BERNHARD GIGER

TASTEN UND SUCHEN — NOTIZEN UND ZITATE ZU JACQUES RIVETTE

ESSAY

I.

Fort mit den Skeptikern, den Besserwissern, den Vorsichtigen; die Zeit der Ironie und des Sarkasmus ist vorbei; es geht endlich darum, das Kino so zu lieben, dass man keine grosse Neigung mehr zu dem hat, was heute noch diesen Namen trägt, und Forderungen zu stellen, die höheren Ansprüchen genügen.

Rivette, 1955, Brief über Rossellini, Filmkritik 7/1969.

Über Rivette zu sprechen entwickelt sich bald zu einem recht komplizierten Unternehmen, — für einen jungen Kritiker jedenfalls, der sich, wie Borcherts Mann, der nach Deutschland kam und ins Kino ging, während der Vorstellung von L’Amour fou oder Out One Spectre mehrmals in den Arm kneifen muss, um sicherzugehen, dass er nicht längstens schon eingewoben ist im zarten Geflecht der Vorgänge auf der Leinwand. Dieses in den Arm Kneifen wird notwendig vor allem als Reaktion auf die Gefühle, die die Filme vermitteln. «Das Gefühl der Angst und des Fallens ins Bodenlose» nennt es Joachim von Mengershausen in Film (Velber bei Hannover, 2/1969). Er zitiert weiter Rivettes Artikel über Howard Hawks aus dem Jahre 1953 (Deutsch in Filmkritik 5/1966) und wendet das Zitat auf den Autor selber an:

Der Paroxysmus am Schluss von Red River, wenn der Zuschauer die Verwirrung seiner Gefühle nicht mehr aufhalten kann und sich fragt, für wen er Partei ergreifen, ob er lachen oder weinen soll, resümiert ein panisches Zittern aller Nerven, ein Sich-Berauschen am Schwindel beim Gang über ein straff gespanntes Seil, wo der Fuss zittert ohne jedoch abzugleiten, ähnlich unerträglich wie das Ende mancher Träume.

Will man Rivette gerecht werden, so muss man anfangen mit dem Hawks-Aufsatz, der Zeit, in der er geschrieben wurde. Rivette, geboren am 1. März 1928 in Rouen, gründete 1950 zusammen mit Godard, Rohmer und Truffaut die «Gazette du Cinema» und schrieb später auch für die «Cahiers du Cinéma». Er gehörte zu jener Kritikergruppe, die anfangs der 60er Jahre zur Cineastengruppe geworden, unter dem Namen «Nouvelle Vague» die Filmgeschichte belebte. Die Art und Weise der «Nouvelle Vague»-Filme zählt heute zum selbstverständlichen Vokabular des Filmemachens. Die ins Kino vernarrten Kritiker bewunderten damals Griffith, Hawks, Wehes, Hitchcock, Renoir und Rossellini. 1955 schrieb Rivette über Rossellini:

Ich habe eben schon von Rossellinis Blick gesprochen; ich habe ihn, glaube ich, sogar etwas vorschnell mit dem unnachgiebigen Stift von Matisse verglichen; wie dem auch sei, man kann gar nicht genug auf dem Blick dieses Cineasten insistieren..., und vor allem auf dessen Einmaligkeit; ah, es geht hier keineswegs um das «Kino-Auge», um dokumentarische Objektivität und ähnlichen Firlefanz; ich möchte, dass Sie (mit dem Finger) an die wirklichen Kräfte dieses Blicks rühren könnten, der vielleicht nicht der subtilste ist, das ist Renoir, nicht der schärfste, Hitchcock, aber der aktivste; und er macht sich auch nicht irgendeine Transfiguration der Erscheinungen zur Aufgabe wie Welles, noch deren Kondensierung, wie Murnau, sondern deren Erfassen: eine Jagd nach jedem Augenblick, in jedem Augenblick ungesichert, eine körperliche Suche (und folglich auch eine geistige, eine Suche nach dem Geist durch den Körper), eine ständige Bewegung des Eroberns und Verfolgens, die dem Bild irgendetwas gleichzeitig Siegreiches und Ruheloses gibt; den wirklichen Ton der Eroberung.

Nach drei Kurzfilmen realisierte Rivette von 1958 bis 1960 seinen ersten abendfüllenden Spielfilm, Paris nous appartient. Ich habe den Film nicht gesehen, muss mich also auf die Kritiken stützen. Der schon zitierte 1. v. Mengershausen schreibt:

Paris nous appartient ist zuallererst ein Traum, ein Angsttraum, so fern der Wirklichkeit und so nah, so eng mit ihr verbunden, wie es Träume eben sind, kraft der Bezüge, der Quellen, durch die sie gespeist werden, und zugleich die Beschreibung eines solchen Traums... Der Geschichte, der Form nach ein typischer Krimi — eine junge Studentin sucht durch die Recherchen und Kombinationen die Umstände zu klären, unter denen ein ihr Unbekannter den Tod fand — ist die therapeutische, auf Anpassung abzielende Absicht ausgetrieben oder besser die dem Genre immanente Absicht wird ins Gegenteil verkehrt. Der Fall wird nicht in dem Sinne gelöst, dass die Welt als eine heile wiederhergestellt ist. Je luzider der Fall wird, je näher der Lösung gebracht, je klarer die Motive der in ihm auftretenden Personen, desto heilloser, schrecklicher, verwirrender erscheint alles, die Welt, die Gesellschaft, die Stadt, die Menschen.

Der nächste Film, Suzanne Simonin, La Religieuse de Diderot (1966), mit Anna Karina und Liselotte Pulver (die erstaunlich überzeugend spielt), sei hier nur kurz erwähnt. Rivette ist Diderot sehr genau gefolgt, seine filmische Schilderung des Befreiungsversuches Suzanne Simonins aber — sie wurde, wie es damals üblich war, ins Kloster gesteckt, weil die Eltern nicht genügend Mittel aufbringen konnten, um sowohl ihrer älteren Schwester als auch ihr eine Mitgift mitzugeben — wirkt immer wieder verkrampft, weil sie sich von der Literatur nicht löst, sondern diese bloss visualisiert.

2.

Wirklich, ich bin überzeugt, dass es die einzige Rolle

des Films ist, störend zu wirken, den verfestigten Meinungen

zu widersprechen, allen verfestigten Meinungen und mehr

noch den geistigen Dispositionen, die den Meinungen voraufgehen: es zu erreichen, dass das Kino nicht mehr gemütlich ist.

Rivette, Filmkritik H/1968.

Die folgenden drei langen Filme, L’Amour fou (1968), Out One (1971/72), die kurze Fassung davon, Out One Spectre, und Céline et Julie vont en bateau (1974), bilden den Hauptakzent im bisherigen Schaffen Rivettes. Sie sind es, die ihn so sehr in die Diskussion brachten.

Wie Godard ist Rivette aktiver Veränderer hergebrachter filmischer Normen. Beide bemühten sie sich intensiv um formale Erneuerungen, die immer auch inhaltliche Veränderungen mit sich bringen. Bei Godard aber entwickelten sich diese Bemühungen mit der Zeit zu fragwürdigen Experimenten, zu langweiligen Filmen wie die nach 1968 gedrehten, die, wären sie nicht von Godard, bestimmt viel weniger beachtet würden. Rivette hingegen ist es gelungen, scheinbar unpolitische Filme zu realisieren, die weitaus mehr aussagen über unsere Zeit als manch engagierter Politstreifen. Rivettes Filme sind sehr nah dran bei der Wirklichkeit, auch wenn sie sich — bei Céline et Julie sogar sehr ausgeprägt — als Träume geben. Denn «ein politischer Film in Frankreich kann nur utopisch oder falsch, Lüge oder alles zusammen sein. Ich glaube, ein realistischer Film kann in Frankreich nicht politisch sein. Denn die Politik ist von der Realität vollkommen losgelöst, ausgeschlossen vom Alltagsleben.» Rivette, film, Velber bei Hannover, 6/1969.»

3.

L’Amour fou

Jean-Pierre Kalfon inszeniert Andromaque von Racine. Damit erfüllt sich ihm und seiner Frau, Bulle Ogier, die die Hauptrolle spielen soll, ein alter Traum. Bulle Ogier aber gibt die Rolle nach den ersten Proben wieder auf. Mit der neuen Hauptdarstellerin geht die Arbeit gut voran, Kalfon lebt nur noch für das Theater, das sich allmählich zwischen ihn und Bulle Ogier schiebt. Das hält sie nicht aus, sie steigert sich in eine hässliche Eifersucht auf das Theater und die Frau, die so harmonisch mit ihrem Mann zusammenarbeiten kann. Für Bulle Ogier lässt sich das Leben nicht mehr inszenieren, das Spiel wird zur bitteren Wahrheit, gegen die sie sich sträubt. In ihrer Verzweiflung versucht sie erst sich selber umzubringen und später ihren Mann. Schliesslich geht sie weg, sie gibt abermals die Bühne frei, ihre Rolle, die sie liebt und nicht spielen kann.

L’Amour fou zeigt mehr als nur das Scheitern der Liebe; er zeigt auch, wie die Grenzen nicht mehr zu ziehen sind zwischen dem, was Spiel ist, und dem, was Wirklichkeit ist. Traum und Spiel, diese verlockenden Drogen, lösen die Wirklichkeit nicht auf, im Gegenteil, durch die Träume und das Spiel werden wir uns der harten Anforderungen erst bewusst, die überall und jederzeit gestellt werden. Durch sie werden wir uns der Angst bewusst vor der Niederlage, des Gefühls eben «des Fallens ins Bodenlose». Diese Angst ist es, die uns schliesslich vernichtet.

L’Amour fou erzählt keine in sich geschlossene Geschichte. Es gibt keinen Anfang und keinen Schluss. Der Film ist das Wagnis, Erfahrungen sehr direkt umzusetzen, für die Kamera zu improvisieren (in Out One und Céline et Julie wird der Improvisation noch weit mehr Raum gelassen), fortlaufend zu erfinden, um sich selber dann vom Resultat überraschen zu lassen. L’Amour fou ist also nicht berechnend gemacht wie viele amerikanische Filme, er geht das Risiko ein, unperfekt zu bleiben. Er vermittelt denn auch keine Theorien, sondern bildet beinahe zufällig Leben ab; beobachtet Menschen, die sich wirklich wie Menschen verhalten, die verrückt sind nach Liebe, nach dem, was am Leben erhält. (Es wäre erst noch zu untersuchen, wie weit Rivette und Warhol Gemeinsames verbindet.) In L’Amour fou erfährt man viel über die Darsteller, über ihre Schwierigkeiten, die sich decken mit unseren Schwierigkeiten. Und so sind wir es denn auch, die den Film weitertragen, unsere Aufgabe ist es, den Schluss immer wieder herauszuzögern, an uns ist es, die Bühne nicht freizugeben. (Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, wenn ich auf die beiden anderen langen Filme auch noch speziell eingehen würde. Informationen darüber geben: Out One: Interview mit Rivette, internationales forum des jungen films, Berlin 1973, Nr. 17/ Céline et Julie: Kritik von Gerhart Waeger in Zoom-Filmberater, 1/1975, S. 15-17.)

4.

Das ist der Endpunkt einer Kunst, die nur noch sich selbst Rechenschaft schuldet, die alles Tasten und Suchen hinter sich gelassen hat...

Rivette, Brief über Rossellini.

Die einen Filme, die liebt man, Sternberg, Hawks, Hitchcock; von ihnen lassen wir uns verführen, ihre Filme sind erfüllt von technischer Schönheit, sie sind brillant und atemberaubend, leicht wie Federbälle, glitzernd und edel wie Diamanten um den hohen weissen Hals einer Dame. Die einen Filme sind Vergnügen, wie Flipperkästen vielleicht, wie eine Cigarre im Schatten einer Palme, wie das Berühren eines Körpers.

Die anderen Filme machen einem die Liebe zu ihnen schwierig. Sie wollen nicht einfach schön sein oder vergnüglich; sie sind ungemütlich und manchmal ermüdend, oder aufdringlich, oder hässlich. Diese Filme sind Filme von Straub, Schroeter, Herzog, Warhol, Brakhage, Filme auch von Rivette. Filme, die gegen Sehgewohnheiten angehen und überhaupt alle Kinogewohnheiten, bei denen die Intensivität der Bemühungen ihrer Macher jederzeit gegenwärtig ist, der Bemühungen um freie Formen, um ein Kino, das sich selber am meisten in Frage stellt, um ein Kino, das tastet und sucht.

Diese Art Kino ist es, die die Filmgeschichte vorantreibt, die um alles in der Welt darum besorgt ist, dass das Kino sich nicht totläuft. Die Ehrlichkeit dieses Kinos geht einem direkt ans Herz. Die Spuren, die es hinterlässt, sind Zeichen, sind Möglichkeiten der Veränderung.

«An uns dann, diese still wieder ins Geheimnis zurückgekehrte Bewegung fortzusetzen...» schreibt Rivette von Renoir und Rossellini. An uns dann, die Lust, die verrückte Liebe aufs Kino weiter auszuleben. An uns dann, die Freiheit des Films zu bewahren, die Freiheit, um die die «ungemütlichen» Filme ständig kämpfen.

TATONNEMENTS ET RECHERCHES

«Foin des sceptiques, des lucides, des circonspects; l’ironie et le sarcasme ont fait leur temps; il s’agit enfin d’aimer assez fort le cinéma pour ne pas goûter beaucoup ce qu’on appelle aujourd’hui de ce nom, et pour en vouloir donner une idée un peu plus exigente.» (Rivette, «Lettre sur Rossellini», dans Cahiers du Cinéma, N° 46, avril 1955, p. 24). Joachim von Mengershausen, en parlant de la «sensation de peur et de chute dans le vide» que procurent les films de Rivette, applique à Rivette ce que ce dernier écrivit sur Howard Hawks: «Le paroxysme final de La rivière rouge (Red River) où le spectateur ne peut plus retenir la déroute de ses sentiments et s’interroge pour qui prendre parti et s’il doit rire ou s’effrayer, résume un frémissement panique de tous les nerfs, une griserie de vertige sur la corde raide où le pied chancelle sans glisser encore, aussi insupportables que les dénouements de certains rêves.» (Rivette, «Génie de Howard Hawks», dans Cahiers du Cinéma, N° 23, mai 1953, p. 16)

Souvenons-nous un instant que Rivette faisait partie de cette équipe de critiques des Cahiers du Cinéma qui, au début des années 60, entrèrent dans l’histoire du cinéma comme réalisateurs de la «Nouvelle Vague». Des passionnés de Griffith, Hawks, Welles, Hitchcock, Renoir et Rossellini. Il écrivit en 1955 sur Rossellini: «J’ai parlé déjà tout à l’heure du regard de Rossellini; je l’ai même, je crois, comparé un peu vite au crayon obstiné de Matisse; il n’importe, on ne peut trop insister sur l’oeil du cinéaste (et qui doute que là d’abord ne réside son génie?), et surtout sur sa singularité; ah il ne s’agit guère de Ciné-œil, d’objectivité documentaire et autres balivernes; je voudrais vous faire toucher (du doigt) les véritables pouvoirs de ce regard: qui n’est peut-être pas le plus subtil, c’est Renoir, ni le plus aigu, Hitchcock, mais le plus actif; et ce n’est pas non plus qu’il s’attache à quelque transfiguration des apparences, comme Welles, ni à leur condensation, comme Murnau, mais à leur capture: une chasse de chaque instant, à chaque instant périlleuse, une quête corporelle (et donc spirituelle; une quête de l’esprit par le corps), un mouvement incessant de prise et de poursuite qui confère à l’image je ne sais quoi de victorieux et d’inquiet tout à la fois: l’accent même de la conquête.» (Cahiers du Cinéma, N° 46, p. 18).

«Vrament, je crois que le seul rôle du cinéma, c’est de déranger, de contredire les idées toutes faites, toutes les idées toutes faites, et plus encore les schémas mentaux qui préexistent à ces idées: faire que le cinéma ne soit plus confortable. J’aurais de plus en plus tendance à diviser les films en deux: ceux qui sont confortables et ceux qui ne le sont pas; les premiers sont tous abjects, les autres plus ou moins positifs.» (Rivette, «Le temps déborde, Entretien avec Jacques Rivette», dans Cahiers du Cinéma, N° 204, septembre 1968, p. 20). Rivette a réussi à réaliser des films apparemment apolitiques qui en disent bien plus sur notre temps que bien des films politiques engagés. Les films de Rivette sont très proches de la réalité, même s’ils se font passer pour des rêves (comme dans Céline et Julie vont en bateau), car «un film politique, en France, ne peut être qu’utopique ou faux, mensonge ou tout à la fois. A mon avis, en France, un film réaliste ne peut pas être politique. Car la politique est complètement détachée de la réalité, exclue de la vie de tous les jours.» (Rivette, Film, Velber près Hannover, 6/1969).

L’Amour fou montre, à quel point il est difficile de trouver la limite entre ce qui est jeu et ce qui est réalité. Le rêve et le jeu, ces drogues séduisantes, ne parviennent pas à dissoudre la réalité, au contraire, à travers les rêves et le jeu nous prenons conscience des dures exigences auxquelles nous sommes confrontés partout et toujours...

«Voilà certainement l’aboutissement de l’art, qui ne doit plus de comptes qu’à lui-même et, passés les tâtonnements et les recherches, décourage les disciples en isolant les maîtres: leur domaine meurt avec eux, comme les lois, les méthodes qui y avaient cours.» (Rivette, Cahiers du Cinéma, N° 46, p. 15). Il y a des films — ceux de Straub, Sohroeter, Herzog, Warhol, Brakhage, Rivette — dont l’approche est rendue difficile parce que les habitudes des spectateurs sont continuellement mises en cause; des films peu confortables, parfois fatigants, ou insistants, ou laids; un cinéma qui cherche inlassablement à se mettre en cause; un cinéma qui tâtonne et qui cherche. (AEP)

Bernhard Giger
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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