Diese Haltung ist eine Bedrohung unserer geistigen Freiheit.

Jedem Filmschaffenden, jedem Filminteressierten, wird es klar sein, dass ein Film über die Mitbestimmung ohne Zugang zum Arbeitsplatz nicht realisiert werden kann, dass demzufolge die Ausführungen des Herrn Allenspach reinen Zynismus beinhalten. Hans Stürm, dem es im Streik-Film auf einmalige Weise gelungen ist, die Basis zu Wort kommen zu lassen, wird es künftig unmöglich sein, über die Köpfe der Beteiligten hinweg einen Film zu machen und den Arbeiter wieder zum Objekt zu degradieren. Zu dieser prinzipiellen Unmöglichkeit gesellen sich finanzielle Probleme. Ein Rekurs von Hans Stürm zum abschlägigen Bescheid des EDI auf sein Subventionsgesuch ist zur Zeit der Abfassung dieses Berichts noch hängig. Es macht aber allen Anschein, dass die Sektion Film im EDI und ihre Experten die Botschaft der Wirtschaftskrise verstanden haben und den Mitbestimmungsfilm definitiv nicht unterstützen wird. Damit kann die Reaktion hierzulande einmal mehr einen Sieg verbuchen.

Vorspann

Ein Streik ist keine Sonntagsschule. Premiere: 24 Januar, anlässlich der Sitzung des EZV der GBH. Produktion: H. Stürm (mit Unterstützung der GBH). Realisation: Hans Stürm, Nina Stürm, Mathias Knauer. Kamera: Hansueli Schenkel, H. Stürm. Ton: N. Stürm, M. Knauer, H. Stürm. Musik: Richard Hager, M. Knauer. Montage: H. Stürm, M. Knauer, N. Stürm. Darsteller: Arbeiter der Pianofabrik Burger und Jacobi, Biel. Verleih: Filmcooperative Zürich. 55 Min., Farbe, 16 mm.

CONTRE DES INTERVENTIONS POLITIQUES DISCIPLINAIRES

A propos du film Ein Streik ist keine Sonntagsschule (Une grève n’est pas une école du dimanche) de Hans Stürm, Nina Stürm et Matthias Knauer.

Si on compare entre eux les derniers films de Hans Stürm (caméraman diplômé de l’IDHEC, Paris), on peut constater une très nette évolution entre Métro (1968) et Zur Wohnungsfrage 72 (1972): passage du style poétique au style journalistique, de la poésie à la prose, du vécu à l’action, de rédifioation à l’instruction dialectique, de la méditaton à l’agitation, des valeurs humaines au politique concret. En somme une évolution exactement contraire à ce que souhaite la télévision suisse, qui, de ce fait, a refusé de programmer Zur Wohnungsfrage 72. Pourtant ce film aurait pu fournir une base de discussion extrêmement intéressante, affirmation du reste encore bien plus valable pour le dernier film des Stiirm, Ein Streik ist keine Sonntagsschule, puisqu’il traite du problème de la grève, un moyen de combat qui, depuis des dizaines d’années, fait partie des tabous helvétiques.

La construction de ce film (tourné sur la demande et avec le soutien des ouvriers de la fabrique de pianos Burger et Jacobi, à Bienne) est très simple: Après une introduction, la grève se déroule en cinq parties qui correspondent aux cinq semaines de la grève (solidarité entre Suisses et étrangers; démonstrations devant d’autres entreprises; licenciements des ouvriers; actions de solidarité et collectes d’argent dans toute la Suisse; compromis entre la direction de l’entreprise et la centrale du syndicat à Zurich, reprise du travail) et se termine par un épilogue où, quatre mois plus tard, six ouvriers décrivent la situation après la grève. L’important, c’est que les grévistes se représentent eux-mêmes.

Signalons en passant l’utilisation inhabituellement raffinée de la musique (de Matthias Knauer et Richard Hager) qui est en accord parfait avec le contenu du film, même si nous n’entendons qu’un accordeur de piano en train de faire son travail. Pendant que la grève se développe, les sons deviennent de plus en plus clairs et hauts. Au sommet des actions de solidarité l’accordeur entame les premières mesures de Avanti Popoli et de l’«Internationale», puis à mesure que les difficultés surgissent, les sons deviennent plus bas, plus menaçants. Durant rassemblée finale, raccordeur joue avec les notes que forment, en allemand, les initiales du syndicat.

Pour en revenir à Hans Stiirm, il est intéressant de savoir que son projet provisoirement intitulé Lieber Herr Direktor (Cher Monsieur le Directeur), un film sur le problème de la participation, n’a pas pu être réalisé à cause de l’opposition de l’association centrale des organisations du patronat suisse qui a demandé à ses membres de refuser toute collaboration à Stürm. «Cette attitude du patronat vise à censurer politiquement notre expression culturelle et montre clairement comment, dans notre pays, les puissances économiques s’appliquent à étouffer à la base toute information inconfortable et toute discussion. Cette attitude est une menace contre notre liberté de pensée.» C’est l’affirmation catégorique du secrétaire syndical, telle qu’il l’a formulée lors d’un débat télévisé sur ce sujet brûlant, en mars 74. (AEP)

Beatrice Leuthold
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
Hanspeter Stalper
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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