BERNHARD GIGER

UNTERWEGS VON OBERHAUSEN ZUR ZUGSPITZE — ENTWICKLUNGSLINIEN IM DEUTSCHEN FILM SEIT 1962

ESSAY

Der junge Film der Bundesrepublik wird ein politischer, analytischer, reflektierter Film sein — oder einer, der nicht der Rede wert ist. Wolfram Schütte

Einige Monate mehr als vierzehn Jahre ist es her, dass in Oberhausen sechsundzwanzig Filmemacher den «Zusammenbruch des konventionellen deutschen Films» verkündeten und ihren «Anspruch» manifestierten, «den neuen Spielfilm zu schaffen». «Junger deutscher Film» nannte man die Werke dieser Gruppe, wobei sich bald herausstellte, dass das besonders wertvolle Prädikat jung nicht auch Qualität bedeuten musste. Die wenigen vorliegenden Werke hatten nicht jene Wirkung, die man von einer neuen Bewegung erwartet, zudem beschränkte sich ein grosser Teil der «Oberhausner» zunächst auf die politische Arbeit:

... sie brachten durch immer neuen Initiativen allmählich auch der Öffentlichkeit zu Bewusstsein, dass eine Erneuerung des deutschen Films nötig und nur mit staatlichen Hilfsmassnahmen — in gewissem Sinne gegen die etablierte Industrie — zu verwirklichen sei. Die umsichtige Strategie und Hartnäckigkeit, die dabei besonders Alexander Kluge und Hans-Rolf Strobel entwickelten, trug entscheidend dazu bei, dass 1965 zum ersten Mal drei junge Regisseure... Drehbuchprämien des Bundes von je 200 000 Mark erhielten... (Urs Jenny).

Dadurch erhielt die Bewegung auch Bedeutung; 1966 erschienen Filme wie Abschied von Gestern, Der junge Törless, Schonzeit für Füchse, Der Brief und Wilder Reiter Gmbh. Von diesen haben aber eigentlich nur zwei die ersten euphorischen Reaktionen überdauert, nach denen zu schliessen man annehmen musste, die «Nouvelle Vague» hiesse jetzt «Neue Welle»; nur zwei stellten den tatsächlichen Beginn einer Entwicklung dar, die sehr langsam vorankam und deren — kommerzieller — internationaler Durchbruch erst 1975 erfolgte. Diese zwei Filme sind Abschied von Gestern und Der junge Törless.

Abschied von Gestern

Anita: Gutes tun./Frau Treiber (Bewährungshelferin): Was ist gut? / Anita: Das Gute. / Frau Treiber: Aber was ist gut? / Anita: Das, was gut tut. / Frau Treiber: Das ist nicht ganz richtig.

Eine Frau gegen dreissig, Anita G., kam 1957 aus Deutschland nach Deutschland — «ich hatte plötzlich Angst und ging in die Westzone» — und erlebt nun dieses eine Deutschland, das sie nicht ganz begreifen kann: zum Beispiel warum stellt sie die Zimmerwirtin oder der Hotel-Portier auf die Strasse, wenn sie die Miete noch nicht bezahlt hat, weil ihr das Geld dazu fehlt. Anita G. möchte eine feste Bleibe haben, eine gutbezahlte Arbeit. Sie ist ein «normales» Mädchen, nicht besonders schön, nicht besonders aufgeweckt und nicht besonders kritisch — sie sucht Rat und findet ihn nicht, darum wird sie langsam aus dem gesellschaftlichen Betrieb herausgedrängt. Sie arbeitet als Vertreterin, sie arbeitet in einem Hotel, sie stiehlt dann und wann. Sie will an die Universität. Andere stehen an ihrem Weg, ein geiler Chef, ein Professor, ein junger Mann, mit dem sie ins Bett steigt, der Ministerialrat Manfred Pichota, mit dem sie ein geheimes Verhältnis eingeht. Pichotas Frau zu einer Freundin:

Wenn er merkt, dass ich was merke, dreht er durch... Er kann sie nirgends mit hinnehmen. Nach einiger Zeit fragt der Ministerialdirektor: Wo ist denn ihre Frau, Herr Pichota? Man sieht sie gar nicht. Ist sie verreist? Dann komme ich automatisch aus der Versenkung wieder hervor.

Anita G. zieht weiter über Brücken und Strassen und Plätze, durch grosse Städte, schaut den Flugzeugen nach, geht ins Kino. Am Anfang des Films wird sie aus dem Gefängnis entlassen, sie hatte eine Strickjacke gestohlen. Am Schluss des Films stellt sie sich der Polizei. Das Gefängnis ist für sie der einzig sichere Ort, dort wird sie nicht bedrängt, dort kann sie vielleicht ihre Eindrücke verarbeiten. Anita G. ist unfähig, die Regeln des Alltags zu befolgen, sie ist ein Ausschussprodukt des Wirtschaftswunders. 1971 erklärte Alexander Kluge:

Wir müssen unser Verständnis künstlerischer Qualität an dem orientieren, was der Zuschauer erzählt bekommen will. Das bedeutet nicht, dass wir einem angelernten und durch Werbung beeinflussten Zuschauergeschmack Kotau machen, sondern dass wir versuchen zu verstehen, was die wirklichen Interessen von arbeitenden Menschen in ihrer Freizeit sind.

Seine eigenen Werke jedoch bewegten sich nach Abschied von Gestern ziemlich eindeutig in die entgegengesetzte Richtung. Ist Abschied von Gestern noch ein «einfacher» Film, der gradlinig eine Geschichte erzählt, so sind die weiteren, besonders Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos und In Gefahr und grösster Not bringt der Mittelweg den Tod (den Kluge zusammen mit Edgar Reitz realisierte), formal so kompliziert, dass der Zuschauer kaum Zeit findet, diese Form auch zu «lesen». In diesen beiden Filmen wird die Geschichte aufgelöst, oder anders ausgedrückt durch ein Labyrinth von Szenen geführt, die sie ergänzen sollten. Zu Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos schrieb Peter Handke:

Kluge hat alles zu einem Film gemacht, was er während der Arbeitszeit an diesem Film mit Interesse gesehen und gehört hat: schön. Und es wäre so lang schön gewesen, als er nicht versucht hätte, alles, was ihm untergeordnet zukam, miteinander verbal in Beziehung zu setzen...

Eine solche Form verlangt nach einem «Schlüssel»: als In Gefahr und grösster Not 1975 in Locarno gezeigt wurde, begann der Film bei vielen Zuschauern erst dann zu wirken, nachdem sie an der nächtlichen Pressekonferenz Kluges Erklärungen gehört hatten. Das Argument, Kluges Filme stellten eben Anforderungen an den Kopf, würden Kopfarbeit provozieren, hinkt darum ein wenig, weil der Kopf diesen Anforderungen beim besten Willen (noch?) nicht gewachsen ist.

Einfacher und eindringlicher ist Gelegenheitsarbeit einer Sklavin, was vor allem Kluges Schwester Alexandra zuzuschreiben ist, die die Abtreiberin Roswitha Bronski spielt. Sie versteht es, intellektuelle Konstruktionen sinnlich umzusetzen, in ihrem Verhalten wird ein Bewusstwerdungs-prozess sichtbar, den man begreifen und dem man folgen kann. Ihre Entschlossenheit einerseits, etwas gegen die herrschenden Verhältnisse zu unternehmen und ihre Hilflosigkeit bei familiären und öffentlichen Aktionen andererseits werden verständlich durch den Lauf der Geschichte, werden verständlich durch die eigenen Erfahrungen, die man im Verhalten Roswithas wiederentdeckt. Gelegenheitsarbeit einer Sklavin ist nicht so sehr durch den Kopf, als vielmehr durch praktische Erfahrungen entstanden. Mit Der starke Ferdinand nun hat Kluge erstmals einen formal konventionellen Film gemacht. Aber was früher zu intellektuell war, ist jetzt beinahe zu einfach, der Humor von Der starke Ferdinand ist mir zu schwerfällig. Ob der Film bloss der etwas missglückte Versuch eines Intellektuellen ist, sich verständlicher mitzuteilen, oder ob sich daraus eine vertretbare Form von politischem Kino für ein breites Publikum entwickelt, werden erst weitere Filme zeigen.

Filmpolitische Zwischenbemerkungen

Im Dezember 1967 verabschiedete der Bundestag das «Gesetz über Massnahmen zur Förderung des deutschen Films»:

... jeder Hersteller eines abendfüllenden Films, der im Laufe von zwei Jahren eine halbe Million DM Einnahmen erzielt hat, bekommt 150 000 DM für die Produktion eines neuen Films zur Verfügung gestellt. Filme, die von der Filmbewertungsstelle (FBW) ein Prädikat («Besonders wertvoll» oder «Wertvoll») erhalten haben, brauchen lediglich 300 000 DM einzuspielen... (Wilfried von Bredow).

Wir sind seit zwei Jahren durch das Filmförderungsgesetz und die damit verbundene Stimmung der Gesamtbranche, also durch den Verödungsprozess im gesamten deutschen Film blockiert. Weder der Untergrundfilm noch der Jungfilm, noch der Altfilm sind irgendwie bewegungsfähig... Im Moment haben wir eine Situation, die sich automatisch gegen unabhängige Filme richtet. Das ist nicht böser Wille der Theaterbesitzer oder der Verleiher. Vielmehr haben wir bei einem sich verengenden Markt eine Überproduktion von Filmen um mindestens das Doppelte gegenüber 1966. Damals konnten wir unsere Filme auf dem Markt amortisieren. Das ist durch die Überkonjunktur, die das Filmgesetz ausgelöst hat, anders geworden. Der Verleih, der ja auch selber Produzent der meisten Filme ist, und der seinen Umsatz steigern muss, um an weiteren Filmförderungen teilzunehmen, muss am Abspielen seiner eigenen Filme, also der von ihm produzierten Filme interessiert sein. Er kann sich gar nicht mit den unabhängigen Filmen beschäftigen. (Alexander Kluge).

Diese Situation hat zur Gründung des «Filmverlag der Autoren» geführt, des heute wichtigsten Produzenten und Verleihers deutscher Filme.

Denn wir hätten wissen müssen, wie es kommt. Wir haben es gewusst und uns über unser Wissen hinwegtäuschen lassen von der Konzilianz ihrer Herren, die taten, als würden sie uns ernst nehmen. Autoritäten Hessen sich zu uns herab — und wir blickten in Gleichberechtigungslust zu ihnen hinauf. Dann haben sie uns natürlich reingelegt, was ihr gutes Recht war... Wie sich unser Bewusstsein verändert hat, so werden sich unsere Filme verändern... Der Lernprozess dieses Jahres: Die Einsicht in unser Fehlverhalten, die Erkenntnis der Repression und das Wissen, dass wir dagegen aufbegehren können... Noch nie gab es so viel Freiheit für unsere Arbeit, weil wir noch nie die niederen Motive ihrer Behinderer so klar erkannt haben. (Hans-Rolf Strobel)

Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta

Im Werk von Schlöndorff äussert sich, deutlicher als bei anderen Filmemachern, die ähnliche Versuche unternommen haben, der, wie es scheint, unlösbare Widerspruch zwischen kommerziellem Schaffen und kritischer Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Während sich etwa Roland Klick und Hans W. Geissendörfer mit ihren letzten Filmen Lieb Vaterland magst ruhig sein und Sternsteinhof endgültig auf die eine, geschäftlich lohnendere Seite geschlagen haben, bleibt Schlöndorff mit jedem Film erneut derjenige, der den Widerspruch doch zu lösen versucht. (Schlöndorff hat als erster der jungen deutschen Filmemacher mit amerikanischen Firmen zusammengearbeitet, was ihm bösartige Angriffe einbrachte.) Darin ist er den Franzosen Truffaut und Malle nicht unähnlich. Bei ihnen ist er auch in die Lehre gegangen, er hat als Regieassistent gearbeitet, zwar nicht bei Truffaut, aber bei Louis Malle, Alain Renais und Jean-Pierre Melville (ihm ist Der Fangschuss gewidmet).

Schlöndorff:

Ich wollte als Kind mal Zirkus machen. Da hat man mir erklärt, dass das keine zeitgemässe Sache mehr ist. Also bin ich zum Film gegangen... Ich bin zuerst mal Kinogänger, und wenn ich einen Film mache, sehe ich ihn auch mit den Augen eines Kinogängers. Ich glaube, dass das Kino nur als populäres Medium, als Kintopp, eine echte Berechtigung hat.

Nach Der junge Törless hat man ihm vorgeworfen, er habe es sich mit der Vorlage von Musil allzu einfach gemacht. Ihn interessierte aber weniger die getreue Wiedergabe als vielmehr der «Versuch, eine Atmosphäre und Verhaltensweisen an sich darzustellen». Auch bei Mord und Todschlag kann es nicht die Geschichte gewesen sein, die ihn vor allem interessierte. In der Nacherzählung tönt diese sogar recht lapidar: Hans und Marie haben über ein Jahr zusammengelebt. Hans meint: jetzt gehen wir noch einmal ins Bett und dann hau ich ab. Marie widersetzt sich dem und erschiesst ihn mehr zufällig. Um die Leiche wegzuschaffen, heuert sie zwei Männer an. Diese schleppen die Leiche, in einen Teppich gerollt, zu einer Baugrube.

Brian Jones schrieb die Musik zum Film, damit wäre er auch schon ziemlich genau festgelegt: Mord und Totschlag ist ein Popfilm, ein Film über Vertreter jener Generation, deren Eltern düstere Zeiten durchgemacht haben, die die Freiheit, die sie haben, nicht zu nutzen wissen, da sie dies auch nie gelernt haben. Gelernt hingegen hat diese Generation, dass Geld Unabhängigkeit bedeute. Ihre Lebensweise ist eine direkte Reaktion auf das Elternhaus. Marie erzählt:

Ich habe mal einen Film gesehen, von einer Frau, ich glaube, es war die Ava Gardner, die ging immer barfuss, wollte keine Schuhe tragen. Erst war sie zu arm, um welche zu kaufen, dann wollte sie nicht mehr. Bei mir ist das umgekehrt. Als Kinder durften wir immer nur in Strümpfen spielen, weil unter uns zu Hause der Hausmeister wohnte, und meine Mutter wollte nicht, dass er gestört wird. Seitdem trage ich am liebsten Stiefel.

Diese Generation empfindet den Alltag als langweilig, die Kinder von Coca Cola fühlen sich unwohl. Darum muss das Aufkommen der «Beatles» oder der «Rolling Stones» auf manchen Jugendlichen wie eine Erlösung gewirkt haben. Pop, das hiess, seinen Gefühlen Ausdruck verleihen, etwas anderes wollen. Wie dieses «andere» auszusehen hätte, das konnten sich vor 1968 weder die Figuren aus Mord und Totschlag, noch die meisten Jugendlichen vorstellen. Nach 1968 wussten wenigstens viele genau, was sie nicht wollen: die gegenwärtigen Verhältnisse.

Sind Mord und Totschlag und Der Fangschuss unter Schlöndorffs Filmen diejenigen, die am weitesten den beschriebenen Widerspruch zu lösen verstehen, ist Die Moral der Ruth Halbfass derjenige, der am eindeutigsten auf der kommerziellen Seite steht, so ist Strohfeuer das extremste Beispiel der anderen Seite. Hier spätestens muss Margarethe von Trotta erwähnt werden. Wie weit die Arbeits- und Lebenspartnerin von Schlöndorff (seit ungefähr 1969) in Strohfeuer eigene Erfahrungen beschreibt (sie schrieb mit Schlöndorff zusammen das Drehbuch und spielt die Rolle der Frau, die am Anfang aus der Ehe flüchtet und am Schluss in einer anderen Ehe landet), ist eine zwecklose Frage. Denn die Erfahrungen der Margarethe von Trotta sind die Erfahrungen der meisten Frauen:

Ein Mädchen wird nicht eine Kindheit lang zu Passivität, Folgsamkeit und Unterordnung erzogen und kann dann als Erwachsene ohne weiteres fähig sein zu Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung. (Trotta/ Schlöndorff).

Strohfeuer ist ein Frauenfilm, einer, der mehr aussagt über die Situation der Frau als manches agressive, auf eine naive Art männerfeindliche Manifest der Frauenbefreiungsbewegung. Strohfeuer zeigt genau, warum eine Frau, die sich befreien möchte, scheitern muss. Und in der Beschreibung der Ursachen des Scheiterns, in der Beschreibung der miserablen Situation, in der Beschreibung der Hilflosigkeit, in all dem äussert sich auch schon der Wunsch nach Veränderung, ja die Aufforderung zur Veränderung. Strohfeuer beschreibt die Erfahrungen einer Frau und fordert damit andere Frauen auf, ihre eigenen Erfahrungen miteinander zu besprechen.

Die Hauptfiguren in den beiden letzten Schlöndorff-Filmen Die verlorene Ehre der Katharina Blum und Der Fangschuss sind auch Frauen. In beiden Filmen werden sie zuerst entwürdigt und reagieren dann mit einer radikalen Tat. Katharina Blum erschiesst den schmierigen Reporter und Sophie von Reval schliesst sich den Revolutionären an. Sonst aber verbindet die beiden Filme nicht sehr viel. Der erste ist zu sehr im recht engen Rahmen des konventionellen Action-Kinos angelegt, ist ein Polit-Thriller, in dem man schon nach kurzer Zeit klipp und klar gesagt bekommt, auf welcher Seite man zu stehen, mit welcher Figur man sich zu solidarisieren habe, in dem man auf die Dauer nichts anderes mehr empfindet, als eine blinde Wut, zu deren nützlichen Umsetzung der Film kaum anregt. Es ist eine Illusion anzunehmen, ein Film, der die richtige, die linke Seite vertrete, sich aber zur Vermittlung seiner Ideen der formalen Muster des kapitalistischen Trivialfilms bediene, sei ein brauchbares Mittel zur Bewusstseinsveränderung.

Ganz anders im Fangschuss. Da sieht man eine Figur, Sophie, sich entwickeln. Nicht nur, dass Erich von Lhomond, nachdem sie ihm ihre Liebe gestanden hat, darauf nicht reagiert, sondern auch die reaktionäre Haltung des Offiziers treiben Sophie dazu, das Lager zu wechseln. Sie scheitert zwar, aber sie scheitert im Kampf, sie ist eine Revolutionärin: einerseits zwingt sie den Mann, der ihre Offenheit mit dem Besuch bei einer Hure verraten hat, sie zu vernichten. Damit entlarvt sie ihn als ihren Feind. Andererseits versteht sie es, die Unterdrückung im Privaten als Teil einer allgemeinen Unterdrückung zu begreifen. Mit Der Fangschuss haben Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta ihren stärksten Film geschaffen. Einen formal so perfekten Film gab es im neueren deutschen Filmschaffen bisher nicht zu sehen. Und einen — trotz dem historischen Hintergrund — aktuelleren nur selten.

Ich glaube, jetzt extremisiert sich der Film immer mehr, und das finde ich sehr richtig.

Volker Schlöndorff

Rainer Werner Fassbinder

Sein Werk lässt sich einteilen: bis zu Warnung vor einer heiligen Nutte in radikale Filme, nachher — abgesehen vom Literaturfilm Effie Briest — in farbige Melodramen.

Im November 1968 schrieb Ulrike Marie Meinhof in «konkret»:

Das progressive Moment einer Warenhausbrandstiftung liegt nicht in der Vernichtung der Waren, es liegt in der Kriminalität der Tat, im Gesetzesbruch... Das Gesetz, das da gebrochen wird durch Brandstiftung, schützt nicht die Menschen, sondern das Eigentum. Das Gesetz bestimmt, dass fremdes Eigentum nicht zerstört, nicht gefährdet, nicht beschädigt, nicht angezündet werden darf. Die da Schindluder treiben mit dem Eigentum, werden durch das Gesetz geschützt, nicht die, die Opfer dieses Schindludertreibens sind, nicht die, die den Reichtum schaffen durch Arbeit und Konsum, sondern die, die ihn sich gemäss der Gesetzgebung im kapitalistischen Staat rechtmässig aneignen.

Die Wut, die er habe, wolle er auf andere übertragen, erklärte er 1969 nach dem Erscheinen von Liebe ist kälter als der Tod. Fassbinders frühe radikale Filme sind ohne Liebe für die Menschen, die sie zeigen, und sie sind schmucklos. Ihre Lieblosigkeit und ihre Hilflosigkeit, ihre Naivität auch sind Zeichen der Verzweiflung — diese radikalen Filme zerstören, so wie das System, auf das sie reagieren, ihre Macher zerstört. Es ist nicht wichtig — sondern mehr typisch —, dass die Schauspieler meistens schlecht sind, billige Zitate mythischer Kinofiguren; es ist nicht wichtig, was die Filme erzählen, besonders die Gangsterfilme unter ihnen, die nicht mehr sein können als die Wiedererzählung von amerikanischen und französischen Kinogeschichten, die ja längst Teil sind der von Fassbinder beschriebenen Wirklichkeit. Wichtig ist, was die Filme ausdrücken: die Sprachlosigkeit, die Unfähigkeit zur Kommunikation, die Unfähigkeit, das eigene Leben zu verändern, Frustrationen. Die Menschen kommen nicht mehr zueinander, Rickys Bruder (in Der amerikanische Soldat) erkennt die Liebe zu seinem Bruder erst, als dieser erschossen in der Bahnhofsunterführung liegt. Ein späterer Held Fassbinders, Franz in Faustrecht der Freiheit, liegt am Schluss auch tot in der Bahnhofsunterführung. Er wurde aber nicht erschossen, sondern starb an einer Überdosis Valium und niemand wirft sich liebend über ihn; er wurde ausgebeutet und dann fallengelassen, er suchte nach Liebe und fand nur Hass, sein Selbstmord ist der letzte Schritt in die Einsamkeit.

Wenn Herr R. Amok läuft, so ist das ein privater Kaufhausbrand, wenn Fassbinder sechs Jahre später Der Müll, die Stadt und der Tod schreibt, zündet er damit eine ganze Stadt an: Frankfurt. (In dem nach Fassbinders Vorlage entstandenen Schatten der Engel von Daniel Schmid heisst es dann nur noch «die Stadt».) Die Verzweiflung, die man durch die farbigen Melodramen aufgelöst glaubte, die man in Der Händler der vier Jahreszeiten in eine echte Liebe zu den Figuren umgesetzt sah, hat nur andere Formen des Ausdrucks angenommen.

Am Anfang der Melodramen steht Fassbinders Begegnung mit Douglas Sirk, dem im Tessin lebenden amerikanischen Regisseur deutscher Abstammung, dessen Filme, trotz neuerer europäischer Amerikafreundlichkeit, bei uns noch immer zu wenig ernst genommen werden. Der Händler der vier Jahreszeiten erinnert darum besonders an Sirk, weil es der einzige Fassbinderfilm bleibt, der die Menschen nicht verachtet, sondern ihre Gefühle mit viel Verständnis vermittelt. Der Händler der vier Jahreszeiten zeigt arbeitende, arme und unglückliche Menschen nicht als exotische Objekte und nicht als erfundene Figuren zur Bebilderung einer Theorie. Der Film erzählt eine melodramatische Geschichte, was aber nicht heisst, dass die Figuren künstlich seien. Fassbinder spricht von den Gefühlen seiner Figuren wie diese selbst davon sprechen: in einer Groschenromansprache, in der Sentimentalität als etwas durchaus Positives gilt. Vergleicht man Klicks ärgerlichen Lieb Vaterland magst ruhig sein — Klick behauptet, er spreche die Sprache des Volkes — mit Der Händler der vier Jahreszeiten, so erkennt man, wie überaus schwierig es ist, diese «Sprache des Volkes» richtig wiederzugeben, wie rasch ein Film diejenigen, deren Sprache er vorgibt zu sprechen, ausbeutet und zu kommerziellen Belustigungsobjekten umfunktioniert.

Mit weniger Liebe oder mit viel künstlicher Liebe behandelt Fassbinder seine Figuren in den weiteren Filmen mit Angst essen Seele auf ist er ziemlich arg in den Kitsch abgerutscht. Vielleicht ist dieser Film derjenige, der am weitesten das erreicht, was Fassbinder meint, wenn er sagt:

Ich will einen Film machen, nicht den deutschen Hollywoodfilm, sondern ein Film, der so ist wie ein Hollywoodfilm, nämlich, dass er so unterhaltend ist wie ein Hollywoodfilm und trotzdem etwas über die Realität sagt.

Martha ist unter den Melodramen das erste Beispiel extrem verzweifelter Äusserung. Die Entwicklung von der ersten Begegnung Marthas mit Helmut Salomon im Hof der deutschen Botschaft in Rom bis zum Schlussbild der für immer an den Rollstuhl gebundenen Ehefrau wird zum ergreifenden Dokument grässlichster Unterdrückung. Es gibt in Martha Szenen, die diese Unterdrückung auf die einfachste Art zeigen und damit den Schmerz, den sie ausdrücken, sehr direkt an die Zuschauer herantragen. Eine solche Szene ist jene, in der sich Karlheinz Böhm im Hotelzimmer über die sonnenverbrannte Margrit Carstensen wirft.

Wurde die Verzweiflung in den radikalen Filmen mit unkontrollierter Wut dargestellt, so wurde sie nun in eine eigenwillige, filmisch perfekte, richtigerweise publikumswirksamere Form verpackt. Fassbinder die Verachtung seiner Figuren vorzuwerfen oder sein Selbstmitleid (in Faustrecht der Freiheit und Schatten der Engel) ist eine, die schlechtere, ungerechtere Möglichkeit der Auseinandersetzung mit seinem Werk. Die andere ist die, seine Reaktionen auf die Realität mit den eigenen zu vergleichen, ist auch die, gegen die Verachtung anderen gegenüber und vor allem gegen die mörderische Selbstverachtung anzugehen: die Antwort darauf, ob Der Müll, die Stadt und der Tod wirklich das Welttheater ist oder eine schreckliche Vision bleibt, ist noch offen.

Heimatfilme

Er habe einen Heimatfilm gedreht, weil dies das einzige in Deutschland geborene Genre sei, schreibt Hans W. Geissendörfer zu seinem Sternsteinhof; dieses Genre sei nur «ungeheuer missbraucht» worden. Geissendörfers Überlegung ist nicht besonders neu, schon Anfangs der siebziger Jahre haben junge deutsche Filmemacher sich in diesem zwar verlockenden, jedoch selten befriedigenden Genre versucht: Mathias Kneissl von Reinhard Hauff, Der plötzliche Reichtum der armen Leute von Kombach von Volker Schlöndorff, Jagdszenen aus Niederbayern von Peter Fleischmann und Ich liebe dich, ich töte dich von Uwe Brandner. Dieser Film löst sich unter all den neueren Heimatfilmen am meisten von der Tradition. Ich liebe dich, ich töte dich ist mehr in Liebesfilm und nicht einmal in dieser Gattung schildert er sonst übliche Verhältnisse: die Geschichte ist die Liebesgeschichte zwischen zwei Männern. Ich liebe dich, ich töte dich beschreibt eine Männerfreundschaft, wie man sie aus manchem amerikanischen Western kennt, nur dass Brandner seine Figuren nicht mit jener zweifelhaften Ehre ausstattet, die die amerikanischen Western häufig unerträglich macht. Im Western gilt die Zugehörigkeit zu einer Männergemeinschaft als höchstes Privileg. Der Western hat zu dieser Gemeinschaft selten eine kritische Einstellung. Brandner beschreibt eine Männergemeinschaft in einer Gesellschaft, in der es nicht mehr nur ein Privileg ist, ein Mann zu sein, sondern auch eine Selbstverständlichkeit, dass die Frau eine untergeordnete oder überhaupt keine Rolle spielt. In dieser Männergemeinschaft gilt die Frau als blosses Objekt, als Ware, zum gelegentlichen Gebrauch bestimmt. Der andere Mann hingegen stellt einen gleichberechtigten Partner dar, und da Liebe nur zwischen Gleichberechtigten entstehen kann, ist sie in einer Männergemeinschaft nur zwischen Männern möglich. Nun leben wir aber in einer Gesellschaft, deren Moralkodex Liebe zwischen Männern untersagt — viele Männer verdrängen daher ihre homosexuellen Gefühle. Brandner:

Bei der Abwicklung der Geschäfte zwischen Männern spielt einfach so viel Irrationales mit und auch zu einem grossen Teil die latente Homosexualität. Der ganze Faschismus ist, abgesehen von all diesen ideologischen Aspekten, eine unglaubliche Männerbündelei.

Während der Western die Männergemeinschaft bestätigt, beschreibt Brandner ihre ekelhaften Auswirkungen Zurück zum Heimatfilm. Etwa zur gleichen Zeit entstanden sind Sternsteinhof und Paule Pauländer von Reinhard Hauff. In Sternsteinhof, nach dem gleichnamigen, umfangreichen Roman von Ludwig Anzengruber entstanden, ist alles ein bisschen zu schön und zu künstlich, um wahr zu sein. Geissendörfer scheint sich die Distanz zu den Filmen, die das Genre «ungeheuer missbraucht» haben, mehr einzubilden. Reinhard Hauff hingegen zeigt in Paule Pauländer keine Kunstfiguren, seine Bilder und seine Geschichte hat er nicht in alten Filmen und dicken Romanen gefunden, sondern dort, wo sie auch wirklich zu finden sind, in der deutschen Landschaft, in der «Heimat». Ein Stadt-Mädchen, das aus dem Heim kommt, bei einer Tankwartsfamilie auf dem Land lebt, ein freches Ding, das im Leben nimmt, was sich ihm anbietet, das stiehlt, um einem Freund zu helfen und das schliesslich zu irgendeinem Typ ins Auto steigt und abhaut; ein Bauernjunge, der sich von seinem Vater kaputtmachen lässt und eines Tages in der Verzweiflung mit einer Schaufel auf ihn einschlägt — von solchen Menschen erzählen die konventionellen Heimatfilme nichts. Die konventionellen Heimatfilme — und dazu zähle ich auch Sternsteinhof — beschreiben nicht die «Heimat» und ihre Bewohner, sondern den mystischen Begriff, den besonders die Städter pflegen. In Paule Pauländer wollen die Menschen, wenigstens die jüngeren, weg aus ihrer «Heimat». Der ältere Pauländer-Sohn Heinrich wird Schützenkönig, die Familie Pauländer wird gelobt, bald darauf zieht Heinrich in die Stadt. Nach dem Kampf mit seinem Vater am Schluss des Films rennt Paule durch die weiten Felder weg vom elterlichen Hof. In Paule Pauländer hat die «Heimat» keine Schönheit mehr, die Bauern müssen sich verkaufen an eine Fleischfabrik und für diese Schweine mästen.

Der Film entstand nach einem Drehbuch von Burkhard Driest. Er hatte auch schon das Buch zu Die Verrohung des Franz Blum geschrieben. Die Idee zu Paule Pauländer hat er im Gefängnis gefunden; 1962 erzählte ihm ein Bauernsohn sein Leben. Vater und Sohn Pauländer und das Heimmädchen Elfi, die drei Hauptdarsteller, werden von Laien dargestellt. Nach ihnen wurde sehr lange gesucht, in Schulen, unter jungen Bauern, auf Sport- und Festplätzen, in Diskotheken. Hauff und Driest haben mit Bauern gesprochen, sie beobachtet, mit ihnen gelebt, sie haben die «Heimat» erfahren.

Man merkt, wie in Deutschland speziell der Film, der doch ein realistisches Medium ist, immer so herumgemogelt hat um die Realität. Das ist ein typisch deutsches Merkmal, dass es den Realismus mit einer kleinbürgerlichen Phantasie zugedeckt hat.

In Zukunft möchte ich versuchen, einen realistischen Film zu machen. Jetzt nicht irgendwie einen naturalistischen oder ideologisch geprägten, sondern ein Film, der sehr viel Kraft entwickelt durch das, was er im Moment transportiert und zwar sehr viel realistische Kraft, die man auch in Gedanken sofort vergleichen kann und sofort anwenden kann mit seinem eigenen Leben, seinen eigenen Erfahrungen und Erlebnissen. (Uwe Brandner)

Made in Germany und USA

Rudolf Thomes frühere Filme gehören zur «Münchner Schule». Unter diesem Begriff lassen sich Filme vereinen wie Rote Sonne von Thome, 48 Stunden bis Accapulco von Klaus Lemke und die Kurzfilme sowie Summer in the City von Wim Wenders.

Inhaltlich gab es schon Zusammenhänge beim Münchner-Stil, diese Autofahrt- und Musikzusammenhänge zum Beispiel. Ich glaube, dass die Musik ein richtiger inhaltlicher Zusammenhang ist... viele von uns hätten wohl Musik gemacht, wenn sie nicht Filme gemacht hätten... Gangster-Geschichten gab es viele, Filme mit Pistolen. Ob das etwas ist, etwas inhaltlich-gemeinsam Fassbares, das ist mir nicht ganz klar. Ich glaube, überall wo neu produziert wird, wo Leute anfangen Filme zu machen, dass sich die immer unheimlich schnell an den Gangster-Film halten. Weil irgendwie diese Pistolen und dieser Habitus das ist, was man am besten kennt und am leichtesten zitieren kann und was irgendwie so am einfachsten zu handhaben ist. (Wim Wenders).

Die beiden langen, schwarz-weissen Thomefilme Made in Germany und USA und Tagebuch sind typische Beispiele jener sich seit 1972 immer mehr verstärkenden Tendenz zur Selbstdarstellung. Der bald erloschenen revolutionären Glut von 1968 folgte die Resignation. Einige schlössen daraus, dass der einzig mögliche Weg der in die gewaltsame Aktion sei, andere stürzten sich in die theoretische politische Arbeit und wurden frustrierte Sektirer, noch andere schliesslich begannen zu begreifen, dass eine Veränderung erst einmal im persönlichen Bereich einzusetzen habe. Damit gemeint sind die von Harald Szeemann 1972 an der «documenta» präsentierten Individuellen Mythologien, Peter Handkes Der kurze Brief zum langen Abschied, La maman et la putain von Jean Eustache und eben die langen Thomefilme. Auch wenn diese beiden Filme manchmal recht unbeholfen wirken und einige unnötige Längen haben, auch wenn, besonders im Tagebuch, die Darsteller sich ein wenig zu natürlich geben und ihr Spiel dadurch aufgesetzt wirkt, gehören sie dennoch zu den ehrlichsten Versuchen, im Kino persönliche Probleme darzustellen. Der Unterschied zwischen dem Eustachefilm und denen von Thome ist, dass im ersten eine kinogerechte Sprache gesprochen wird und in den anderen die unveränderte Sprache des Alltags, eine gefundene, nicht erfundene Sprache. Ein weiterer Unterschied ist der, dass man bei Eustache ständig spürt, hier wird eine Geschichte erzählt, dass man hingegen bei Thome glaubt, dabei zu sein. «Thome versetzt den Zuschauer wirklich in die Situation eines... Lauschers», schreibt Christa Maerker zu Made in Germany und USA, eines «Voyeurs» in positivem Sinne. Wenn Fassbinders Filme Zeichen der Verzweiflung sind, so sind die von Thome Zeichen der Hoffnung. Einer Hoffnung, die sich nicht von Utopien nährt, sondern die direkte Folge ist der Auseinandersetzung mit sich selbst. Ohne diese persönliche Auseinandersetzung gibt es keine politischen Veränderungen. Thomes lange Filme vermitteln die wichtigste Einsicht der Zeit nach 1968.

Shirins Hochzeit

Von verschiedenen Frauenfilmen war bisher die Rede, Helma Sanders’ Film ist der eindringlichste unter ihnen. Shirins Hochzeit ist ein, im Off gesprochener, Dialog zwischen einer deutschen Filmemacherin und einer türkischen Fremdarbeiterin. Der erste Teil zeigt Shirins Heimat; ihr Vater wird verhaftet, weil er einen Stein gegen den Gutsverwalter geworfen hat; später wird Shirin, deren Geliebter in Deutschland arbeitet, an den Gutsverwalter verkauft. Sie flüchtet und kommt nach einer langen Reise nach Köln. Dort lebt sie mit anderen Türkinnen in einem Frauen-Wohnheim, arbeitet in der Fabrik, wird von den männlichen Aufsehern belästigt und sucht am Sonntag in einer Diskothek ihren Geliebten. Dann wird sie entlassen und läuft an einen Zuhälter heran der seine Mädchen in der Nacht in Fremdarbeiterbaracken einschmuggelt. Shirin will flüchten und wird dabei erschossen. Der erste und der zweite Teil zeigen beide die doppelte Unterdrückung der Frau — sie ist billigste Arbeitskraft und einträgliches Sexualobjekt. Der Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Teil besteht darin, dass Shirin in ihrer Heimat an einen Reichen, als eine Art Sklavin in eine höhere Klasse verkauft wird und in Deutschland an unzählige frustrierte Fremdarbeiter: in Deutschland muss auch ihr Geliebter für sie bezahlen. Shirins Hochzeit zeigt aber auch, warum ein Fremdarbeiter sich niemals wohl fühlen kann In der Fremde; am Schluss sagt die Deutsche zur Türkin: du hast in meinem Land nur Beamte und Zuhälter kennengelernt.

Auf Biegen oder Brechen

Hartmut Bitomsky ist Redaktor der «Filmkritik». Diese seit 1957 erscheinende Zeitschrift ist zweifellos die wichtigste in deutscher Sprache. Man würde glauben, dass eine solche Zeitschrift eng mit der Produktion im eigenen Land verbunden ist. Das ist die «Filmkritik» jedoch seit einigen Jahren nicht mehr. Die neuen deutschen Filme werden nur selten besprochen — von Ausnahmen wie Straub, der nach jedem Film beinahe ein ganzes Heft gewidmet bekommt, abgesehen. Heute «Filmkritik» lesen heisst sich mit Theorien herumschlagen, die nicht dem Film dienen, sondern Teile sind eines elitären Gedankengerüstes, zwischen dem ein Haus entsteht, in dem sich keiner mehr zurechtfinden wird.

Erstaunlich ist darum, dass Bitomsky einen «einfachen» Film gedreht hat, den er einen «Western mit Autos» nennt. Der Automechaniker Charly Zerbel will Ingenieur werden. Er trifft ein Mädchen, dessen Freund Autoschieber ist. Charly steigt ins Geschäft ein, verliert dabei bei einem Unfall einen Freund und wird zusammengeschlagen. Mit den Ausweisen seines toten Freundes baut er sich eine neue Existenz auf. Die Geschichte verläuft sich zu oft in langen Autofahrten, und die Sonne geht ein bisschen zu schön auf und unter. Und einmal mehr zeigt sich die Schwierigkeit, Arbeiter so zu zeigen, dass Arbeiter sich in ihnen wiedererkennen. Dennoch ist Charly Zerbel, der misslungene Ingenieur, ein Verwandter von Anita G. und vom Händler der vier Jahreszeiten. Er scheitert darum, weil er die Regeln, die ihm einen untergeordneten Platz zuweisen, nicht befolgen will. Sein Widerstand aber betreibt er mit den gleichen Mitteln wie die andere Seite: mit Betrug. Er erkennt seine Feinde nicht, sondern ahmt sie nach: die Freiheit der Autofahrt ist eine momentane, das Abenteuer der illegalen Aktion ist eine Flucht.

Berlinger

Bernhard Sinkel und Alf Brustellin machten mit ihren beiden Filmen Lina Braake und Berlinger ganz bewusst «Kino». Sie geben die Beeinflussung durch das amerikanische Kino auch offen zu, wobei sich diese Beeinflussung mehr auf die amerikanischen Filme beschränkt, die die Geschichte Hollywoods leider nicht geschrieben haben. Was Fassbinder sehr schön sagt, bisher aber unbefriedigend ausführte, scheinen Sinkel und Brustellin leichter zu schaffen: ihre Filme sind, wenn man das überhaupt so sagen kann, kritische Unterhaltungsfilme. Lina Braake, das verspielte Portrait einer alten Dame, die sich nicht ins Altersheim abschieben lassen und dort langsam verdorren will, ist vielleicht ein wenig zu leicht und zu märchenhaft, an einigen Stellen passt sich der Film zu deutlich dem mittelmässigen Publikumsgeschmack an. Bei Berlinger ist das anders. Zwar sei der Film, wie die Autoren sagen, eine Art konkret gewordener Kindertraum, was sich vor allem auf die Fliegerei Berlingers bezieht, die mit stimmungsvollen Bildern zelebriert wird, aber er ist zudem auch ein «deutsches Abenteuer», die Verarbeitung der jüngeren deutschen Geschichte. Berlinger, der Industriellensohn, steigt aus seinem Erbe aus, nicht die Produktion von Waren interessiert ihn, sondern die Freiheit, die ihm die Weite des Himmels verspricht. Roeder, sein Spielkamerad aus der Jugendzeit, will Karriere machen, Geld verdienen, Wirtschaftswunder erzwingen. Berlinger wird zum mürrischen Anarchisten, Roeder zur kaltblütigen Bestie. Am Schluss sind sie beide erledigt: nachdem Roeder Berlinger mit allen Mitteln dazu bringen wollte, ihm sein Grundstück zu verkaufen, um darauf eine moderne Überbauung zu erstellen, entzieht sich Berlinger der Entscheidung, indem er sich in sein Flugzeug setzt. Roeders Projekt fällt unter der schweren Belastung der Schulden zusammen, Berlinger stürzt ab und stirbt.

Zwischenbemerkungen über die Kinosituation

Zuerst sollte nur die Filmzerstörungsindustrie geschildert werden, das heisst jene Hauptabteilung der hiesigen Filmbranche, die dafür sorgt, dass in den Kinos statt Filmen möglichst bloss Filmattrappen vorgeführt werden, und Filme nur, wenn sie zuvor kaputtsynchronisiert und durch die Reklame unkenntlich gemacht worden sind. Es ist die Hauptabteilung, die auch dafür sorgt, dass die Zeitungsseiten mit den Kinoanzeigen möglichst fies ausschauen, dass es immer weniger Kinos gibt und immer weniger Leute ins Kino gehen. ... Durch das Fernsehen sind Kino und Film verändert. Was sie zerstört, sind hier spezifische Eigenschaften des hiesigen Wirtschaftssystems selbst. Wie im vorigen Jahrhundert viele Siedler in Nordamerika einfach Holz geschlagen haben, das Land nur einfach ausgeplündert, bis es versteppt war, so ist überhaupt die freie Marktwirtschaft besser dafür eingerichtet, eine Sache, eine Möglichkeit auszuplündern als dafür, sie zu nutzen. Es scheint allerdings, dass dies in Westdeutschland und wiederum in der Filmbranche, besonders so ist. Die Film- und Kinobranche hier, als ganze, hat, seit sie wieder angefangen hat, nichts getan als ausgeplündert... (Helmut Färber).

Die Besitzerin der «Weissen Wand» am Schluss von Im Lauf der Zeit:

Und deshalb kann ich diese Filme nicht zeigen, die nur noch Ausbeutung sind, von allem, was man in den Augen und Köpfen der Menschen überhaupt noch ausbeuten kann... Aber ich lass mich nicht zwingen, Filme zu zeigen, wo die Menschen wie erstarrt und betäubt von Dummheiten herausstolpern. Wo ihnen jede Lust am Leben vernichtet wird. Wo ihnen jedes Gefühl von sich und der Welt absterben muss...

Im Lauf der Zeit

Der Hausherr: Ich möchte kurz noch von der Einsamkeit hier in Deutschland sprechen. Sie scheint mir verborgener und zugleich schmerzhafter zu sein als anderswo... Die Angst gilt hier als Eitelkeit oder Schande. Deswegen ist die Einsamkeit in Deutschland maskiert mit all diesen verräterischen Gesichtern, die durch die Supermärkte, Naherholungsgebiete, Fussgängerzonen und Fitnesszentren geistern. Die toten Seelen von Deutschland... Ein Junge hat doch keine Angst, sagten meine Eltern zu mir. Ich weigere mich, meine Angst zu überwinden.

Die Einsamkeit und die Angst, von der in Falsche Bewegung die Rede war, scheinen vorerst auch die beiden Männer von Im Lauf der Zeit, Kamikaze und der King of the Road, nicht überwinden zu können. Langsam und verbunden mit vielen Schwierigkeiten, behindert von eigenbrödlerischen Launen, von gegenseitigem Misstrauen, lernen die beiden Männer sich dem anderen wieder mitteilen. Es ist ein mühsamer Prozess, der sich da abspielt, die persönlichen Probleme, die jeder in die Freundschaft einbringt, sind nicht von heute auf morgen, auch nicht gemeinsam, abzubauen. Der Austausch von Worten und Gedanken, der jahrelang unterbrochen war, muss zuerst wieder erprobt werden, miteinander sprechen ist keine einfache Sache. Die Einsamkeit wird Im Lauf der Zeit umgesetzt in die Bereitschaft, einander näher zu kommen — auf dem Zettel, den Kamikaze an die Tür der amerikanischen Grenzbeobachtungsstation heftet, steht: Es muss alles anders werden. Die Reise durch die deutsche Landschaft, die die Menschen in den Filmen von Wim Wenders unternehmen, der Ausbruch aus der Enge, die man nicht mehr ertragen kann, die Suche nach etwas, worauf man Lust verspürt, was einem anregt, führte zu diesem kleinen Zettel.

Die beiden Männer haben sich verfahren und sind an eine Grenze gestossen und trennen sich. Sie trennen sich aber nicht, weil sie nicht mehr miteinander auskommen, sie trennen sich nicht, weil sie resigniert sind oder weil sie einmal mehr nicht gefunden haben, wonach sie suchten. Sondern darum, weil sie sich ihrer Gefühle bewusstgeworden sind, Gefühle, die sie an andere herantragen werden — sie treten nun die lange Reise aus der Einsamkeit zurück in die Gemeinschaft an.

EN ROUTE ENTRE OBERHAUSEN ET LA ZUGSPITZE

Les films de réalisateurs tels que Kluge, Schlöndorff, Fassbinder, Hauff, Brandner, Thome, Sanders, Bitomsky, Sinkel, Brustellin et Wenders ont une certaine ressemblance. Ils décrivent tous l'Allemagne et des Allemands: à la maison, en route dans leur propre pays ou à l'étranger. Et ils essayent pour la plupart, en utilisant des formes auxquelles le public est habitué, de porter à la connaissance de ce public des idées avec lesquelles il est insuffisamment familiarisé. Il est frappant aussi que bon nombre d'entre-eux, même ceux réalisés avant les manifestes bruyants du MLF, traitent de la situation de la femme. Et une autre chose qui frappe finalement, c'est que l'image de l'Ailemagne qu'ils nous transmettent coïncide parfaitement avec celle nu'on se fait soi-même en voyageant chaque année quelques leurs à travers l'Allemagne. En Allemagne la vie est dure, les villes allemandes rappellent les américaines, seulement elles sont encore plus froides et plus repoussantes. En Allemagne __ cette fois-ci par opposition à la Suisse — les conflits se déroulent de façon plus ouverte et plus agressive, l'envie de provoquer des changements est plus vive, même si on lui cède rarement. Le contraste entre les classes — là encore en comparaison avec la Suisse — est plus marqué, l'oppression plus évidente, la résistance — une fois qu'elle entre en action — plus radicale.

A la fin du Mariage de Shirin de Helma Sanders, l'Allemande dit à l'ouvrière turque: Dans mon pays tu n'as rencontré que des fonctionnaires et des souteneurs. En Allemagne, il n'y a pas que des fonctionnaires et des souteneurs. Il y a aussi des cinéastes qui ne fuient pas la réalité et qui ne se laissent pas non plus «bouffer» par elle, mais qui lui font face. Ces cinéastes aident les hommes à essayer lentement de surmonter cette solitude dont il est question dans Falsche Bewegung de Wim Wenders. (AEP)

Bernhard Giger
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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