DIETER FELDHAUSEN

DAS ZWEITE EXPOSÉ UND EIN NACHTRAG

CH-FENSTER

«Ein Bild des 20. Jahrhunderts»

Walsers Roman soll Vorlage eines Spielfilms werden. Bei der Verfilmung soll der Grundsatz der «Werktreue» besonders aufmerksam beachtet werden. Der Gehülfe muss durch die Filmfassung interpretiert, darf aber nicht zur Illustration vorgefasster, insbesondere gesellschaftspolitischer Meinungen benutzt werden.

Die Notwendigkeit der Interpretation ergibt sich einmal aus der Umsetzung in ein anderes Medium; zum anderen aus dem Umfang und Detailreichtum des Werkes, der zum Treffen einer Auswahl zwingt. Dabei sollen die Grundzüge der Handlung im Vordergrund stehen, während den poetischidyllischen Szenen gegenüber, deren besonderer Reiz auf Walsers einzigartiger Sprachkunst beruht, Zurückhaltung geboten ist.

Der Grundsatz der Werktreue bezieht sich auf das Buch, nicht auf die Zeit, in der die Handlung spielt. Das Zeitkolorit soll in Kleidung und Ausstattung gewahrt bleiben, ohne dass ihm überragende Bedeutung zukommt. Die Gefahr, Robert Walsers Roman für einen nostalgiebefrachteten Austattungsfilm zu missbrauchen, ist gross. Ihr soll schon dadurch entgegengewirkt werden, indem der Satz, mit dem Joseph, der Gehülfe, die Anwandlung zurückweist, eine ganz alltägliche Szene romantisch ins Mittelalter zu versetzen, als Leitfaden für die Verfilmung gebraucht werden soll: «Alles in allem war es ein Bild des zwanzigsten Jahrhunderts».

Dass Walser in Der Gehülfe mehr gestaltet hat als ein Zeitbild der Jahrhundertwende, ist unbestritten. Joseph lebt in einer Welt, die sich von der unseren unterscheidet, die in vielen Zügen aber die unsere noch ist. Seine Stellung als Angestellter ist extrem unsicher; dafür aber hat er die Möglichkeit, eine persönliche Beziehung zu seinem Arbeitgeber und dessen Familie aufzubauen. Die soziale Sicherheit des Angestellten ist heute nahezu perfekt ausgebaut1, seine Beziehung zum Arbeitgeber dafür fast völlig entpersönlicht. Josephs Beziehung zur Familie Tobler ergibt sich aus dem freien Arbeitsmarkt und endet auch auf ihm; sie ist zufällig, nicht organisch gewachsen. Dennoch versucht er, das Beste aus ihr machen zu wollen und über die Pflichterfüllung hinaus menschliche Mitverantwortung für diejenigen zu entwickeln, in deren Kreis es ihn verschlagen hat. Er erkennt, dass Tobler letzlich auf Kosten seiner Kinder dem Erfolg nachjagt, und macht sich zum Anwalt der von allen gequälten Silvi. Er versucht Frau Tobler zu verstehen und sie zu grösserer Selbständigkeit ihrem Mann gegenüber anzuleiten. So ist er schliesslich viel mehr als ein blosser Arbeitnehmer; er ist wirklich ein Gehülfe dieser Menschen, denen er zuhört, zwischen denen er auszugleichen versucht und deren Versäumnisse er, oft zu seinem eigenen Nachteil, aufklärt. Damit wird er zum Repräsentanten jener oft als «schweigend» diffamierten Mehrheit, die ohne grosse politische Zielsetzung an ihrem Ort ihre Arbeit verrichtet und gleichwohl um eine moralische Bewährung bemüht bleibt.

Kein proletarischer Roman

Eine klare Absage muss der Forderung von Hans G. Helms erteilt werden, man solle «Robert Walser endlich als den grossen proletarischen Schriftsteller begreifen, der er ist» (in «Basta», Texte von Robert Walser, Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln 1970). Der Gehülfe ist in hohem Masse autobiographisch, und wenn es von Joseph heisst, er habe sich von den «grossen Worten» des Sozialismus entfernt, je schwerer es ihm wurde, ein «rechter Mensch» (Anführungszeichen von Walser) zu werden, so darf diese Äusserung auf Walser selbst bezogen werden. Ein «rechter Mensch» aber ist Joseph zum Beispiel dann, wenn er seinem Vorgänger und Konkurrenten um den Arbeitsplatz, den trunksüchtigen Wirsich, weiter durchs Leben hilft und so in bescheidenstem Rahmen und ohne «grosse Worte» Solidarität übt.

Walsers Roman hat keinerlei agitatorische Wirkung, noch hat man den Eindruck, dass eine solche Wirkung beabsichtigt war. Vielmehr versteht Walser es, in Joseph einen Menschen zu zeichnen, der bei aller Unzufriedenheit mit seinen Lebensverhältnissen dieselben auch zu gemessen versteht. Der Gehülfe ist kein proletarischer Roman, sondern ein «Brevier der verzweifelten Lebenskunst des kleinen Mannes.»

Toblers Scheitern ist die Gegenbewegung zur Bewährung Josephs: Während sich dieser innerlich emporarbeitet und beweist, wie man in der Abhängigkeit Freiheit und Würde bewahren kann, geht es mit Tobler innerlich und äusserlich bergab. Auch Tobler ist im Grunde ein kleiner Mann wie Joseph, mit dem Unterschied, dass er sich für stark genug hielt, um aus der Abhängigkeit in die äussere, die wirtschaftliche Freiheit des Unternehmers vorzustossen. Dabei zeigt es sich, dass diese Freiheit so sehr gross nicht ist: Toblers Produkte werden unbarmherzig gewogen und zu leicht befunden. Er findet keine Abnehmer. In dieser Situation des Misserfolgs sucht er sein Heil in der Flucht nach vorn: Er betreibt Überanpassung. Der äussere Schein des gesunden und selbstbewussten Unternehmers wird aufgebaut und bis zum letzten gewahrt; noch im Untergang stattet er seinen Garten mit einer modischen Grotte aus. Die Tatsache, dass Joseph diesen Schein sehr bald durchschaut und trotzdem loyal zu Tobler hält, gehört zu den eigentümlichen Kompromissen, die in dem Ausdruck «Lebenskunst» Platz finden. Erst als die Not ihn zwingt, kehrt Joseph zurück in die Schreibstube für Stellenlose, aus der er gekommen ist. Seine Auflehnung gegen Tobler beschränkt sich auf Fälle von Notwehr: Für die schutzlose Silvi und für sich selbst, wenn Tobler in seiner Verzweiflung handgreiflich zu werden droht.

Der unemanzipierten, launischen und feinen Frau Tobler, zu der der Gehülfe eine verhaltene Zuneigung fasst, steht die Episode mit Klara gegenüber, einer Frau, die sich allein hat durchschlagen müssen, dazu noch mit einem Kind, die aber den Gehülfen verletzt mit der Äusserung «dich vernachlässigt ein bisschen das Leben». Nimmt man noch die rohe und ungebildete Pauline hinzu, der die kleine Silvi anvertraut ist, so ergeben sich auch bei den Frauenrollen klare und filmdramaturgisch gut verwertbare Gegensätze.

Herr und Knecht2

Die nähere Lektüre des Gehülfen zeigt, dass er sich sehr wohl als Paraphrase der Herr-und-Knecht-Beziehung interpretieren lässt. Wie deutlich das Walser selber war, zeigt sich etwa an der Formulierung: «Da hatte man sie also beide, den Herrn und den Knecht, und wo? In der Kneipe.» Bereits im ersten Kapitel verwendet Walser eine Reihe verschiedener Begriffe, mit denen das Unterstellungs- bzw. Vorgesetztenverhältnis deutlich herausgearbeitet wird. Schon am Geräusch der Schritte erkennt Joseph den «Herrn», den «Chef des Hauses», später «wies der Vorgesetzte dem Untergebenen den Platz an», und «während der Angestellte nun schrieb», blickte «ihm der Prinzipal von Zeit zu Zeit über die Schulter» und einmal wird Joseph sogar als «neuangeworbener Beamter» bezeichnet. Trotz dieser scharfen Differenzierungen werden Tobler und Joseph vom Autor doch auch immer wieder unter einem Begriff zusammengefasst: «Zwischen beiden Männern» gibt es eine Auseinandersetzung, «beide arbeitende Gestalten» werden in blauen Rauch gehüllt. In diesem zunächst nur begrifflichen Kontrast von Gleichheit und Ungleichheit wird die das ganze Buch durchziehende Dialektik von Abhängigkeit und Macht vorbereitet. Ist nicht Tobler zum Schluss nur noch ein lächerlich tobender Wicht, die überlegene und einflussreiche Figur aber der Gehülfe? In dieser Entwicklung, die ihren theoretischen Hintergrund in Hegels Studie über Herr und Knecht haben könnte, ist eine wichtige Grundlinie auch der Filmfassung zu sehen.

Joseph und Potiphar

Bereits ganz zu Anfang ist uns aufgefallen, dass Der Gehülfe, trivial ausgedrückt, eine «Dreieckgeschichte» ist, eine besondere Dreieckgeschichte insofern, als ein Mann zwischen der Treue zu seinem Herrn und der Versuchung durch dessen Frau gezeigt wird. Urbild einer solchen Konstellation ist ohne Frage die Geschichte von Joseph und Potiphar. Inwieweit Walser dieser alttestamentarische Mythos bei der Abfassung des Gehülfen vor Augen stand, wussten wir nicht und waren deshalb sogar bereit, den Namen des Gehülfen (Joseph) als Zufall abzutun. Das änderte sich, als wir in Jakob von Gunten auf die Stelle stiessen, in der Kraus mit Joseph in Potiphars Haus verglichen wird. Diese Passage ist insofern auffallend, als Walser sich der Wiedergabe fremdbestimmter Inhalte gegenüber immer grösste Zurückhaltung auferlegt. Wir kamen zu dem Schluss, dass der alte Grundsatz «Scriptura sui ipsius interpres» (Die Schrift erklärt sich aus sich selber) auch für die so eng benachbarten Romane Walsers gelten müsse. Wendet man das Potiphar-Schema auf den Gehülfen an, so fällt auf, dass die Versuchbarkeit des Gehülfen in verschiedenen Szenen stark herausgearbeitet ist, dass es seitens der Frau Tobler jedoch nie zur Initiative kommt. Trotzdem ist die Joseph-Geschichte in Ansätzen erkennbar. Frau Tobler erzählt von einem «närrisch-verliebten Kerl», der sie im Schlafzimmer habe umarmen wollen. Eigentümlicherweise wurde er von Tobler auf ganz ähnliche Art und Weise aus dem Haus geschafft wie Wirsich: durch Prügel. Von Wirsich aber heisst es, «dass auch Frau Tobler diesem fremdartigen Zauber, diesem Unerklärlichen (das von Wirsich ausging), nicht widerstand.» Es würde zu weit führen, hier alle Verästelungen und Indizien des Joseph-und-Potiphar-Motivs im Gehülfen zu verfolgen und aufzuzeigen. Wir sind jedoch zu dem Ergebnis gekommen, dass die Berücksichtigung dieses Motivs bei der filmischen Umsetzung legitim und fruchtbar ist.

Rollenspiel und Ironie

Ein weiteres wichtiges Element der Verfilmung wird das Rollenspiel des Gehülfen sein. Es steht in innerem Zusammenhang mit der Ironie der walserschen Darstellungsweise: die Darstellung der Realität als theatralisch muss zur Ironie führen, weil jede Äusserung als gespielte Äusserung erkennbar wird. Stellenweise verfällt Walser förmlich in den Ton der Regieanweisung: «Auf der einen Seite eine weinende und erzürnte Frau, auf der anderen Seite ein ironisch winkender und grüssender Kapitalist, und im Hintergrund die Ahnung von der Missbilligung Toblers». Der Gehülfe versucht die Rolle eines Gehülfen so perfekt wie möglich zu spielen. Immer wieder ermahnt er sich zu Sorgfalt und Achtsamkeit. Er geht so sehr im Rollenspiel auf, dass dann, wenn es nicht mehr nötig ist, in der Einsamkeit, fast eine Art von Persönlichkeitszerfall sichtbar wird (er vernichtet seine Aufzeichnungen). Mit dem scharfen Blick des Autors erkennt der Gehülfe jedoch auch das Rollenverhalten der anderen: «Wie diese Frau Nachdenklichkeit mimt», denkt er einmal von Frau Tobler, und Toblers Neigung, umso mehr mit der Bahn zu fahren, je mehr sein Geschäft zugrunde geht, wird als Rollenverhalten analysiert: «Das war wie sein Anzug, Die Geschwister Tanner zeigt eine Auffassung des Rollenspiels, die über das Nurspielerische hinausgeht und fast einen heroischen Akzent aufweist: «Wenn ich auch einer der ärmsten Teufel bin, so fällt es mir doch nicht ein, mir das merken zu lassen, im Gegenteil, die Geldverlegenheit verpflichtet gewissermassen zu einem stolzen Benehmen. Wäre ich reich, so dürfte ich mir vielleicht den Schlendrian noch erlauben. So aber nicht, weil der Mensch auf ein Gleichgewicht bedacht sein muss... Eine Ahnung sagt mir, dass eine freie, stolze Haltung schon allein das Lebensglück an sich zieht wie ein elektrischer Strom...» Hier wird eine Dialektik zwischen Rolle und Realität festgestellt, die auch für die richtige Auffassung des Rollenspiels im Gehülfen massgebend ist. Wie stark dabei der spielerische, schelmen-hafte Charakter des Gehülfen bleibt, zeigt die Szene, in der er sich nicht nur als Gaukler, sondern als Gaukler-Lehrmeister betätigt: «Ebendaselbst stieg er auf die kleine Variété-Bühne, vor aller Anwesenden Augen, und zum grössten Gaudium derselben, und fing an, den Gaukler, der sich dort produzierte, in den Gesetzen des Geschmacks und der körperlichen Geschicklichkeit zu unterrichten».

Dieser Text ist datiert Zürich/Köln, Mai 1973.

Die drei letzten Abschnitte sind Nachträge, April 1974.

Dieter Feldhausen
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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