MARTIN SCHAUB

DIE NEUEN UFER, KEIN MÄRCHEN — FRANCIS REUSSERS LE GRAND SOIR

CH-FENSTER

In seinem Gespräch mit Freddy Buache (Auszug am Schluss dieses Artikels) sagt Francis Reusser, es habe eine Unterbrechung in seiner Arbeit, aber eine Kontinuität in der Reflexion gegeben. Auch das Gegenteil hat sich im Schweizer Film der letzten Jahre beobachten lassen: Filmemacher, die ihre Produktionskontinuität über die grundsätzlichen Reflexionen stellten.

Der neue Film Reussers unterscheidet sich wesentlich, doch nicht in allen Punkten von den früheren (Antonie et Cléopatre, Patricia, Vive la Mort, Biladi und ein paar Gelegenheitsfilme). Alle Reusser-Filme haben zunächst ein Markenzeichen: eine lyrisch eindringliche Sprache, die die Bilder nach Bedarf heranrückt oder auf Distanz hält, auflädt oder dämpft. Die Inhalte und die Ziele dieser Dialoge und Off-Texte haben sich geändert, nicht aber ihre Tonlage, nicht ihre farbige Originalität, die manchmal wie ein Vorwurf an die Benutzer einer Gebrauchssprache wirkt. Die Gebrauchssprache erscheint Reusser als Zeichen der Verkrustung, der rechthaberischen Immobilität, schliesslich der Unmenschlichkeit.

In Le Grand Soir wird oft über die «Wörter» verhandelt. Reusser plädiert für die Erfindung einer neuen Sprache, für die Leidenschaft. Im Angelpunkt des Films steht das Gedicht Passionnement des rumänischen Lyrikers Gerasimo Luca. Leon, die männliche Hauptfigur von Le Grand Soir, spielt es sich immer wieder ab Band vor; es wird ihm zur Herausforderung wie das «Gedicht» eines kleinen Palästinensermädchens (aus Biladi), das auf demselben Band Platz gefunden hat.

Le Grand Soir beschreibt den Weg Leons und Leas in die Poesie, in den Raum, der weder von den Feinden, noch von den im aussichtslosen Kampf mit diesen verstrickten wortgläubigen Oppositionellen besetzt ist. Lea überwindet die Wörter mit der Hilfe von Leon, der nie an sie geglaubt hat. Die gewandelte Lea kommentiert den Film aus dem Off; Lea II blickt auf Lea I zurück, auf die disziplinierte Genossin Lea, wenn sie etwa kommentiert:

Wir werden eine neue Topographie erfinden. Unsere Einfallstrassen zielen ins Herz der Städte; wir werden das Herz treffen, indem wir uns abseits der Wege des Feindes bewegen.

Le Grand Soir beginnt mit Traurigkeit, mit Bildern von der verwalteten Welt. Leon sagt, er sei Schauspieler, und er sagt das nicht nur, weil er als Sekuritas-Wächter eine Rolle spielt oder als Tür-zu-Tür-Vertreter einer Enzyklopädie. Er ist Schauspieler, weil er sich selbst in einer Welt nicht darstellen kann, die ihre Ordnung noch bis ins Schlafzimmer durchsetzt. Reusser evoziert diese Zwänge im Bild des Strassenverkehrs: ein System von Richtungspfeilen, Ampeln, Passagen, überwacht von einem elektronischen Auge, das stumm über die Gegend schweift und seine Beobachtungen irgendwohin, in eine entfernte Ordnungszentrale weitergibt. Auch Leon gibt Informationen weiter, als Nachtwächter; er macht da einen feinen Unterschied: ihn geht’s nie etwas an; er gibt weiter (il transmet).

Leons Lebensirrweg führt durch eine leninistische Zelle und zu Lea. Die Leninisten «widerlegt» er: mit Lea findet er eine neue Menschlichkeit, eine Alternative zur verwalteten Welt. Sie besteht nicht in der offenen und aussichtslosen Konfrontation mit den Waffen, die der Feind wählt. Lea, sagt Leon in dem zentralen Gespräch in Evian, in der «Stadt des 19. Jahrhunderts gegenüber dem Museum des Kapitals», Lea habe «nicht die Mittel für ihre Politik», und er suche «eine Politik für seine Mittel».

Er macht die Probe aufs Exempel: Er beschafft den Aktivisten, die eben noch über die «Macht aus den Gewehrläufen» philosophiert haben, Waffen. Doch diese Radikalen sind Bürokraten einer fernen Ideologie; zur Praxis werden sie nie kommen. Sie sind kopflastig, anders als ihr Vorbild Lenin, der ab und zu nach Lausanne fuhr, um seine Kraft «im Winde einer Leidenschaft» zu messen.

Reussers Geschichte von den neuen Ufern ist kein Märchen. Der Film ist — ähnlich wie Tanners Jonas — eine Auseinandersetzung mit den unangemessenen Formen der Opposition. Leon und Lea könnten sich zu Tanners acht «kleinen Propheten» gesellen, die sich ändern und sich damit dem Würgegriff der Autoritäten von links und rechts entwinden. Sie werden unerreichbar für die Unterdrücker. Reus-ser illustriert das sarkastisch mit zwei Hampelmann-Polizisten, die Leon beschatten. Sie haben keine Ahnung, und trotzdem sagen sie: «Jetzt haben wir ihn». Sie öffnen die Türe von Leons Zimmer: es ist leer. Bei Leon und Lea (vielleicht sogar bei Leon mit Lea) werden die Hüter der Ordnung von jetzt an immer zu kurz greifen.

Dass dieser Film, der Autobiographie (Reusser ist Leon und Lea), aussen und innen, Geschichte und Sensibilität zusammenbringen will, immer am Rande zum völligen Misslingen sich bewegen muss, scheint klar. Umso stärker wirken Reussers Erfolge: einzelne Szenen, einzelne in die Tiefe gebaute Bilder, einzelne Sätze, schliesslich das Ganze, das durch eine subtile, unkonventionelle Montage im labilen Gleichgewicht gehalten wird.

Diese Montage und Reussers Fähigkeit für extreme Verkürzungen, die dann aber keineswegs plump allegorisch wirken, stehen ziemlich einsam in der schweizerischen Filmlandschaft. Einmal mehr fällt die Nähe Reussers zu der Einbildungskraft und der Entwicklung Jean-Luc Godards auf, zu dem er im Übrigen enge Kontakte unterhält. Wie Godard in Numéro deux setzt Reusser auf der Ebene der alltäglichen Nöte und der kleinen Katastrophen an, und nicht bereits auf dem Niveau der formulierten Fragen und Antworten. Wie Godard führt er den Zuschauer aus der Trauer heraus, und zwar auf scheinbaren Seitenpfaden. Er misstraut den grossen Strassen, den Programmen. Er «hütet sich vor Menschen, die sein Glück wider seinen Willen machen wollen, und die zu diesem Zweck sich organisieren zu müssen vorgeben, mit Chefs und all dem Klimbim» (Leon in Evian). Der Neubeginn, eine neue Menschlichkeit (mit Kopf und Hand, Hirn und Herz) werden nicht nur den dramatis personae vorgeschlagen; dieser Neubeginn, dieses Alles-von-vorne-Anfangen ist auch das Konzept des Films. Dazu gehört etwa auch die Wahl der Schauspieler. Nicht auszudenken, was aus Le Grand Soir geworden wäre, hätte Reusser mit Darstellern operiert, die vom Genfer Film bekannt und geprägt sind. Auch die unbekannten Gesichter passen ins Konzept.

Es ist anzunehmen, dass Francis Reusser jetzt auch den Beifall der falschen Seite und den Zorn der falschen Seite finden wird. Die einen werden ihn, den zerstörerischen Militanten von 68, wie einen verlorenen Sohn begrüssen; die anderen werden ihn als Verräter verachten (und ausschliessen, obwohl er nie irgendeiner Gruppierung angehört hat, wenn er’s auch meinte). Francis Reusser weiss, welche Gefahren ein poetischer Film läuft. Aber er ist auch der Überzeugung, dass nur der poetische Film die erstarrten Fronten zu sprengen vermag.

«Work in Progress» – Francis Reusser im Gespräch mit Freddy Buache

Buache. — L’actrice et l’acteur ne se connaissaient pas, ne connaissaient pas Lausanne...

Reusser. — C’était très bien ainsi puisqu’ils pouvaient réagir avec fraîcheur. Avec l’équipe technique je tenais à jouer sur la complicité, tandis qu’avec les interprètes j’avais besoin de l’invention spontanée. De ce point de vue, il n’y eut pas de difficultés. Pourtant, peu avant le tournage, le système fit une nouvelle fois retour sur nous tous. La belle harmonie (fondée sur une existence en commun pendant la durée du tournage) ne pouvait s’établir parce qu’il apparut que l’intendance ne suivrait pas. Les compétences étant mal distribuées, certains chaînons ayant craqué, j’étais obligé d’être partout en même temps. Ce fut la panique. Je risquais de me disperser. Contraint de réagir violemment, encore une fois, je décidai de n’obéir, sans partage, qu’à la logique du film, de me laisser conduire par lui. J’ai exigé de pouvoir visionner les «rushes» sonores pour prêter la plus délicate attention aux personnages, à leurs relations. Le portrait de la militante, de la sorte, se modelait non seulement à partir de la sensibilité de l’actrice mais encore au fil de la liberté que lui laissait un récit maintenu continuellement ouvert. Je constatais parfois que l’héroïne me renvoyait un sens qui était le contraire de celui dont je croyais l’avoir investie. Le garçon, de son côté, pouvait trahir dans certaines situations la part cachée de ma subjectivité, ce qui créait, entre eux deux, des rapports vivants que le scénario, lors de son écriture, avait refoulés. J’ai utilisé toute ma force, mon imagination, ma lucidité pour repérer ce décalage afin de l’exploiter au profit d’une plus grande autonomie de la narration; ce qui m’a conduit à bannir la donnée d’ordres aux interprètes, à ne limiter mes interventions à leur propos qu’à des remarques, exprimées en général de manière indirecte. Sans cesse, nous nous sommes interrogés en interrogeant le film, ce qui fut passionnant et nous dirigea vers un final non prévu. La militante incarne une attitude que nous voulions critiquer, voire condamner. De son côté, Léon nous offrait une matière à traiter de manière identique. Nous espérions, au bout de l’histoire, parvenir à une réconciliation des deux termes antagonistes qu’ils représentent, réconciliation dans un «ailleurs» politique inscrit dans le corps et sa parole enfin reconciliés.

Or, au cours de son éclosion, le film a dit le contraire: ils ne peuvent pas se retrouver comme nous l’avions prévu.

Buache. — Cette méthode de «Work in Progress» impliquait un dialogue que tu improvisais chaque soir pour le lendemain?

Reusser. — Oui, mais surtout ce visionnement quotidien des rushes sonores m’obligeait à décider sur le champ: «Dois-je assumer ce que me montre le cinéma, cette part maudite de moi-même qu’il me révèle?» Ces images et ces sons, que je croyais avoir composés rationnellement, m’apparais-saient traversés, hachurés par l’irrationnel et je me sentais divisé. J’ai voulu respecter ma division et non la masquer en bâtissant, par des artifices, une unité factice dont je sentais à quel point elle serait fragile, ce qui me renvoyait du cinéma vers le politique, vers la nécessité de «faire politiquement» le film, pour reprendre la formule de Jean-Luc.

Buache. — Cette volonté de garder les potentialités prodiguées par le caractère double de l’opération, comment s’est-elle exprimée au stade du montage qui paraît être celui de la réunification?

Reusser. — J’ai joué le jeu de la même manière en privilégiant l’importance de la part maudite. Dans la mesure où tu maîtrises mieux le matériel qu’au moment du tournage, tu peux te laisser porter par l’envie de créer un rythme uniquement pour le plaisir. Et à ce niveau, comme au visionnement des rushes, les personnages ont imposé leur autonomie, au bout de laquelle ils échappaient à la prédestination que le scénario faisait peser sur eux. Léon, historiquement, n’est plus présent à la fin, tandis que Léa, par le biais de ce qui s’est joué avec Léon, reste porteuse d’un avenir. Voilà qui dictait l’impossibilité totale de la communion charnelle que nous supposions, au départ, être le final de l’éthique et, à la fois, de la logique de notre flux narratif fondé sur la contestation politique. Cette modification de Léa, j’ai désiré la rendre plus sensible en y joignant, dès le début du récit, par le son off, une deuxième spirale. A la parole de Léa qui vit dans son corps et de son corps, j’en ai ajouté une autre, qui vient d’ailleurs ou, si tu veux, qui vient d’elle non encore incarnée après le dernier plan de ce film-ci (qui est peut-être le premier du film futur où elle pourrait ressurgir!).

Le Grand Soir, Schweiz/Frankreich, 1976, 35-mm-Blow-up, Farbe, 90 Minuten. P: Artcofilm (Eric Franc, Jordan Bojilov); R: F. Reusser; B: Jacques Baynac; Dialoge: Francis Reusser und Patricia Moraz; K: Renato Berta, Carlo Carini; Montage: Edwige Ochsenbein, Lise Paccaud; Ton: Luc Yersin, Pierre-André Luthy; Scripte: Madeleine Fonjallaz; Musik: Frank Martin, Franz Schubert; Darsteller: Jacqueline Parent (Léa), Niels Arêstrup (Léon), Arnold Walter, François Berthet, Roland Sassi, Marina Bûcher, Jacques Roman, Claude Para u. a. m.

Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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