HANSPETER STALDER

«EINE NEUE BEFREUNDUNG» — FLÄCHEN — EIN PÄDAGOGISCHER AUSBLICK VON HANS PETER SCHEIER UND MARCEL MÜLLER-WIELAND

CH-FENSTER

Mich persönlich hat der Film Flächen — ein pädagogischer Ausblick im Programm der Solothurner Filmtage am meisten getroffen. Weil er einer der wenigen ist, die ein wirkliches Engagement verraten. Weil er wider den allgemeinen Trend deutlich macht, wo radikale Veränderung der Gesellschaft nach meiner Auffassung ansetzt, nämlich bei der Erziehung in der Schule.

Flächen ist das filmische Dokument einer Projektarbeit des Zürchers Pädagogen Marcel Müller-Wieland in der sechsten Primarklasse des Urdorfer Lehrers Max Stadtmann. Sie wurde in Zusammenarbeit mit dem Pädagogischen Institut der Universität Zürich durchgeführt. Ihr Motto und Ziel ist eine «individualisierende und zugleich gemeinschaftsbildende Schule». Der Film macht, am Beispiel mathematisch-logischer Denkerziehung, bei Kindern schöpferische Denk- und Lernprozesse sichtbar.

Im Mittelpunkt das Kind. Nicht curriculare Durchschnittsforderungen. Eine individualisierende Schule geht aus vom psychischen Feld dieses einen, von seinen faktischen Möglichkeiten und seiner ganz persönlichen inneren Forderung.

Hans Peter Scheier, der Regisseur, ist 26 und studiert an der Hochschule für Film und Fernsehen in München. Bisher hat er den Dokumentarfilm Schule von morgen — ein Schritt auf dem Weg (1972, mit Müller-Wieland), den Kurzspielfilm Christa oder Land der Stille (1974), den Kurzspielfilm Herbstwind (1975) gedreht. Zusammen mit Müller-Wieland entstand 1973-75 der 85-minütige Dokumentarfilm Flächen — ein pädagogischer Ausblick.

Marcel Müller-Wieland, der Projektleiter, ist Pädagogikprofessor am Oberseminar Zürich und unter anderem Autor des soeben erschienenen Buches Wandlung der Schule—Individualisierung und Gemeinschaftsbildung (Novalis-Verlag, Schaffhausen), in dem auch das im Film vorgestellte Projekt ausführlich beschrieben wird.

Wohl jeder Zuschauer, der Augen und Ohren hat zum Sehen und Hören, und der sich seiner eigenen Schüler-Vergangenheit erinnert, dürfte es treffen, wenn er hier einem Lehrer begegnet, der Erzieher, Partner, Freund ist — und nicht bloss Wissensvermittler. Eines der wesentlichsten Ziele und auch die Grundvoraussetzung für eine «innere Schulreform» — die vor der heute viel häufiger diskutierten Struktur-Reform zu leisten ist — stellt für den Pädagogen Müller-Wieland die «neue Befreundung» dar. Bei ihm ist sie kein leeres Wort, sondern Realität. Seine Zuwendung zu den Schülern, sein Hinhorchen und Hinschauen, sein Sprechen und Auf-den-Schüler-Eingehen beweist es in fast jeder Einstellung des Films.

Und doch wird kein Laissez-faire-Stil und keine antiautoritäre Erziehung propagiert.

Es geht um ein interessiertes Zuwenden zur Wirklichkeit... Es geht nicht darum, die Pläne des Lehrers, die Programme der Regierung, sondern das Programm des Schülers mit Energie durchzusetzen... Spiel und Arbeit und Lernen sind eins in solcher Bemühung... Innere Strenge tut not... Intensive Arbeit am Gegenstand... Man muss auch einen Fehler wagen. Der Lehrer muss der Klasse Zeit lassen für ein vorläufiges, heuristisches Versuchen und Vermuten. An den Fehlern entlang lernt das Kind den Gedanken kritisch auszurichten und zu vertiefen.

Sensibel, schlicht, zurückhaltend ist der Film als Ganzes. Scheier bleibt weitgehend unbemerkt. Er stellt sich nicht, wie viele andere Filmmacher, zwischen Kamera und Objekt. Er registriert im Sinne der Projektarbeit, vom Schüler, vom Lehrer, von den Dingen her.

Aus finanziellen Gründen war es der Equipe nicht möglich, bei den Aufnahmen mehr als zweieinhalbmal zu überdrehen.

(Üblich für vergleichbare Filme ist ein zehnfaches überdrehen.) So gibt es gelegentlich Unfeinheiten, Unausgewogenheiten, Unklarheiten. Dennoch verrät Scheier visuelle Empfindsamkeit und Gestaltungskraft, in der Komposition der Personengruppen und vor allem der Landschaften. Während der knapp eineinhalb Stunden gelingt uns, wie den Kindern, ein neues Sehen der Flächen, Formen, Strukturen, deren Sinn und Schönheit.

Mit Vorteil würde man nach meiner Meinung die Sequenz des Eltern-Lehrer-Gesprächs herausschneiden und durch einen diesbezüglichen Kommentar ersetzen, weil sie zu wenig klar und ergiebig ist. — Auch, finde ich, hätte Müller-Wieland die Kinder gelegentlich etwas länger suchen lassen sollen, bevor er ihnen selbst weiterhalf.

Scheier wechselt durch den ganzen Film Szenen mit Direktton und Szenen ohne Ton und erreicht dabei beim Zuschauer eine Verlagerung der Rezeptionsform: Information bei den realistischen Beobachtungen der Arbeit; Vertiefung bei den durch Stummheit verfremdeten Bildern zu Sinn-Bildern oder Symbolen. Existenzielle Grunderfahrungen, Grundbefindlichkeiten sind es, die vor uns zu Chiffren erstarren: Versuchen, Probieren, Suchen; Finden, Erkennen, Kennen; Auf-einander-Eingehen, Dialog.

Im Film Flächen von Scheier/Müller-Wieland geschieht Erziehung im Sinne eines Paulo Freire als «problemformulierende Erziehung» oder eines Martin Buber als «Dialog zwischen Ich-Du-Es».

Vieles kann im Film — trotz der 85 Minuten Laufzeit — nur angetönt werden. Besonders gegen Schluss häufen sich Stichworte, die die eigene Weiterarbeit abzustecken versuchen. Weiterarbeit, allein oder in der Gruppe, gehört wesentlich zu einem solchen Film. Andernfalls würde man ihn überfordern. Film selbst kann keine Bildung vermitteln! Er kann lediglich problematisieren oder sensibilisieren, sieht man von den hier untauglichen Formen des Indoktrinierens oder Agitierens ab. Sensibilisierung dürfte das Ziel des Films Flächen sein.

Problematisieren, d. h. Fragen finden, ausformulieren und zu beantworten versuchen, ist im Anschluss an den Film von den Zuschauern in der Weiterarbeit selbst zu leisten. Diese Arbeit, die ja wesentlich den Transfer betrifft, kann uns und sollte uns kein (wie dieser) für ein breiteres Publikum bestimmter Film abnehmen.

Eine erzieherische Revolution abbilden, nützt nichts. Eine erzieherische Revolution einleiten, dafür sensibilisieren und motivieren, nützt. Und dies tut, nach meiner Meinung, dieser Film.

Flächen — ein pädagogischer Ausblick. Schweiz 1973/75. Produktion: Martin Zeltender; Realisation und Buch: Hans Peter Scheier und Marcel Müller-Wieland; Kamera, Schnitt: Hans Peter Scheier; Ton: T. Bauer, A. Kappeier; Beleuchtung: R. Scheier; 16 mm., 85 Min.

«UN NOUVEAU RAPPORT D’AMITIE»

Surfaces une ouverture pédagogique de Peter Scheier, un film de 85 minutes, est le document cinématographique d’un travail expérimental du pédagogue zurichois Marcel Müller-Wieland avec la sixième classe primaire de l’instituteur Max Stadtmann à Urdorf. Cette expérience a été réalisée en collaboration avec l’Institut de pédagogie de l’Université de Zurich. Son but est une école «à la fois individualisante et préparant à la vie communautaire». A travers l’exemple d’une éducation mathématique logique, le film rend visibles des cheminements de la pensée créative logique des enfants. «Au centre l’enfant. Point d’exigences curriculaires moyennes. Le point de départ d’une école individualisante est à chercher dans le champ psychique de chacun, dans ses possibilités effectives et ses exigences intérieures tout à fait personnelles.»

Ce film dans son ensemble est sensible, délicat, retenu. Scheier, la plupart du temps, passe inaperçu. Contrairement à beaucoup d’autres cinéastes, il ne se place pas entre la caméra et l’objet. Il enregistre en suivant le sens de l’expérience, de l’élève, de l’instituteur, des choses.

Scheier fait alterner durant tout le film des scènes avec son direct et des scènes sans son et parvient par là à déplacer la forme de réception du spectateur: Information durant l’observation réaliste du travail; approfondissement durant les images muettes qui deviennent des symboles. (AEP)

Hanspeter Stalder
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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