MARTIN SCHAUB

BILDERARBEIT

ESSAY

«Ach, könnte ich meinem Text nur Ausdruck verleihen!!!», so schloss Frieda Gräfe 1970 einen Aufsatz über Werner Schroeters Neurasia. Die Angst mit einer konventionellen Begrifflichkeit in bestimmten Situationen zu kurz oder daneben zu greifen, diktierte den letzten Satz der Kritik einer Schreiberin, die weiss Gott nicht zu den sprachärmsten gehört. Es ist bezeichnend, dass die Ahnung des eigenen kritischen Ungenügens sich beim Film eines extremen Aussenseiters einstellte. Und es ist ebenso bezeichnend, dass sie sich bei einer Kritikerin einstellte, die — zusammen mit Enno Patalas — dem Ideenkino nie vorbehaltslos das Wort geredet hatte. 1968 betitelten Frieda Gräfe und Enno Patalas einen Essay über Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos (Kluge), Eine Ehe (Strobel und Tichawaky) und Bis zum Happy End (Kotulla) alarmierend mit Die toten Augen. Sie kritisierten den Mangel an Sinnlichkeit und den unheilvollen Verbalismus dieser drei Filme, aber sie formulierten auch ein viel allgemeineres Unbehagen mit dem deutschen Film: Sie sagten, die Filme entwürfen oft die Utopie, seien aber nicht Teil davon.

Nicht als Glücksversprechen hier und jetzt, nicht als Auf Schemen besserer Möglichkeiten im Konkreten, nicht als Schule unserer Fähigkeiten, solche Möglichkeiten zu erkennen, verstehen unsere Regisseure das Kino. Ihre Augen sind tot.

Mehr noch als im Schweizer Film verhaspelten sich junge Autoren des deutschen Films in ungeduldiger Lehrhaftigkeit. Es fehlte nicht an Oberlehrer-Filmen und nach1968 dominierten sie. Nichts Unsinnlicheres als viele dieser «Zielgruppenfilme».

In meinem Aufsatz soll nicht der allmähliche Weltgewinn einiger deutscher Filmautoren verhandelt werden, sondern von jenen die Rede sein, denen Didaktik und Rationalismus von allem Anfang an fremd waren. (Und von jenem, der so radikal rationalistisch verfährt, dass er vielerorts zu einer eigentlichen Heiligenfigur gemacht wurde, von Jean-Marie Straub.) Es ist ein Fluch und ein Vorzug der deutschen Geistesgeschichte, dass immer, wenn eine rationale oder rationalistische «Schule» den Ton angab, eine zweite Kultur (eine «Schattenkultur») lebte. Nie waren beispielsweise die Geheimbünde (Freimaurer, Rosenkreuzer usf.) stärker als im Jahrhundert der Aufklärung; und die Frühromantiker traten bereits in Erscheinung, als Schiller noch lebte und bevor Goethe die abgeklärten, systematisch-humanistischen Alterswerke geschrieben hatte. Goethe hatte sich noch mit Kleists «Verwirrung der Gefühle» auseinanderzusetzen, er, der sein Alterswerk nur schreiben konnte, indem er wissentlich das «Dämonische» konsequent aus seinem Erleben ausschloss.

Die (allzu) klare Position, die die «Oberhausener Autoren» Papas Kino und der Wirtschaftswunder-Bundesrepublik gegenüber bezogen, durfte nie das Alleinvertretungsrecht beanspruchen. Als Werner Herzog an den Berliner Filmfestspielen 1968 Lebenszeichen vorstellte, meinte er an der Pressekonferenz: «Kluge mag der Meister im modernen Stil sein; ich bin der Meister im indischen Stil». In der gleichen Konferenz sagte Herzog, sein Film brauche vielleicht tausend Jahre, bis er amortisiert sei.

Eigenartig wie die «ahistorischen» Autoren manchmal in die Nähe jenes deutschen Filmemachers gerieten, der wie kein zweiter sein Werk als Auseinandersetzung mit der Historie und mit der historischen Situation begreift, und der seit 1965 (Nicht versöhnt) wie ein Turm in den Ebben und Fluten des deutschen Films steht, mit Jean-Marie Straub. Auch er hat seine Kritiker schon wissen lassen, dass seine Filme im nächsten Jahrtausend noch Bestand haben werden. Les extrèmes se touchent.

Die Oberhausener wollten mit Papas Kino brechen und unterhielten auch mit dem alten (lies expressionistischen) deutschen Film ein gespaltenes Verhältnis. Es war die französische Kritik, die bei den Werken Herzogs plötzlich wieder von den grossen Deutschen (Murnau, Lang, Wiene) zu sprechen begann und Brücken (auch Scheinbrücken) schlug. Den Kommentar zu Werner Herzogs Fata morgana, ein ziemlich waberndes Konglomerat romantischer, pathetischer und geheimnisvoller O !-Mensch-Versatzstücke, liess der Filmemacher von Lotte Eisner (Dämonische Leinwand) lesen. Als Lotte Eisner kürzlich schwer erkrankte, machte sich Herzog zu Fuss nach Paris an ihr Krankenbett auf. «Irgendein Spinner wird mich umlegen», soll Herzog einem SPIEGEL-Mitarbeiter in einem Interview gesagt haben.

Werner Herzog — Film Als Suggestion

Ich schreibe über Herzog unter dem Eindruck des Kaspar-Hauser-Films; Herz aus Glas ist noch nicht bekannt, wird aber an den allgemeinen Einschätzungen Herzogs bestimmt nicht viel ändern.

Die Figur des legendären Kaspar Hauser, sagt Herzog, habe ihn deshalb interessiert, weil «es sich um den einzig bekannten Fall in der Menschheitsgeschichte handelt, wo ein Mensch erst als Erwachsener 'geboren' wird». Um Herzogs Kaspar herum steht ein Kreis von mehr oder weniger lächerlichen Menschen, seine Erzieher und Prüfer. Je vernünftlerischer sie sich benehmen, desto lächerlicher sind sie. Es wird sogleich klar: Hier behauptet einer die «Natürlichkeit», die Spontaneität und Sinnlichkeit gegen eine papierene Zivilisation, deren Inkarnation der kleine, verwachsene Protokollführer ist.

Herzogs Kommunikationsmittel ist nicht die Argumentation, nicht die Diskursivität. Sie wäre ein Verrat an Kaspars Menschlichkeit. Herzogs Instrument ist die Suggestion «unschuldiger» Wahrnehmung. «Mein idealer Film wäre einer mit Bildern, die für den Zuschauer völlig neu wären». Herzog will seinen Zuschauer zum Kaspar Hauser machen. Er soll sich nicht mehr an seine Erinnerung klammern können, nicht mehr die Welt eines Films mit seiner Erfahrung (realer und kulturgeschichtlich aufgedrängter) «einteilen» können. Der Zuschauer soll im idealen Herzog-Film als Erwachsener geboren werden. Er soll keine Erinnerung und Vergangenheit haben, keine Tradition und kein Vorurteil. Er soll gegenwärtig sein. Ein lyrisches Konzept.

Jeder für sich und Gott gegen alle (aber auch Fata morgana und Aguirre) funktioniert nur durch magische Identifikation. Nach Bildern der Einstimmung, die von Klaus Wyborny als autonome Einstellungen gedreht wurden, beginnt der erzählerische Teil des Films mit fast lichtlosen Aufnahmen in Kaspars Verlies; nahezu übergangslos geht der dunkle Zuschauerraum in die Leinwand über. Die Leinwand ist Fortsetzung des Raums; der Raum Fortsetzung der Leinwand. Scharf schneidet der schmale Lichtspalt die Leinwand entzwei, wenn der «Vater» den Kerker betritt, in dem auch der Zuschauer sitzt. Kaspar wird ins Freie gezogen. Eine ganze Anzahl von Teleobjektiv-Landschaften lässt die Aussenwelt fremd erscheinen wie Präparate unter dem Mikroskop.

Kaspar ist auf seine Wahrnehmung gestellt. Er hat keine Lehre in sich, auch «keinen Begriff von Gefahr», wie der Polizeibeamte feststellt. Der Zuschauer beginnt dann zu begreifen, wenn er sich mit Kaspar identifiziert. Wenn Kaspar mit dem Händchen des jüngsten Gefängniswächterkinds spielt und Frau Hiltel aus dem Bildhintergrund in die Türe tritt, das Neugeborene dem Neugeborenen in den Arm legt, wenn darauf die Kamera — nah — in das tränenüberströmte Gesicht Kaspars hinaufschwenkt («Ich bin von allen Menschen abgetan»), steigen die Tränen auch in die Augen der Zuschauer, die noch weinen können.

Die Rollen der unsinnlichen Menschen um Kaspar herum besetzte Herzog dank einem Kunstgriff richtig: Viele von ihnen sind Laien, die eine «natürliche» Hemmung haben, sich selber ganz aufzugeben und in eine unsympathische Figur zu verschwinden. Für die Rolle Kaspars stellte sich das Problem andersherum. Hier war nur Identifikation möglich, Aufhebung der Distanz, nur eine Art mystische Einheit von signifié und signifiant. Werner Herzog hat Bruno S. den Kaspar werden lassen. Aus dem Dokumentarfilm von Lutz Eisholz, Bruno der Schwarze (1970), weiss man, wer er ist: Bruno S., als Dreijähriger von seiner Mutter in ein Heim für geistesschwache Kinder abgeschoben, hat über 20 Jahre in Anstalten einer intoleranten, normativen Gesellschaft verbracht. Bruno ist «von allen Menschen abgetan». In Herzogs Film ist er Kaspar. (Es ist in diesem Zusammenhang auf den Anflug von Ausbeutung hinzuweisen, den Herzog hier ebenso wenig wie in Auch Zwerge haben klein angefangen und in Land des Schweigens und der Dunkelheit, im Walter-Steiner-Film und in Aguirre vermeiden kann. Die Zwerge, Frau Fini Straubinger, Walter Steiner, Kinski und die Indios sind von Herzog in ähnlicher Weise enteignet worden. Herzog schreckt vor nichts zurück, um seine Visionen wahr zu machen.)

Bilder ohne Erinnerung entstehen nicht in der Besinnung auf Spielregeln einer Gesellschaft, die sich mit Papierwällen gegen Spontaneität abschützt, und die unvermittelten grossen Eindrücke in die Träume verbannt hat.

Herzogs Kaspar unterscheidet zuerst nicht zwischen sinnlicher Wahrnehmung und Traum. Und noch als er «weiss», dass Wahrnehmung mit den wachen Sinnen und Traum nicht dasselbe sind, sagt er: «Mich hat geträumt». Herzog rehabilitiert den Traum, indem er selbst nicht unterscheidet zwischen Tag und Traum. Die Zusammenfassung des Kaspar-Hauser-Films ist nur konsequent.

Verschiedentlich hat Kaspar seinen Wüsten-Traum schon berichten wollen, doch die Rationalisten wollten das Fragment nicht zur Kenntnis nehmen. Kaspar durfte den Traum nicht «durchgeben». Auf dem Totenbett erst lässt man ihn gewähren. Kaspar erzählt von der Karawane in der Wüste, die von einem blinden Führer geführt wird. Plötzlich hält sie an: sie hat sich verirrt. Da hockt sich der blinde Führer auf den Boden, greift in den Sand, lässt ihn über Hände, Nase und Zunge rinnen; «er schmeckt ihn ab wie eine Speise». Und er sagt: Diese Berge vor Euch sind keine Berge; wir sind auf dem richtigen Weg. Die Karawane zieht weiter bis zu einer Stadt. Und dort, sagt Kaspar, hätte sich dann die richtige Geschichte abgespielt, aber die kenne er nicht.

Kaspars Passion ist vollendet. Er merkt nicht mehr, dass er die eigentliche Geschichte erzählt, und dass das, was folgen könnte, nur schaler sein kann. In der Wüste — man erinnert sich der Gliederung von Fata morgana: Schöpfung, Paradies, Goldenes Zeitalter — in der Wüste galten die Sinne und wiesen den Weg. In der Stadt wohnen die Rittmeister und Bürgermeister, die Pfaffen und Logiker, die Ärzte und die Polizisten und die Protokollführer: alle Apotheker der sinnenleeren Spielregeln, alle Krämer mit Erinnerungen und aus ihnen abgeleiteten Normen.

Wim Wenders — Augenblicke der wahren Empfindung

In seinem kurzen Vorwort zu der Buchausgabe von Im Lauf der Zeit schreibt Wim Wenders' Freund Peter Handke:

So bin ich auch sicher, dass Wim auf seiner langen Reise entlang der Grenze viele solche Begebenheiten wie jene mit dem NPD-Mann (die Handke selbst erlebt und in dem kurzen Vorwort beschrieben hat) ganz am eigenen Leib erlebte — und ich behaupte, dass diese Begebenheiten ganz in seinem Film Bild für Bild auch vorkommen, aber eben nicht als Anekdoten oder Handlungen, sondern als Energien, die Im Lauf der Zeit zu einem Film machen, in dem die oben zitierte alte Welt mit grosser Anstrengung ausgemistet und ausgeleert wird und sich, nicht in passiver Bilderseligkeit, sondern in aktiver Bilderarbeit, zu einer NEUEN WELT aus-weiten, in der wir alle das Weiterleben nicht mehr für ganz unmöglich halten.

Es kann hier nicht alles nachgewiesen und hergeleitet es muss auch behauptet werden. Was Handke mit «passiver Bilderseligkeit» meint, lief lange unter dem Kennzeichen «Münchner Sensibilismus». Und im Zusammenhang mit diesem Münchner Sensibilismus wurde Wim Wenders, der an der Hochschule für Film und Fernsehen als Lehrer wirkte, immer wieder genannt. Sein Einfluss auf die Filme von Bernd Schlamm (Paradiesgarten), Gerhard Theuring (Leave me alone), Ingemo Engström (Dark Spring) und einiger anderer mehr ist wohl erwiesen. Damit möchte ich auch behaupten, dass Wenders sich aus der Bilderseligkeit in die «Bilderarbeit» entwickelt hat. Seine ersten Kurzfilme (Schauplätze, 1967; Same Player Shoots Again, 1968; Alabama 1969) und auch den ersten langen Film, Summer in the City (1970), rechne ich zum Zeit- und Bewusstseinsabschnitt der Bilderseligkeit; mit Die Angst des Tormanns beim Elfmeter beginnt die Bilderarbeit.

Wim Wenders war noch nicht 24, als er (in film 2/68) in einem Bericht über das 4. Experimentalfilmfestival von Knokke schrieb: «Nichts mehr oder kaum noch etwas sehen können, ist nicht länger ein Kriterium für einen Experimentalfilm. Die Alternative dazu wäre ein Film aus einer einzigen Einstellung». Knapp eineinhalb Jahre später schreibt Wenders (in Filmkritik 6/69): «Filme über Amerika müssten ganz aus Totalen bestehen, wie es das in der Musik schon gibt». Über solche Sätze ist schon oft geschnödet worden. Spätestens seit Im Lauf der Zeit bedeuten sie etwas. (Dabei ist keineswegs nur an die Musik der «Improved Sound Limited» zu denken, die die NEUE WELT des Films mit konstituiert.)

Wenders bediente sich in seinen Texten wie in seinen Filmen von allem Anfang an der von der deutschen Frühromantikern kultivierten Synästhesie (die in der Umgangssprache zu nicht mehr gedachten stehenden Wendungen wie «ein schneidender Ton», «ein luftiges Blau» heruntergekommen ist), und es kommt nicht von ungefähr, dass der Wendepunkt von Im Lauf der Zeit und von Falsche Bewegung am Rhein situiert wird. (Wie «zufällig» solche Sachen sind, mag man etwa bei Gaston Bachelard, L’eau et les rêves, nachlesen). Wenders’ Wilhelm Meister trägt schliesslich auch zwei Bücher mit sich herum (Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts und Flauberts Education sentimentale), die zurückweisen in die literarischen Vorstufen des Stoffes.

Die ersten Filme dehnten Augenblicke und machten den Zuschauer wirklich zum Zuschauer, sie wirkten wie gewisse Drogen, intensivierten und vertieften die Aussenwelt zu Chiffren einer Ende der sechziger Jahre weit verbreiteten (passiven) Befindlichkeit. Mit Die Angst des Tormanns beim Elfmeter trat Wim Wenders sozusagen selbst vor die Kamera: Wurde in den frühen Filmen Erfüllung noch in einer simplen Öffnung, mit dem Versuch, sich selbst hinter der Kamera und den Zuschauer vor der Leinwand durchlässig zu machen für Stimmungen, für Wirklichkeit ohne dramaturgische Finalität gesucht, so tritt der eigenschaftslose und damit heimatlose Tormann die Suche nach der «wahren Empfindung» an. Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, Alice in den Städten, Falsche Bewegung und Im Lauf der Zeit sind im Grunde nur verschiedene Muster eines gleichen Problems. Der Tormann, der Journalist Felix, Wilhelm Meister, Bruno suchen einen neuen Kontakt zur Wirklichkeit, suchen Menschen, mit denen sie Empfindungen teilen können, suchen Kommunikation. Auf der Innenseite der Türe von Brunos Möbeltransporter steht «zufällig» der Name «Hermes» zu lesen; Hermes, der Gott des Handels, der Diebe und des Verkehrs. Nur zwei Figuren gibt es bis jetzt im Werk von Wenders’, die miteinander verkehren können: Bruno und Robert in Im Lauf der Zeit. Der Tormann bleibt allein, Felix ist froh, wenn er Alice los ist, und Wilhelm Meister findet nur «tote Seelen», und keine Menschen.

Die Funktion von Wenders' Kamera ist schwer zu beschreiben. Sie ist eine Person: in den frühen Filmen lässt sie die Dinge und Personen eher auf sich zukommen. In den späteren, und vor allem mit Im Lauf der Zeit, holt sie aus und zieht die Gegenstände an sich heran. Die Reise von Im Lauf der Zeit wird von drei Personen erlebt: von Bruno, von Robert und von der Kamera. Diese Kamera vertritt (oder ist) Wim Wenders. Er sitzt in dem Möbeltransporter drin, zusammen mit Bruno und Robert. Und diese, darf man anfügen, sind auch Projektionen des Autors. Anders: Wenders' Kamera ist Jack Nicholson in Easy Rider, der sich Dennis Hopper und Peter Fonda anschliesst. Im Lauf der Zeit handelt von Menschen, die ihre Innerlichkeit der Aussenwelt anzutragen versuchen, die «bei sich» sind, wenn sie in Bewegung sind.

Das bisherige Werk von Wim Wenders ist der Versuch, beim Filmemachen «bei sich» zu sein und «mit den anderen» zu sein. Die NEUE WELT, von der Peter Handke spricht, ist eine Welt, in der sich der eine dem anderen aufschliesst, in der Empfindungen kommunizieren und sich weiterbringen. Empfindungen sind dann wahr, wenn sie nicht mehr unterdrückt werden, sondern mitgeteilt.

Die Filme von Wim Wenders sind Büchsenöffner. Der verschlossene Zuschauer, wenn er noch nicht völlig ganz «zu» ist, öffnet sich und lebt sich in die Bilder ein.

Sicher ist es so, dass ich die Hoffnung vom Kino habe, dass es etwas zu tun hat mit Auflösung von Vereinzelung und mit Mitteilung von Erfahrungen. Ich denke, dass ein Film dann erst überhaupt etwas damit zu tun haben kann, wenn er selbst den Zuschauer so behandelt, dass dieser erst mal in irgendeine Kommunikation treten kann. Ich denke, dass das erst dann möglich ist, wenn der Film eine Offenheit hat. Ich meine, dass nur Filme Möglichkeiten haben, Kommunikation herzustellen, wenn sie keine zugeschlossenen Systeme sind. Jemand, der sich den Film anschaut, soll eigene Geschichten mitsehen können...

(Wim Wenders in einem Gespräch mit dem Verfasser, Cannes, 20. Mai 1976).

Werner Schroeter — Die Exaltation

Maria Malibran stirbt, indem sie singt und weil sie singt. Sie stirbt, indem sie ihr Innerstes herausschreit. Nur sterbend lebt sie.

Lange Zeit (bei vielen bis zu Der Tod der Maria Malibran, 1971/72) ist Werner Schroeter immer wieder als satirisches Talent missverstanden worden. Da Sachlichkeit nicht nur den Film, sondern auch die Filmkritik dominierte, war ein solches Missverständnis überhaupt möglich. Man konnte sich nichts anderes vorstellen, als dass die expressiven Gesten, die schreienden Masken und die musikalische Begleitung der Bilder von Schroeter als distanzierende Kommentare gemeint waren, als Abrücken von den Emotionen, nicht als Ausdruck von Emotionen.

Schroeters Filme scheinen mir nicht Wiederholung der Zwitterform der Oper zu sein; ich bringe sie eher in Zusammenhang mit jenem Satz des von Schroeter so verehrten und immer wieder zitierten Kleist, der da sagt, dass Glück und Unglück manchmal so gross sein können, dass man sie nur noch singen kann.

Missverständnissen ist Schroeters elitäre Kunst natürlich auch jetzt noch ausgesetzt; davor schützen weder seine eigenen Erklärungen noch die Interpretationen einiger mit ihm vertrauter Kritiker. Die von Schroeter — anstatt Worte, anstatt innerer Monologe usf. — eingesetzte Musik von Monteverdi bis Catharina Valente stimmt für den Autor genau; er meint selbst, für das Verständnis und das Erlebnis des filmischen Augenblicks sei die Kenntnis der Musik und der Worte absolut vonnöten. Bild und Musik sind nicht Satz und Kommentar; sie gehören unzertrennlich zusammen. Wenn man also die Worte nicht versteht und nicht über die Musikkultur des Spezialisten verfügt, bleibt man hilflos liegen, in einem Durcheinander von Versatzstücken, das keine Anstrengung mehr zum Ganzen zusammenfügt. Es ist verständlich, dass Salome (1970/71) und Willow Springs (1972/73) die klarsten und verständlichsten Filme sind. In Salome kann Schroeter auf die Kenntnis von Oscar Wilde und Richard Strauss bauen, und in Willow Springs wirkt der Einsatz von Musik fast didaktisch: Christine Kaufmann legt da die richtigen Platten (Camille Saint Saens und The Andrew Sisters) auf, und nur an zwei Stellen wurde später noch Studiomusik beigefügt. Christine Kaufmann mit ihrem Batteriegrammophon verfährt so, wie Schroeter in allen anderen Filmen verfährt.

Die «höhere» Einheit, die Schroeter sucht, das Verschmelzen von Moment und Kultur, Spontaneität und Topos, erscheint mir wiederum als fast mystisches Ideal. Darum bleibt die Rezeption der Filme dementsprechend meistens unvollständig.

Schroeter ist der Cineast der Exaltation. Die verwundete Innerlichkeit seiner Figuren bricht in expressiver Mimik und Gestik hervor. (Schroeter sagte in einem Interview in der «Süddeutschen Zeitung», der Eindruck einer Schauspielerin, die er als Kind im Theater in Bielefeld mit rudernden Gesten und Schaum vor dem Mund gesehen habe, sei ihm unvergesslich. «Was mir gefällt, ist übertrieben und langsam, und nicht niedlich und psychologisch.»)

Exaltation: rudernde Gesten, rollende Augen, offene Münder, Schreie, Singen. Oder: Verstummen («Spricht die Seele, ach spricht die Seele nicht mehr!»). Das sind die Möglichkeiten Schroeters. Eine absurde Situation. Absurde Filme. Ich ziehe sie jenen vor, die Formen, die Schroeter in der Not erfunden hat, benützen (Praunheim, Van Akeren, aber zum Teil auch Fassbinder und Schmid).

Jean-Marie Straub, der Mönch

Der erste verbindliche deutsche Gegenwartsfilm war wohl Nicht versöhnt (1965) von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet, der einzige materialistische historische Film Chronik der Anna Magdalena Bach (1968), eine der eindrücklichsten Momentaufnahmen Der Bräutigam, die Komödiantin und der Zuhälter (1968). Damals standen Straub und Huillet nicht allein; es sei hier nur an Peter Nestler und seine materialistischen Dokumentarfilme erinnert. Mit Othon (1969) verloren Straub und Huillet die Füsse in jener Basis, die sie trug. Sie mögen versichern, wie sie wollen, sie hätten Othon in französischen Fabriken vorgeführt, und gerade die Arbeiter seien es gewesen, die die revolutionäre Botschaft dieses Films (in Form und Gehalt) am besten verstanden hätten: ich habe Mühe, das zu glauben. Und auch Moses und Aron (1975) scheint mir eher Demonstration der Methode zu sein als Hebel in dem politischen Kampf, den Straub noch immer zu führen behauptet.

Die Extreme berühren sich, wurde oben gesagt. Und damit wäre etwa die Tatsache gemeint, dass Straub/Huillet zu Kultfiguren geworden sind. Sie haben den Kontakt zu der Masse verloren und unterhalten sich mit einer treuen rechthaberischen Gemeinde. Die Entwicklung, die Straub in den letzten Jahren vorgelebt hat, ist beunruhigend. Ich würde sie mit «Realitätsverlust» bezeichnen. Moses und Aron ist Holger Meins gewidmet, und irgendwie kann man die Entwicklung Straubs schon mit der Entwicklung der Rote-Armee-Fraktion vergleichen. Die Bundesrepublik, ja das «liberale» Europa, scheint solche Entwicklungen zu erzwingen.

Dore O., Werner Nekes, Klaus Wyborny: Bilder vom verlorenen Wort

Die schreckliche Sprache der Wörter, die Zeitungen füllt und Bücher, beherrschte auch den Film und stellte sich vor die Bilder. Herzog versuchte, sie mit agrammatischen Einsprengseln für die Bilder durchlässig zu machen; Wenders setzte auf die Pausen zwischen den Wörtern; Schroeter lässt sie singen; Straub entzieht ihnen die Melodie. Einige aber Hessen sie ganz weg. Früher waren es viele: heute gibt es drei: Werner Nekes, seine Frau Dore O. und Klaus Wyborny (siehe auch Abschnitt über Werner Herzog). Seine Sprachskepsis hat Wyborny in den Titel seines jüngsten Films (Bilder vom verlorenen Wort, 1971-1975) gesetzt, und Werner Nekes hat versucht, in Amalagam (1976) eine Art Systematik des Sprechens mit Bildern und des Hörens auf Bilder durchzugestalten: Filme, über die man mit Worten nur sehr schlecht verhandeln kann. Ende 1974 zeigten Werner Nekes und Dore O. in Knokke ihre im Sommer jenes Jahres entstandenen Filme: Makimono (Nekes) und Kaskara (Dore O.). Für mich gehören die beiden Filme zu den überzeugendsten Infragestellungen der Gestaltungs- und damit auch der Wahrnehmungscodes des konventionellen Films. Durch die sichtbar gemachte, ja fast didaktische Anordnung des bildnerischen Konzepts leiten Nekes und Dore O. den Betrachter hinüber in einen Raum schöpferischer Mitwirkung, und sie lassen die rein formalistischen Genüsse weit hinter sich.

Nekes filmt in Makimono eine finnische Landschaft von einem fixen Kamerastandpunkt aus; er bewegt die Kamera in langsamen und raschen kurzen und langen Panaoramaschwenks. Die kreisrunde Bildwand, die die Kamera so herzustellen scheint, diese Kesselwand visueller, sich immer verschieden wiederholender Eindrücke scheint sich — auch infolge der Musik von Anthony Moore — zu strecken, unendlich zu werden: ein unmessbar grosses Rollenbild. Die solide Struktur führt den Betrachter sicher aus sich heraus in den «Urwald» nicht nur Finnlands, sondern auch der eigenen nie begangenen Phantasie.

Dore O. führt in Kaskara ein Programm von Bildhalbierungen (in der Breite und in der Tiefe) durch: Linke und rechte Bildhälfte, Innen- und Aussenraum, vermitteln den Eindruck einer geteilten Welt und die Idee der Verschmelzung, der Einheit. Kaskara könnte eine Art Sehnsucht nach Ganzheit formulieren wollen. Dore O. scheint sie auch bildmotivisch zu suggerieren, wenn sie Nekes beim Nichtstun, ein Kind oder friedlich sich bewegende Fensterflügel und Türen zeigt. (Sie treibt im Gegensatz zu Nekes die konventionellen Bild-Topoi nicht ganz aus ihren Filmen heraus. Sie benützt einige und öffnet sie für Gedanken- und Gefühlseinheiten jenseits der kausalistischen Prinzipien.)

Eigenartig, wie die extremsten Experimentierer des deutschen Films zurückführen auf die Grundkonstellation dieser Filmlandschaft, in der die Mehrzahl der Filmemacher versucht, nicht mehr zu lügen, sich aber dennoch der Gestaltungs- und Wahrnehmungscodes bedient, die die Lügen geradezu fördern. In der es aber auch eine qualifizierte Minderheit gibt, die auf der Suche nach einer Filmsprache ist, in der man nicht mehr lügen kann. Der Einfluss dieser Minderheit auf die Mehrheit ist in den letzten drei Jahren immer stärker geworden; sie ist nicht länger «Underground».

TRAVAIL D'IMAGES

Travailler en premier lieu les images, travailler avec les images: Dans le cinéma allemand, les auteurs du manifeste d'Oberhausen ne furent jamais les seuls à représenter l'entité. Comme toujours dans l'histoire de l'art et de la pensée allemande, il y eut des courants souterrains. Ces courants souterrains («underground») ont percé le sol et sont devenu visibles dans les films de Werner Herzog, de Wim Wenders, Werner Schroeter, Werner Nekes et quelques autres.

Le cinéma de Herzog se base sur la suggestion et l'identification. Martin Schaub analyse le fonctionnement esthétique et psychologique de Gaspard Hauser qui montre le monde aux spectateurs comme ils ne l'ont jamais vu; le spectateur regarde par les yeux de Gaspard qui est «né adulte». Wim Wenders, l'ancien animateur du «sensibilisme munichois», a développé depuis ses premiers court-métrages jusqu'à «Au fil du temps» un regard cinématographique précis et spécifj. que. Dans ses premiers films, la caméra était plutôt passive, contemplative, elle ne fit et ne racconta pas d'histoires. Depuis La peur du gardien (d'après Peter Handke), la caméra bouge voyage, comme les protagonistes des films qui cherchent tous dans l'extérieur un interlocuteur de leur intimité. Dans Au fil du temps, la caméra est le troisième personnage qui ramasse le plus de réalité possible au long du chemin des deux héros Bruno et Robert qui commencent 'lentement et prudemment à communiquer, à construire une communauté basée sur la sensibilité et l'ouverture.

Werner Schroeter essaie de communiquer des émotions en les poussant au jour avec force. Ses personnages ne parlent plus; ils crient avec leurs gestes, leurs costumes, leur voix. Schroeter risque pourtant de rester élitaire puisqu'il se sert des modèles d'une culture traditionnelle. Afin de pénétrer l'univers exalté de Schroeter, il faudrait débuter par les deux films «faciles» du cinéaste, dont les éléments sont connus (Salomé) ou le style dépouillé, presque didactique même (Wiliow Springs). Quelques cinéastes expérimentaux n'ont plus aucune confiance ni en la parole, ni dans les codes cinématographiques conventionnels: Images de la parole perdue s'intitule justement le dernier film de Klaus Wyborny. Lui, Werner Nekes et Dore O. cherchent un langage d'images dans lequel on ne peut plus mentir.

Les extrêmes se rapprochent: Jean-Marie Straub, ailleurs le cinéaste allemand le plus conscient et complet, se trouve tout à coup en la compagnie des irrationalistes. Autour de lui comme autour d'eux, un culte nait. Tandis que Herzog et Wenders ont quitté la communauté étroite des initiés, Straub s'y perd. (msch)

Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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