FRANZ ULRICH

GEBROCHENE IDYLLE — ZU THOMAS KOERFERS WALSER-VERFILMUNG DER GEHÜLFE

CH-FENSTER

Robert Walser wollte seinen zweiten, 1908 erschienenen Roman Der Gehülfe als «einen Auszug aus dem schweizerischen täglichen Leben» aufgefasst wissen. Er schrieb ihn aus der Distanz seines Aufenthaltes in Berlin, wo er von 1905 bis 1913 mit seinem Bruder Karl zusammenlebte. Schauplatz des Romans ist die Zürichsee-Gemeinde Bärenswil, eigentlich Wädenswil: Hier lebte Walser vom Sommer 1903 bis zum Januar 1904 als Angestellter eines mit exzentrischer Phantasie begabten Ingenieurs in der Villa «Zum Abendstern», die auch im Roman diesen Namen trägt. Solche Details wie auch die Erinnerungen des Roman«helden» Joseph Marti, des 25jährigen Kontoristen, an seine Zeit als Soldat und Fabrikangestellter zeigen enge Bezüge zum Leben des Verfassers auf.

1878, im Geburtsjahr Robert Walsers, musste der Vater sein Schreib- und Spielwarengeschäft schliessen. Die Familie lebte fortan unter beträchtlichen finanziellen Schwierigkeiten, die eine regelmässige und gründliche Schulausbildung Roberts nicht erlaubten. Als 15jähriger musste er bereits eine Lehrstelle an der Bieler Kantonalbank antreten. In der Folge versuchte er sich in verschiedenen Berufen: Angestellter einer Speditionsfirma, Schreiber in einem Büro (seiner ausserordentlich schönen Handschrift wegen), Diener im Haushalt einer älteren Dame (Walsers Traumberuf; später besuchte er in Schlesien eine Dienerschule, um sich zu vervollkomnen), Angestellter in einer Nähmaschinenfabrik. Diese (unvollständige) Aufzählung weist auf Walsers unstetes Leben hin, aber auch darauf, dass ihm der Beruf immer nur als Brotberuf wichtig war. Hatte er genug Geld beisammen, widmete er sich ganz seinen schriftstellerischen Ambitionen. Einiges von dieser (schöpferischen?) Zwiespältigkeit findet sich auch in der Figur des Joseph Marti wieder, und es spricht für Koerfers Verfilmung, dass diese autobiographischen Bezüge erhalten geblieben sind.

Die Welt als Bühne

Thomas Koerfer und Dieter Feldhausen nennen ihren Film, in Anlehnung an Walser, einen «Auszug aus dem schweizerischen täglichen Leben in 60 farbigen Bildern nach dem gleichnamigen Roman von Robert Walser». Mit diesem Untertitel ist nicht nur der Anspruch auf Werktreue formuliert, sondern auch eine Eigentümlichkeit der Verfilmung charakterisiert, die als szenische Illustration der Vorlage Walsers Vorstellung von der Welt als Bühne, auf der alles inszeniert ist, klar herausarbeitet. (Über die Intentionen der Filmautoren orientiert Dieter Feldhausens in CINEMA 4/75 abgedrucktes Exposé, das zugleich als vorzügliche Einführung in den Film dienen kann.) Bereits der Roman ist in Szenen aufgebaut und belegt Walsers Freude am Szenischen. In der Vorliebe für Auftritte, Abgänge, Monologe stimmen Roman und Film überein. Als «Bühnenbilder» dienen die Räume der Villa des Ingenieurs Tobler, häufig aber auch die Landschaft. Die detaillierten Naturbeschreibungen Walsers verraten seine innige Beziehung zur Landschaft um den Zürichsee. Der in der gleichen Gegend gedrehte Film sucht dem mit wunderschönen, stimmungsvollen Landschaftsbildern zu entsprechen.

Hingegen scheint eine andere Eigenart des Walserschen Werks im Film zu kurz gekommen zu sein:

Walser besitzt eine sprachliche Genussfähigkeit, die die Wörter riecht, schmeckt und fasst, sie wie zum ersten Mal hernimmt und auskostet. Unversehens wird das Klischee Trouvaille und holt das zurück, was ihm das Geschwätz raubte. Euphorie prägt diesen Stil: ein seltsames augenzwinkerndes Behagen stimuliert den Erzähler, der nicht eigentlich Ereignisse abschildert, sondern sich an ihnen berauscht, indem er sie schildert. Ausrufe des Erstaunens, halsbrecherische Vergleiche und Anspielungen drängen sich ihm auf. Jedwedes erscheint ihm ausserordentlich, gleichsam auf einer Woge der Exaltation. (...) Die Euphorie verwandelt die Welt, reisst die Dinge aus ihrer unscheinbaren Gewöhnlichkeit in den Augenblick des Genusses. Der Erzähler wird zum Beobachter eines Schauspiels, das die Welt ganz allein für ihn inszeniert (Herbert Heckmann).

Diese euphorische, sinnliche Seite in Walsers Werk herauszuarbeiten, hätte vermutlich einen anderen, verspielteren Inszenierungsstil erfordert als den statischen des vorliegenden Films, der sich ganz der Perspektive des distanzierten Beobachters verschrieben hat. Die in Der Tod des Flohzirkusdirektors angewandte kameraoptische Konzeption wurde hier bis zum Extrem weiterentwickelt: Eine grosse Zahl fixer, langausgehaltener Einstellungen, kühle, abgezirkelte Aufnahmen, die den Zuschauer fast immer auf der gleichen Distanz halten (es gibt nur drei Nah- oder Brustaufnahmen an dramaturgisch entscheidenden Stellen). Zwei «Inserts» — die Erde vom Weltraum aus und der Blick in einen Spiralnebel — verlängern diese Distanz sogar ins Kosmische und betonen die Verlorenheit der Tobler-Welt. Diese «Tableaux» geben eine kunstvoll komponierte Postkartenwelt von plastischer Schönheit wieder, in der die Bewegungen der Akteure optimal ausgewertet sind. Von den intensiven Farben, den unendlich sorgfältig arrangierten Details und insbesondere von der starken Ausstrahlung des Hauptdarstellers Paul Burian geht eine faszinierende Wirkung aus, die zur Kargheit der filmischen Mittel kontrastiert. In ihrer statischen Ruhe laden diese Schaubilder den Zuschauer zum Verwehen ein, verschaffen ihm Raum zum Empfinden und Denken. Und unversehens stellen sich diese «schönen», ästhetisch ausgefeilten Bildern selbst in Frage. Die idyllische Schönheit kontrastiert mit dem inneren Zerfall der bürgerlichen Tobler-Welt. Die Idylle bekommt Risse und Flecken, sie wird zum Schein, zur Fassade, hinter der sich eine kranke, absterbende Wirklichkeit verbirgt.

Walter Benjamin sagte von Walser, dass seine Gestalten nicht aus dem maximal ordentlichen Appenzellerland (woher die Familie väterlicherseits stammt), sondern aus der Nacht kommen, «wo sie am schwärzesten ist, einer venezianischen, wenn man will, von dürftigen Lampions der Hoffnung erhellten, mit etwas Festglanz im Auge, aber verstört und zum Weinen traurig. Was sie meinen, ist Prosa. Denn das Schluchzen ist die Melodie von Walsers Geschwätzigkeit. Er verrät uns, woher seine Lieben kommen. Aus dem Wahnsinn nämlich und nirgendher sonst. Es sind Figuren, die den Wahnsinn hinter sich haben und darum von einer so zerreissenden, so ganz unmenschlichen, unbeirrbaren Oberflächlichkeit bleiben.» Es ist vermutlich diese Zerrissenheit, Brüchigkeit und abgründige Melancholie — die Walser, nur vordergründig ein berufsmässiger Spaziergänger von fröhlicher Nachdenklichkeit und bisweilen komischer Preziosität, auf impressionistische Manier zum Ausdruck brachte — die Koerfer und Feldhausen mitveranlassten, dieses «Brevier der verzweifelten Lebenskunst des kleinen Mannes» zu verfilmen. Die angewandten filmischen Mittel sollen verhindern, dass der Zuschauer die Figuren nur als Individuen begreift, sie sollen vielmehr als Träger sozialer Rollen erkannt werden. Ob diese Tendenz zur «Objektivierung», zum Lehrstück vielleicht, zu einer allzu starren oder gar sterilen Stilisierung geführt hat, ist eine Frage, die bei der Auseinandersetzung um diesen Filme eine erhebliche Rolle spielen dürfte.

Auszug aus dem schweizerischen täglichen Leben

Koerfers und Feldhausens Film, an dem auch Renato Berta (Kamera) und Georg Janett (Schnitt) wesentlichen Anteil haben, ist zweifellos als erste sogenannte «epische Literaturverfilmung» des neueren Schweizer Films eine eindrücklich konsequente Arbeit, die man angesichts der Produktionsschwierigkeiten voll anerkennen muss. Die wesentlichen Stationen aus einem Lebensabschnitt des «Gehülfen» Joseph Marti sind klar nachgezeichnet und machen seine «Entwicklung» als einen Bewusstseinsprozess deutlich. Der «Auszug aus dem schweizerischen täglichen Leben» spielt zur Gründerzeit. Joseph Marti wird in Bärenswil als Angestellter des prahlerischen, zugleich tölpelhaften und versponnenen Erfinders Tobler zum Zeugen des Verfalls einer bürgerlichen Familie. Tobler beschäftigt sich mit der Fabrikation und dem Vertrieb ausgefallener Apparate (Reklameuhr, Schützenautomat, patentierter Krankenstuhl und Phantasiemaschine). Bald merkt Marti, dass sein unsteter, spekulierfreudiger und wenig geschäftstüchtiger Herr den Anforderungen eines Unternehmers nicht gewachsen ist.

Seine Erfindungen sind offensichtlich von skurriler Unbrauchbarkeit. Die Gläubiger sitzen ihm im Nacken, der Bankrott und der Untergang des bürgerlichen Haushaltes sind unvermeidlich. Auch ist schon vorher von Marti nicht unbemerkt geblieben, dass die scheinbar so reputierliche Familie einigen Makel aufweist. Das von der Mutter ungeliebte Töchterchen Silvi wird herumgeschubst, malträtiert und verkümmert seelisch. Die unemanzipierte, zugleich leichtsinnige und schwermütige Dame des Hauses, ist einem Flirt mit ihrem Angestellten nicht absolut abgeneigt. Marti selbst sucht in dieser Umgebung Geborgenheit und Wärme, sucht sich, zwischen skrupulöser Selbstkritik und grosszügiger Oberflächlichkeit schwankend, anzupassen. Es fällt ihm schwer, einen eigenen Platz und Standort in der Tobler-Welt zu finden, er verhält sich inkonsequent, mal begehrt er keck auf, dann zeigt er sich wieder selbstverleugnerisch unterwürfig, mal arbeitet er mit wildem Eifer drauflos, dann gibt er sich wieder einem behaglichen, selbstgefälligen Müssiggang hin, wie ihn seine Herrschaft vorlebt. Als der Untergang Toblers, der im Grunde auch nur ein kleiner, sich selbst überschätzender Mann ist, endgültig geworden ist, kehrt Marti dem Bürgerhaus den Rücken — erneut stellenlos wie zu Beginn.

Mit filmischen Mitteln wird versucht, die in Walsers Roman enthaltene Analyse des Klein- und Mittelbürgertums und der Angestelltensituation herauszuarbeiten und möglichst genau nachzuvollziehen. Die dialektische Auseinandersetzung liegt in erster Linie darin, dass verschiedene, neben formalen auch inhaltliche Bereiche vom Zuschauer in Beziehung gebracht werden müssen: Die unglückliche Silvi und die fröhlich spielenden Kinder eines Arbeiterviertels, die unselbständige und gedemütigte Frau Tobler und die selbstbewusste, im Sozialismus engagierte ehemalige Proletarierfreundin Martis; Tobler kann auf seine Geschäfts- und Stammtischpartner nicht zählen, während Marti sich in beschränktem Masse mit seinem gefeuerten Vorgänger solidarisiert. Marti steht gleichsam als «Unbehauster» zwischen den Klassen, er sucht sich, ständig pendelnd, einen Standort.

Der Gehülfe. Regie: Thomas Koerfer; Drehbuch: Dieter Feldhausen, Th. Koerfer; Kamera: Renate Berta, Carlo Varirai, Paul Muret; Beleuchtung: Benjamin Lehmann, Andre Pinkus; Ton: Pierre Gamet, Luc Yersin; Schnitt: Georg Janett, Rainer Trinkler; Produktionsleitung: Rudolf Santsohi, Antonia Remund; Darsteller: Paul Burian, Verena Buss, Ingold Wildenauer, Wolfram Berger, Hannelore Hoger, Nikola Weisse; Produktion: Schweiz 1976, Thomas Koerfer, mit Herstellungsbeiträgen des Eidgen. Departements des Innern, ZDF, Schweizer Fernsehen, Kanton Bern und Stadt Zürich, 35 mm., farbig, 120 Min.; Verleih: Filmpool, Zürich.

UNE IDYLLE BRISEE

Franz Ulrich suit toute la genèse du film Der Gehülfe de Thomas Koerfer, en partant du roman L’homme à tout faire de Robert Waiser (paru en 1908), jusqu’à l’achèvement de son adaptation cinématographique; il commente également le sous-titre du film: «Un extrait de Ja vie quotidienne suisse en 60 tableaux en couleur d’après le roman du même nom, de Robert Waiser». (AEP)

Franz Ulrich
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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