KARL SAURER

DER SCHWIERIGE AUFRECHTE GANG — ANMERKUNGEN ZUM SPEKTRUM DES POLIT-FILMS IN DER BRD SEIT 1966-1967

ESSAY

1969 betitelte die Zeitschrift Film ihre Septembernummer mit dem Schwerpunkt ‚Film in der Opposition’: «Wer gerade geht, wird vorgebeugt». — 1976 gab Christian Ziewer seinem dritten Arbeiterfilm den Titel: Der aufrechte Gang.

Ziewers Film erscheint zu einer Zeit, die angesichts der zunehmenden Repression in Betrieb, Schule und Medienbereich nicht zu Unrecht als «zweite Restaurationsperiode der Bundesrepublik» bezeichnet wird. Die denunziatorisch-spekulative Gegenüberstellung von 'Freiheit' und 'Sozialismus' ist mehr als eine blosse Wahlkampfentgleisung.

Sonst wären keine Dokumentarfilme entstanden über Verfassungsfeinde (z. B. 1976 vom Brühler Arbeitskreis gegen Berufsverbote) deren einziger «Fehler» darin besteht, Mitglied von (gesetzlich zugelassenen) Parteien oder Organisationen zu sein, die oppositionelle politische Ziele anstreben.

Sonst wären keine Spielfilme entstanden wie Max Willutzkis Vera Romeyke ist nicht tragbar, der von der Repression im Bildungsbereich handelt, die oft genug zu Berufsverboten führt. Zum Beispiel für Lehrer, die als Studenten gegen die militärische Aggression der USA in Vietnam protestierten. Eine bittere Ironie bundesdeutscher Geschichte: Wer sich in den sechziger Jahren angesichts der entsetzlichen Leiden napalm-geschädigter vietnamesischer Kinder empörte und sich gegen den gandenlosen Ausrottungskrieg wandte, darf heute keine bundesdeutschen Kinder unterrichten, weil er für die herrschenden Politiker keine «Gewähr dafür bietet, dass er jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt» (Radikalenerlass).

Leider verharrt Willutzki in seinem Spielfilm zu sehr auf der blossen Ebene der Erscheinungen und zeigt welche psychischen Auswirkungen diese Gesinnungsschnüffelei und Repression haben können; die entscheidende Frage: wie es überhaupt zu diesen Erlassen gekommen ist, welche politischen Kräfte dafür verantwortlich sind, hat er weitgehend ausgeklammert. Vermutlich aus taktischen Gründen, um die Sozialdemokraten nicht zu verprellen. Diese Taktik scheint mir allerdings unangebracht, denn was soll ich aus einer Geschichte lernen können, wenn mir der Grund, in dem sie wurzelt, verborgen bleibt?

Zielgruppen- und Lehrfilme der späten Sechziger Jahre

Da waren die Zielgruppen- und Lehrfilme der späten sechziger Jahre zumindest klarer und konsequenter. Ja, was die Vermittlungsform anbelangt, zu konsequent. NICHT löschbares Feuer, etwa, 1968/69 von einem der 18 Filmstudenten für den WDR gedreht, die wegen ihrer politischen Arbeit und Intentionen von der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin relegiert worden waren, ist von geradezu rigider Konsequenz. In einer (über) betonten Sachlichkeit, die in fataler Weise an militärisch-technische Instruktionsfilme erinnert, demonstriert Harun Farocki die grauenhaften Auswirkungen von Napalm und informiert über sozialpsychologische und polit-ökonomische Hintergründe der Rüstungsindustrie (etwa über die raffinierte Arbeitsteilung, die die beteiligten Wissenschaftler einerseits vor Gewissenskonflikten bewahrt und andererseits drastischer Ausdruck entfremdeter Tätigkeit ist. Keiner der vereinzelten Forscher und Techniker weiss, wozu er durch seine Arbeit letztlich beiträgt; keiner der 'Mitarbeiter' kennt das Endprodukt — weshalb er nichtsahnend im Fernsehen das geplante Unheil verfolgen kann, an dem er mitgewirkt hat.) So richtig daher die im Kommentar vermittelte Erkenntnis ist: «Man muss das Napalmfeuer dort bekämpfen, wo es hergestellt wird — in den Betrieben!», so fragwürdig ist die allzu konzentriert-unsinnliche Form, der spröde Modellcharakter dieses Lehrfilmes. Denn wer sich vor dem Bildschirm von einer Arbeit erholen will, deren Sinn und Zweck ihm weitgehend fremd geworden ist, möchte eben nicht auch noch durch Abstraktionen bzw. spröde Veranschaulichungen von Theorien «unterhalten» werden. Und am Unterhaltungsbedürfnis hat Aufklärung allemal anzuknüpfen, wenn sie eine Chance haben will.

Ein weiteres Beispiel für gescheiterte Aufklärung: Die Teilung aller Tage, wo Hartmut Bitomsky/Harun Farocki 1970 in einer Art «Schautafel mit bewegten Bildern» (Wolfgang Limmer) Marx’sche Theorie veranschaulichten.

Der Zusammenhang zwischen dieser Ästhetik der theoretischen Verdoppelung respektive sinnlichen Reduktion und Ausgrenzung und dem politischen Bewusstsein der Macher wäre genauer zu untersuchen.

Am radikalsten äusserte sich die «Ästhetik der Ausgrenzung» bei jenem Teil der Filme der Studentenbewegung von 1967-69, die ich als aktionistische definieren möchte. Und das eindringlichste Beispiel ist wohl jener Film, dessen unerbittliche Konsequenz für einen seiner Macher zur tödlichen wurde: Herstellung eines Molotov-Cocktails. Einer der Macher war Holger Meins.

Der knapp vierminutige Streifen entstand aus der Aktion und für die Aktion; nach dem Attentat auf Rudi Dutschke — im Rahmen der Anti-Springer-Kampagne. Geplant als Agitation, verzichtete er dennoch auf Argumentation und beliess es bei blosser technischer Instrumentalisierung, die nur mit knappen, vereinzelten Chiffren für Gleichgesinnte (Autowrack; Fassade des Springer-Hochhauses) ergänzt waren.

Neben aktionistischen Filmen (wozu auch der 4. November zu zählen ist, der für eine Demonstration gegen das drohende Berufsverbot für Horst Mahler agitierte), gab es eine zweite, kleinere Kategorie von Zielgruppenfilmen die man als politische Reportagen bezeichnen könnte, und die teilweise über die studentischen Adressaten hinaus öffentliche Beachtung fanden. Einer der bemerkenswertesten ist wohl 2. Juni 1967 von Thomas Giefer und Hans Rüdiger Minow, nicht nur wegen seiner Thematik: der Erschliessung Benno Ohnesorgs, sondern auch wegen seiner ungewöhnlichen Produktionsgeschichte. 2. Juni 1967 ist eigentlich mehr Rekonstruktion als Reportage. Nach dem tödlichen Anschlag auf Benno Ohnesorg, der an einer Demonstration gegen den persischen Schah teilgenommen hatte, gründete der SDS sofort einen Untersuchungsausschuss. In Flugblättern wurden Demonstrationsteilnehmer und Bevölkerung um Mithilfe gebeten. Aus den Hunderten von Zeugenaussagen und dem reichlichen Bildmaterial (Fotos, Super-8- und 16-mm-Filme) wurde in akribischer Puzzlearbeit der Tatvorgang rekonstruiert und der Täter, ein politischer Polizist in Zivil, ermittelt. Auch weitere Beteiligte, Opfer und Schläger wurden identifiziert und für den Film interviewt (z. B. ein CDU-Abgeordneter aus Schwelm, der von den Savak-Schlägern geprügelt worden war). Die Autoren gingen noch weiter und benützten ein geradezu klassisches Mittel: Sie spürten identifizierte Schläger (darunter auch Zivilisten) auf und konfrontierten sie — vor der Kamera — mit ihren Opfern. Fast alle Schläger wollten ihre Tat leugnen — worauf sie anhand der Fotos widerlegt und überführt wurden... In einer grossen Gegen-Öffentlichkeits-Kampagne wurde der Film in vielen Städten vor Zehntausenden von Besuchern gezeigt.

Als weitere Ironie der Geschichte ist heute dazu anzumerken, dass die listige Recherchier- und Identifikationsmethode mit Fotos und Filmen vor allem von der Polizei studiert und adaptiert wurde; inzwischen ist die Polizei zum giftigsten Dokumentaristen von politischen Aktionen und Demonstrationen avanciert.

Als dritte Kategorie von Zielgruppenfilmen entstanden die Lehrfilme — um über die Dokumentationen der Aktionen (gegen den Vietnamkrieg, Springer, Fahrpreiserhöhungen etc.) hinaus Erkenntnisse über polit-ökonomische Zusammenhänge zu vermitteln: didaktische Analysen und Modelle vom Typ NICHT löschbares Feuer. Zum Teil beruhten sie auf Vorarbeiten von interdisziplinären Projektgruppen; Farockis Film z. B. baute auf Vorarbeiten der Projektgruppe Technologie auf.

Wegen des Mangels eines langfristigen tragfähigen Konzepts und nach dem Scheitern im Kampf gegen die Notstandsgesetze besann sich jener Teil der politisierten Studenten, der nicht resignierte, aber sich auch nicht aus Verzweiflung in utopisch-militaristischen Organisationen wie RAF oder Bewegung 2. Juni radikalisierte und isolierte, auf die gesellschaftliche Kraft, die langfristig als einzige wirkliche Veränderung zu erkämpfen vermag: die Arbeiterbewegung.

Besonders die heftigen Septemberstreiks von 1969 — eine Antwort auf die ökonomischen und sozialen Einbussen im Zuge der Rezession von 1966/76 — machten deutlich, dass auch deutsche Arbeiter wieder massenhaft bereit waren, für das zu kämpfen, was ihnen zusteht. Die Rezession von 66/76 und die «Kohlekrise» der sechziger Jahre sind die entscheidende Ursache dafür, dass wieder vermehrt Filme über die Arbeit und mit Arbeitern produziert wurden.

Reflexe der Arbeitskämpfe

Da die Arbeitsmöglichkeiten bei den Fernsehanstalten für die Realisatoren realistischer Filme sehr beschränkt waren — einige «progressive» Produktionen und einige wenige, die man, wie etwa Klaus Wildenhahn, kontinuierlich produzieren lässt, erweisen sich als die berühmten Ausnahmen von der Regel — spielten Institutionen wie die Hochschule für Gestaltung in Ulm sowie vor allem die neugegründete Deutsche Film- und Fernsehakademie (DFFB) in Berlin und die Hochschule für Fernsehen und Film in München ein wichtige Rolle als (bescheidene) Produktionsalternative. Einer der ersten Dokumentarfilme, der sich mit der veränderte wirtschaftlichen und politischen Situation angesichts der «Kohlenkrise» beschäftigte, wurde 1967 vom inzwischen geschlossenen Ulmer Institut produziert: Wir waren vorbereitet, für Donnerstag morgens um sechs Uhr in den Streik zu treten von Günther Hörmann. Diese Dokumentation ist geprägt vom Bemühen um grösstmögliche Authentizität; die Bilder und Töne haben in erster Linie Beleg-Funktion. Es ging dem Realisator vor allem darum, die richtigen Köpfe und die entscheidenden Aussagen zu erwischen; Aufnahmewinkel oder Bildausschnitt wählte er ziemlich beliebig, der Schnitt wurde von der Chronologie der Ereignisse bestimmt.

Man kann verstehen, warum die Beschäftigung mit den «formalen» Aspekten anfänglich unterbewertet wurde: Es ging erstmals darum, dass die Arbeiter zu Wort kamen, dass die Konflikte zwischen Basis und Funktionären überhaupt gezeigt, dass Interessenverflechtungen einmal aufgedeckt wurden. Die kritische Reflexion der ästhetischen Praxis machte dann deutlich, dass die Beschäftigung mit den formalen Aspekten gerade bei politisch relevanter Filmarbeit kaum grundsätzlich genug betrieben werden kann: Die Form ist eben auch ein Teil des Inhalts oder anders formuliert: Form und Inhalt sind Aspekte einer Vermittlung.

Die Differenzen und Konflikte zwischen Basis und Gewerkschaftsführung, wie sie bei Tarifkämpfen oder Betriebsratswahlen immer wieder manifest wurden, spiegeln nicht nur brisante Dokumentarfilme wider wie die DFFB-Produktion von 1971/72 Der Kampf um 11% von M. Busse/ T. Mitscherlich/J. Peters oder Die Vulkanwerft im Metallerstreik 1974 von G. Hörmann u. a., produziert von der Arbeitsstelle Arbeiterkammer der Universität Bremen. 1976 entstand als ZDF-Auftragsproduktion gar ein Spielfilm über diese Thematik: Die Wahl von Daniel Christoff in der Regie Rainer Boldts.

Auch das «Schicksal» jener 10 000 krisengeschädigten Bergleute, die keinen angemessenen oder überhaupt keinen Arbeitsplatz mehr fanden, ist 1975 (!) von Renke Korn in einem Fernsehfilm für das ZDF aufgegriffen worden (Der Alte). Korns Geschichte endet melodramatisch: Der «Alte» ersticht mit einem Küchenmesser einen jüngeren Kollegen, ein Akt nackter Verzweiflung... Und das ist symptomatisch für die typischen Schwächen dieses und ähnlicher Filme: Individualisierung gesellschaftlicher Probleme; aussichtsloser Einzelkampf oder gar Resignation statt solidarischer Gegenwehr

Die Entwicklung des Dokumentarfilmschaffens verdeutlicht, wie realitätsorientierte Filmemacher die Veränderungen der wirtschaftspolitischen Situation wahrnahmen. Sie beschäftigten sich nicht nur mit den Bedingungen der Arbeit, und mit der Entfremdung (der Titel von einem der frühen Filme Klaus Wildenhahns: In der Fremde — über die Arbeit auf einer Baustelle in Norddeutschland — ist durchaus doppeldeutig zu verstehen). Sie dokumentierten bei den Auseinandersetzungen zwischen Lohnarbeit und Kapital nicht nur den Kampf um angemessenere ökonomische Anteile der Lohnabhängigen (wie etwa Rolf Schübel/Theo Gallehr 1972 in Arbeitskampf oder Hannes Karnick/Wolfgang Richter 1971 im Kurzfilm Nur gemeinsam sind wir stark). Es ging zunehmend um die ökonomische Basis überhaupt, im Kampf um den Arbeitsplatz. Der Titel von Rolf Schübel/ Theo Gallehrs 99-Minuten-Protokoll fasst bildhaft die Quintessenz der bitteren Erfahrungen von 2 100 Betroffenen einer Betriebsschliessung zusammen: Rote Fahnen sieht man besser. Am Beispiel von vier Arbeitern und ihren Familien dokumentiert der Film den deutlichen Bewusstseinswandel, den die aggressive Politik der Unternehmer bewirkt hatte (als im August 1970 die ersten Phrix-Arbeiter entlassen wurden, hissten Kollegen die schwarze Fahne; fünf Monate später waren sie der Auffassung, dass sie besser die rote Fahne hätten setzen sollen).

Der Film hat auch deshalb Geschichte gemacht, weil di Zensur des Schlusses (auf Wunsch von Unternehmerseite) bei der Ausstrahlung im 1. Programm der ARD (im 3. war er ungekürzt gelaufen) einmal mehr deutlich machte, wo der Medien-Pluralismus seine Grenze hat: da, wo die Betroffenen ihre Abhängigkeit und Ausbeutung nicht mehr hinnehmen wollen. Geschnitten wurden die Passagen des Liedes in denen Dieter Süverkrüp während der Auseinandersetzungen den wachsenden Protest und die Einsicht in die Notwendigkeit solidarischer Gegenwehr artikulierte:

... Euch bleibt nur eins, Ihr bleibt mal nicht mehr stille.

Ihr schmeisst mal Sand in die verdammte Mühle

des Kapitals, das Euch zu Geld verrührt.

Ihr, hört mal auf, Euch höchst privat zu ducken.

Ihr fangt mal an, gemeinsam aufzumucken.

Ihr stellt mal fest, wem hier das Wort gebührt.

Wem hier das Wort gebührt, seid Ihr...

Das Wort, das den Arbeitern auch im Fernsehen gebührt, ist ihnen von den Medienbürokraten bislang ziemlich konsequent vorenthalten worden. Die Willkür der einseitigen Interessenwahrer und berufsmässigen Programmverhinderer hat allerdings — allen Manipulations-Theoretikern zum Trotz — nicht verhindern können, dass die Gegenwehr der vom Verlust ihres Arbeitsplatzes Bedrohten und Betroffenen immer entschlossener und besser organisiert wird. Auch über Landesgrenzen hinweg, wie z. B. die DFFB-Produktion von 1975 Gegenmacht International von Barbara Kasper und Lothar Schuster belegt. Ein Dokument eines ausserordentlich hartnäckig und zäh geführten Kampfes ist der 1975 von einem Kollektiv produzierte Film Wir halten den Betrieb besetzt über den monatelangen Arbeitskampf der Zementwerker bei Seibel und Söhne in Erwitte seit März 1975. Von Erwitte ist ein Detail zu berichten, das zeigt, welche Impulse auch von historischen Filmen ausgehen können, in denen frühere Erfahrungen realistisch aufgehoben sind: Nicht zuletzt die Vorführung von Herbert Bibermans Salz der Erde (1953) ermunterte die Frauen, sich aktiv am Kampf zu beteiligen.

Besinnung auf die proletarische Tradition

Neben Wiederaufführungen «klassischer» proletarischer Filme der Weimarer Republik (wie Brecht/Dudows Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt?) oder Wiederentdeckungen (wie Werner Hochbaums Brüder), gab es einige wenige Versuche, die Geschichte der Arbeiterbewegung und ihren Kampf gegen den Faschismus in Filmen aufzuarbeiten.

1967 drehte Peter Nestler für das Schwedische (!) Fernsehen Röster Fran Ruhr (Im Ruhrgebiet), in dem er alte Arbeiter aus dem Ruhrgebiet von ihren Kämpfen beim Kapp-Putsch in der Rote-Ruhr-Armee und später gegen Hitler erzählen lässt. Und erzählen ist wörtlich zu verstehen. Nestlers Film, von der Kritik u. a. als «spartanisch» bezeichnet, beschränkt sich ganz darauf, die Kämpfer von einst in den Wohnungen von heute zu Wort kommen zu lassen und ihnen beim Reden auch zuzusehen.

Auch andere erteilten alten Kämpfern das Wort und dokumentierten deren Erfahrungen: Etz/Tuchtenhagen/Wildenhahn 1971 in Der Hamburger Aufstand Oktober 1923; Braun/Kroke/Ott/Volkenborn 1975 in Strasse im Widerstand mit Bewohnern der Wallstrasse (heute Zülestrasse) in Berlin-Charlottenburg; oder 1975/76 Dietrich Schubert zusammen mit dem WN-Bund der Antifaschisten in Widerstand und Verfolgung in Köln 1933-45.

In einem Spielfilm griff dieses Thema bislang einzig Reinhard Hauff für den WDR auf, in einer Adaptation von F. J. Degenharts Roman Zündschnüre. Stilistisch steht Hauffs Verfilmung in der Tradition des realistischen Erzählkinos, das mit seinen starken Identifikationsmustern wohl breite Zuschauerkreise anzusprechen vermag, sich jedoch auch mit den Nachteilen dieser Vermittlungsstruktur belastet: zu starke oder gar ausschliessliche Einfühlung behindert oder verhindert Erkenntnisprozesse. Herz und Hirn anzusprechen, einen plausiblen Verlauf und Gegenbewegungen zu (er)finden, Erkenntnis ermöglichende Brüche und Widersprüche zu riskieren: die Spuren der Auseinandersetzung mit diesen wohl nur graduell zu lösenden Schwierigkeiten finden sich auch in den Spielfilmen der «Berliner Schule», von denen zum Schluss noch kurz die Rede sein wird.

Frauen und ausländische Arbeiter

Zuvor soll ein Blick darauf geworfen werden, welche Spuren zwei meist vernachlässigte Aspekte der Arbeitswelt-Problematik in filmischen Widerspiegelungen hinterlassen haben: die Frauen und die ausländischen Arbeiter (potenzierten Druck bekommen die ausländischen Arbeiterinnen zu spüren). Erika Runge stellte 1968 als eine der ersten die ironisch-provozierende Frage Warum ist Frau B. glücklich? Spätere Filme wie Frauen - Schlusslichter der Gewerkschaft 1975 von Oppermann, verweisen konkret auf Missstände, aber auch auf Ansätze von Bewusstwerdung (wie Claudia Alemanns Produktion von 1973 ... es kommt darauf an, sie zu verändern oder Helfen können wir uns nur selbst von Gardi Deppe 1974). Und Dokumentationen wie Pierburg: Ihr Kampf ist unser Kampf über den Arbeitskampf bei Pierburg Neuss, wo die Frauen (zusammen mit solidarischen Kollegen) 1973 die Abschaffung der Lohngruppe 2 für Frauen durchsetzten, belegen, dass das veränderte Bewusstsein auch in erfolgreiche Praxis umgesetzt wurde.

Das Pierburger Beispiel zeigt zudem, dass auch ausländische Arbeiter (70% der 3 800 Beschäftigten waren Ausländer) ihre Interessen durchzusetzen vermögen, obwohl das für Angehörige der «industriellen Reservearmee» mit vermehrten Schwierigkeiten verbunden ist. Einer der frühen Filme, die sich mit dieser Thematik befassten, stammt von Helma Sanders: Die Industrielle Reservearmee, 1971/72. Fünf Jahre danach riskierte sie einen Spielfilm, die WDR-Produktion Shirins Hochzeit, um an der Figur des türkischen Mädchens Shirin die Erfahrungen von Entfremdung und Abhängigkeit bildhaft-radikal vor Augen zu führen. Leider verlief sich Helma Sanders dabei in einen genrehaft-glatten Krimi-Schluss.

Spielfilme: Abhängig Von Zeitgeschichte Und «Klima»

Spielfilm-Regisseure tun sich in gewisser Weise objektiv schwerer als die Dokumentaristen, deren beste gelernt haben, mit den Menschen, von deren Hoffnungen und Nöten, Niederlagen und Erfolgen sie andern berichten wollen, zusammenzuarbeiten. Zwar hat Erika Runge bei Ich heisse Erwin und bin 17 Jahre 1970 mit Laien als Schauspieler positive Erfahrungen gemacht; und auch die Laiendarsteller in Ziewers gemischtem Ensemble bei seinem berühmt gewordenen ersten Spielfilm Liebe Mutter, mir geht es gut fielen keineswegs ab. Doch die Schwierigkeiten bei differenzierterem Rollen-Spiel — besonders auch wegen der meist kurzen Drehzeit, die zur Verfügung steht — wiegen schwerer als die authentische Besetzung.

Liebe Mutter, mir geht es gut, 1971 von Christian Ziewer und Klaus Wiese mit wenig Geld und geringer TV-Beteiligung produziert, war der erste Versuch — nach der «Zielgruppenfilmphase» — Probleme aus der Arbeitswelt so darzustellen, dass sie auch für ein grösseres Publikum zugänglich und verständlich wurden.

Da sich die Autoren von 1970 zwar an der Rezession von 66/67 orientierten, jedoch ohne ihre Geschichte als historische zu kennzeichnen, erscheint der Film allzu retrospektiv denn die Septemberstreiks von 1969 machten den Film mit seiner Perspektive des Einzelnen, der den Kampf wiederaufnehmen will, zu einem leicht hinkenden Vorläufer. Das mag auch daran gelegen haben, dass Ziewer/Wiese — um mechanistische Lösungen zu vermeiden — den subjektiven Faktor (über)betonten. Betrachtet man die Entwicklung der Berliner «Arbeiterfilme» mit ihren bislang sechs grossen Spielfilmen scheint mir eine Tendenz unübersehbar und fragwürdig. Ich meine die Linie vom Individuellen Helden (Alfred Schefczyk in Liebe Mutter..., respektive das Ehepaar Wolland in Kratisch/Lüdckes Die Wollands, 1972) zu stärker gruppenorientierten Geschichten (in Ziewer/Wieses Schneeglöckchen blühn im September, 1974, bzw. Kratisch/Lüdckes Lohn und Liebe, 1973/74), die dann jedoch wieder zugunsten von traditioneller Zwei-Personen-Dramaturgie (in Kratisch/ Lüdckes Familienglück. 1975, bzw. Ziewers 1976er Produktion Der aufrechte Gang) aufgegeben wurden.

Mag sein, dass die Emanzipationsdebatte der letzten fahre für die Autoren mitentscheidend war, die beiden letzten Filme stärker von Kleinfamilien- und Zweier-Beziehungs-Problemen her zu strukturieren. Auf jeden Fall sollte der Einfluss der coproduzierenden Fernsehanstalten nicht zu gering veranschlagt werden: Die Fernsehgewaltigen kennen ja nur einen «sogenannten» Radikalenerlass und «sogenannte» Berufsverbote. Und da nicht auszuschliessen ist, dass sie mit dem Bann ihrer Sprachregelungen die Information über weitere neuralgische Punkte dieser Gesellschaftsordnung zu erschweren suchen, um weiterhin ungefährdet auf den Intendantensesseln sitzen zu können, dürfte die Zeit für Filmarbeiter, die aufrecht gehen wollen, vorerst eher härter werden.

Literatur

AUSGEWÄHLTE BIBLIOGRAPHIE/BIBLIOGRAPHIE SELECTlVE

Neuer deutscher Film, Dokumentation, Hrsg. v. Verband der deutschen Filmclubs, Mannheim 1967.

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Velber bei Hannover 1968. Urs Jenny: Ein Rückblick auf den «Jungen deutschen Film» in: Protestfibel, Bern, München, Wien 1968.

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Frieda Gräfe, Enno Patalas: Die toten Augen, Filmkritik 1968, auch in: Im Off Filmartikel, München 1974.

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Christa Maerker: Bewusstseins — Topographie, über Made in Germany und USA, Internationales Forum des jungen Films, 24/1974. Zu Tagebuch 10/1975.

Wim Wenders: Äusserungen auf Tonband, Kellerkino Materialien, Bern 1975.

Peter Handke: Vorwort zu Im Lauf der Zeit, Drehbuch, Photos und Angaben zum Film, München 1976.

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Lutz Mez, Winfried Trempenau, Wilhelm Roth: Streik und Film, Materialien zur Filmgeschichte Nr. 5, Hrsg. v. Freunde der Deutschen Kinemathek, Berlin 1976.

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Wolfgang Limmer: Der Schneideraum ist keine Waffenfabrik, Überlegungen zum politischen Film, Film 8/1970.

Klaus Eder, Wolfgang Ruf: Politischer Film, proletarischer Film, medium 8/1974.

Arbeitsweltfilme und Arbeiten — beim Fernsehen, Filmkritik 3(1975).

LA DIFFICULTE DE MARCHER DEBOUT

Sous l'impression des récentes suspensions de fonctionnaires (surtout de professeurs) « radicaux » en RFA, Karl Saurer trace le développement toujours menacé du cinéma radical allemand depuis 1966. Après avoir esquissé et critiqué la phase du film didactique et interventionniste, il décrit les différentes formes de réponses du oinéma aux luttes sociales en Allemagne. Le cinéma, c'est certain, ne provoque pas de grèves; il peut les documenter et les interpréter.

Le rôle des écoles de cinéma de Berlin et de Munich devient évident ; elles représentent une base de production restreinte mais sans contraintes économiques et politiques. La télévision ne garantit rien, quoiqu'elle accepte parfois des documentaristes comme Wildenhahn et Gallehr qui y font un travail sérieux.

Le cinéma engagé allemand des dernières années s'est sensiblement dirigé vers le concret. Il se définit comme reflet des luttes et ne prétend plus en être l'animateur (qu'il ne fut jamais). Quelques films essaient de réveiller le souvenir de la tradition prolétarienne; d'autres analysent la situation extrême de la femme ouvrière et de l'ouvrier étranger.

Un nombre considérable de films de fiction récents ne sépare plus l'existence politique et l'existence familiale des protagonistes. Les films visent justement les frictions entre les deux sphères (et entre idéologie et réalité, entre dirigeants et base) et gagnent ainsi la crédibilité et la force concrète dont les films idéologiques de 68 à 70 ont souvent manqué.

La liberté des auteurs est limitée. Ils dépendent des stations de télévision qui sont les coproducteurs indispensables pour les films professionnels, et qui veulent dire leur mot. L'hystérie vis-à-vis des « radicaux » a contaminé les directeurs de programmes. Elle et les conventions tenaces du film de fiction conditionnent les cinéastes militants. La meilleure façon de marcher, la marche debout, est de nouveau grièvement menacée. (msch)

Karl Saurer
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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