BRUNO JAEGGI

DIE GRENZÜBERSCHREITUNG

ESSAY

Im Verlauf der siebziger Jahre hat der bulgarische Film jene entscheidende Grenze überschritten, die das Austauschbare vom Eigenständigen, das Gehabte vom Neuen, die Antwort von den Fragen trennt. Die persönlich geprägte, gesellschaftlich relevante Auseinandersetzung mit Individuum und Kollektiv hat begonnen. Die gestiegenen Ansprüche wirken endlich auch in die Breite; die Zeit, wo nur hin und wieder eine einzelne Schwalbe den Frühling ankündigte, ist vorbei. Die vorangegangenen Kapitel von CINEMA haben einige Aspekte dessen aufgezeigt, was erst eine kontinuierliche, vielfältige Filmproduktion zu tragen vermag. Der neue bulgarische Film ist aus einem nationalen Kulturbewusstsein heraus entstanden, das seit Jahren auf allen Sektoren stark gefördert wird, bis zur Musik des frühen Mittelalters und der Ikonenmalerei. Diese Suche nach den frühesten Spuren der bulgarischen Identität ist nicht zu trennen vom Charakter des Bulgaren, der durch die Geschichte vielfältige Einflüsse erfahren hat. Mit der impulsiven Kraft des Gefühls verbinden sich Kritik und Analyse zu einer Ehrlichkeit, die weder Mythen noch Tabus verschont. Dazu kommt die eigene Literatur, die sich — wie bereits aufgezeigt — als Nährboden für den Aufschwung des bulgarischen Kinos erwiesen hat, mit Autoren wie Chaitow (für sieben Filme!), Raditschkow, Rainow, Talew, Stanew, Stoew usw. Doch auch Schriftsteller, die nicht direkt die filmische Entwicklung beeinflusst haben, erklären Ursprung, Optik und Thematik vieler bulgarischer Filme. Etwa Jordan Jowkow, ein elegisch-lyrischer Prosaist, der das Wesen des Bulgaren aus dessen Vergangenheit heraus fassbar macht. Chaitow seinerseits hat den bulgarischen Film auch mit seinem Gesamtwerk inspiriert, nicht nur mit seinen Drehbüchern und verfilmten Erzählungen oder Romanen. Bei ihm schon findet sich jener Abstand zur Vergangenheit, der nur durch seine Sprache fühlbar wird; er interessierte sich für moralische und politische Probleme anhand auch «negativer» Figuren, und schon früh warnte er vor der Versachlichung menschlicher Beziehungen und der Missachtung wichtiger Traditionen, die durch den zunehmenden Wohlstand und technologischen Fortschritt zerstört werden könnten. Und schliesslich ist auch das heutige Niveau hervorragender Szenaristen wie Mischew (für sieben Filme), Russew, Papasow und anderer nicht aus dem Nichts heraus entstanden: Man denke nur an Angel Wagenstein, an Waleri Petrow, Wassil Akiow, Wassilew oder Ganew.

Innerhalb der Affinitäten zwischen Schriftstellern, Szenaristen und Regisseuren spielen auch etliche Kameraleute eine herausragende Rolle, Leute wie Spassow (vor allem), Janakiew, Trentschew, Tschitschow, Plamen, Wagenstein usw. Und auch das hat Tradition, dank Operateuren wie Emil Wagenstein, Todor Stoianow, Tassew und Georgiew.

Diese unforcierte, wenn auch etwas langsame Entwicklung wurde von «äusseren» Umständen nicht bewirkt, wohl aber — und immerhin — begünstigt: von den staatlichen Entscheiden, von der Herkunft und Ausbildung der Regisseure. Studiert man aufmerksam deren Biographie, so ergibt sich daraus ein einziges Fazit: Die Vielfalt der Ausbildung und des künstlerischen Impulses garantieren die Vielfalt der Filme selbst. Gewiss: Etliche Autoren absolvierten die Filmschule in Moskau, so Zachariew, Russew, Dulgerow und Terziew. Aber gerade Terziew, der seine Liebe zum Film in der Schauspielschule, als Operateur, dann als Amateurfilmer gefunden hat, zeigt einen sonderbaren und sympathischen Weg zum Füm auf. Georgi Stoianow lernte in Paris, Iwan Nitschew war in Lodz, Iwanka Grabtschewa in der DDR. Die einen arbeiteten lange als Regieassistent, andere — wie Schopow und Methodi Andonow — kommen vom Theater, wo auch Kirkow, Waltschanow, Russew und andere arbeiten. Andreikow wechselte für die Dreharbeiten vom Kritikerplatz hinter die Kamera; etliche übten sich beim Fernsehen oder im Dokumentarfilm. In letzterem zeichneten sich schon früh Zachariew aus (bereits 1967 mit einem Drehbuch von Mischew!) sowie Nitschew, Scharaliew und Georgi Stoianow, der sich 1969 ausdrücklich auf die Dokumentaristen Newena Toschewa und auf Zachariew berufen hat.

Kleine Filme?

Die genannte Grenzüberschreitung erfolgte nicht ohne den Einfluss durch andere Kinematographien; das Bedürfnis und die Notwendigkeit, sich der Gegenwart zu stellen, akzentuierten die Wende. Jetzt gibt es kein Zurück mehr — oder es wäre die Katastrophe; jetzt gibt es auch kein Verweilen, keine Repetition des bisher Erfolgreichen mehr — denn da wäre die Katastrophe in Raten, der Untergang in der Stagnation. Der bulgarische Film hat ein Versprechen abgelegt; er hat Neuland aus der Tradition heraus fruchtbar gemacht. Er hat, nach dieser (Selbst-)Entdeckung, weiterzugehen: in Wissen, dass Neuland in all seinen Dimensionen stets das ist, was vor einem liegt. Gerade die Art, wie diese Grenzüberschreitung erfolgt ist, zeigt eine Chance, die der junge Film der CSSR und Jugoslawiens Ende der sechziger Jahre nicht besessen hatte und die im «cinema nôvo» von Anfang an, von innen und aussen, bedroht war.

Gewiss: Die Grenzüberschreitung spiegelt sich in vielen einzelnen Filmen, ja selbst in Bildern unserer CINEMA-Nummer, in konkreter Weise. Sie öffnet die Optik für das, was jenseits des Zauns (nicht nur der Zachariew-Filme), was jenseits der Glasscheibe des U-Boot-Kommandanten bei Christow oder des technischen Fortschritts (Schopow) liegt. Sie meint nicht nur die vom modernen Film überwundene Grenze zwischen den einzelnen Genres und Tonlagen. Sie betrifft auch nicht allein die intensiv befragte Grenze, die Vergangenheit von Gegenwart, Land von Stadt, Dogma von Realität, Anonymes vom Individuum, Kompromiss von Ethik trennt. Eine Grenzüberschreitung gab es auch in der internationalen Kommunikation: durch den einsetzenden Dialog zwischen bulgarischen Filmemachern und Zuschauern in Ost und West, Nord und Süd, in der Sicht auf Probleme, die nationalen Charakter und universelle Resonanz haben. Bulgarische Filme werden heute in fast neunzig Ländern vertrieben, die Schweiz dagegen hat relativ spät von dieser Grenzüberschreitung erfahren — obwohl zwischen Bulgarien und unserem Land sowie in der Suche der Filmautoren dort und hier viele Affinitäten, ja Parallelen bestehen. Rechnung getragen hat dem Aufschwung des bulgarischen Kinos dagegen die Internationale Filmkritik, die Ende Oktober/Anfang November 1976 in Sofia ein gelungenes Symposium über den bulgarischen Film veranstaltete.

Bei diesem Anlass kam ein offensichtlich hartnäckiges Missverständnis auf, als von «grossen» und «kleinen» Filmen gesprochen wurde. Vielleicht ist die Schweiz ein guter Platz, um von hier aus den Unterschied zu definieren. Denn innerhalb der Weltproduktion sind die Filme von Tanner, Soutter, Reusser, Koerfer, von Gunten, Lyssy, Gloor und vielen andern durchaus kleine Filme: was Aufwand, Budget und Lautstärke der Dramaturgie betrifft. Es sind dies Filme, die sich so weit wie nur möglich vom industriell Erzeugten entfernen, Filme, die im Kleinen, Allegorischen das Grosse suchen und sich durch die Distanz zur Grossproduktion relativ viel geistige und künstlerische Freiheit behaupten. Das sind kleine Filme, was ihre «Kleider», ihren «Wohnstil» betrifft — aber, ganz ohne Chauvinismus, zumeist grosse Filme, was ihre Substanz und das Cineastische angeht. Und im Gegensatz zu etlichen ihrer Kollegen haben auch Andreikow, Stoianow, Zachariew, Schopow, Terziew und andere bewiesen, dass nicht die aufgeblasenen Visagen, sondern die faltenreichen Gesichter die interessantesten sind, dass die verkleinernde Distanz die nötige Durchsicht erlaubt und nicht das aufdringliche Fresko, dass im kleinen Alltag Wahreres und oft auch Heroischeres durchschimmert als in der Historie, als im lauten Effekt und vordergründigen Aufwand.

Hier muss man wieder einmal zu verstehen geben, dass im Westen auf die Dauer nur diese «kleinen», gegenwartsbezogenen Filme des Ostens eine Chance haben. Leise Filme, die die «Monstrosität des Alltags» (Umberto Rossi) verraten, wecken unser Verständnis — sie gehen uns etwas an, nicht die monströsen Revolutionsepen. In den persönlichen Filmen brechen sich denn auch vielmehr Erbe und Identität einer Nation. Wobei allerdings Talente wie Christo Christow darauf achten müssen, dass sie nicht zu international bewanderten Eklektikern werden.

Wasser im Wein

Ein weiteres Missverständnis wurzelt in einer zweifelhaften filmischen Tradition: nämlich die fatale Trennung von Inhalt und Form. Nicht selten tut man so, als ob der Film ein Vehikel wäre, mit dem Ideen und Stories transportiert würden: Inhalte, die man — je nach den Diskussionen mit Kollektiv und Direktion — wie Regenmäntel, Erbsen oder Weinflaschen austauschen könnte. Am leichtesten lässt sich das in jenen, glücklicherweise seltener gewordenen Filmen nachweisen, die revolutionäre Momente der Geschichte in einer urkonventionellen Form weitertragen, in der Meinung, auf diese Sprache Hessen sich irgendwelche revolutionäre Ideen aufpropfen. «Le style c'est l'homme» mag ein Bonmot sein. Aber auf die Identität bezogen, heisst das immerhin, dass I die Form der Inhalt und dass der Inhalt die Form ist. Wo man etwas ändert, verlagert sich das Ganze. Und wenn ich! bei manchen Filmen den Eindruck habe, hier sei eine grosse Drehbuch-Idee ohne feste Linie umgesetzt und somit aus dem Ursprung etwas anderes gemacht worden, so hat dies sicher mit dieser Praxis zu tun. Es ist, als trüge man Wasser in den Wein.

Ähnliche für die weitere Entwicklung des bulgarischen Kinos nicht unbedenkliche «Missverständnisse» gibt es in der Reflexion über die filmische Sprache und deren Rezeption durch das Publikum. Wenn sozialistische Publizisten oder Kritiker glauben, von Ästhetik und Ideologie sprechen zu können, muss man sich leise schockiert fühlen. Denn Ästhetik, Filmsprache ist Ideologie. Das gilt so gut für Hollywood wie für Moskau, für Paris wie für Tokio und Sofia. Um das einzusehen, braucht es keinen strukturalistischen Exkurs. Und es ist nun schlichtweg ein Unding, mit (kritischen) Filmen eine Gesellschaft in Richtung Zukunft weiterbringen zu wollen, mit einer Sprache, die schon nur durch den gewohnten Gebrauch und ihren zu Klischees gewordenen Codes eine Sprache der Macht ist und so nur das bereits Herrschende und Geherrscht-Habende weiterträgt.

So wirkt es rührend und bemühend zugleich, eine Liste aufzustellen, eine unvollständige selbstredend, um zu beweisen, dass die künstlerisch «besten» Filme die Masse ins Kino lockten und dass die «schlechtesten» bloss minimalstes Zuschauerinteresse weckten. Die im Kapitel «Wie aktuell ist Vergangenheit» zitierten Äusserungen von Todor Andreikow und Christo Ganew über den modernen Film und dessen Verhältnis zum Zuschauer bieten bereits eine weitsichtigere Replik auf diese Mentalität. Und schliesslich zählt das Publikum nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ: Wichtig ist, was wie im Kopf des einzelnen Zuschauers geschieht. Die Zeit des Personenkults und der Hollywood-Traumfabrik ist im modernen Film bewältigt. Nicht Monolog oder Identifikation ist gefragt, sondern der Dialog mit dem Zuschauer, sein dialektisches Verhältnis zum Dargestellten und der Form, mit der die Fiktion arrangiert, die Allegorie geöffnet, die Sprache transparent wird. Der Lärm der Leinwand kann nicht weiter die wichtige Stille übertönen; die Magie hat ihren lähmenden Bann verloren; der Zuschauer ist nicht mehr das Kind, das vom Opa-Regisseur an der Hand geführt wird. Daraus erwächst die ganz natürliche, und die ganz notwendige, Konsequenz, dass der moderne Film dem Publikum immer etwa voraus ist. Wenn man das Publikum daran gewöhnt hat, Ansprüche an den Film zu stellen, sich selbst miteinzubringen, Ansprüche somit auch an sich selbst zu stellen, ist das ein ganz normaler, fruchtbarer Prozess. Und es stimmt nun einfach nicht, wenn bulgarische Kritiker behaupten, der diese Richtung verfolgende Autorenfilm verliere sich leicht in Isolation sowohl gegenüber dem Publikum als auch gegenüber der Aktualität. Genau das Gegenteil Hesse sich anhand von Regisseuren beweisen, deren Namen aufzuzählen den Rahmen dieses Artikels sprengen würde. Ganz abgesehen davon, dass diese penible Optik auf die «Autoren» auch in anderen Kunstformen nie und nimmer zutrifft. Wenn sich — beispielsweise — der bulgarische Film auf die Codes und Zeichen des Bestehenden stützen will, weil diese nun (allmählich) vom Zuschauer verstanden werden, dann wird es um den bulgarischen Film bald wieder sehr, sehr still werden.

Auch von dieser Warte aus darf kein Wasser in den Wein getragen werden. Die Anbiederung mit dem sogenannt «breiten» Publikum, die sich in den kapitalistischen Ländern durch Profit-Kalkül und politische Nivellierungs-Absichten erklärt, ist der grösste Feind des filmischen Fortschritts und dadurch auch der grösste Feind für jenes Publikum, das mit sich und dem Film weiterkommen will und soll. Wo indessen Vertrauen herrscht in das behandelte Thema, in die zur Anwendung kommende Technik und schliesslich in die geistigen und emotionalen Fähigkeiten des Zuschauers, wird Film Zukunft haben.

Daher ziehe ich starke Persönlichkeiten, auch wenn sie Widerspruch wecken, jeder Form von vorsichtigem Kim vor. Nur durch den Mut auch zum möglichen Misserfolg kann Neuland erschlossen werden. Das Familienfernsehen bietet uns zur Genüge nett und artig seine Konsumationsartikel an. Und aus Distanz betrachtet interessiert es mich auch nicht, ob Filme wie Die kleine Insel (1958), Erste Lektion (1960), Wir waren jung… (1961), Der Pfirsichdieb (1964) oder Vögel und Windhunde (1968) Publikumshits waren oder nicht. Entscheidend ist, dass die offene, neue Struktur dieser Filme massgeblich am Durchbruch, an der Grenzüberschreitung des bulgarischen Films beteiligt war — um von den später folgenden Filmen erst gar nicht zu reden.

Beispiele

Ebenfalls aus Distanz betrachtet, fällt auf, dass der bulgarische Film im Zusammenhang mit Codes, Zeichen und Filmsprache selbst in konkreten Punkten, die wie Details erscheinen mögen, noch einen weiten Weg zurückzulegen hat. So etwa in der Sichtbarmachung des Fiktiven, in der Reflexion über die (fast durchweg fehlenden) Plan-Sequenzen, in der Darstellerführung, der Musik usw. Dazu einige konkrete Beispiele.

Die Schnitt-Gegenschnitt-Folge (etwa im Dialog) glaubt man bei uns vor allem vom (amerikanischen) Starsystem geerbt zu haben. Der schweizerische, antibürgerliche Film (Tanner) ist nicht der einzige, der damit rigoros gebrochen hat. Das ist heute — Star hin oder her — cinéma de papa. Das ist pures Identifikationskino, Filmsprache als Vehikel, äusserliche Absorption. Erstaunlicherweise strotzen heute noch viele bulgarische Film von Nah- und Grossaufnahmen, von an das vordergründige Geschehen gebundenen Travellings. Ob das ein noch nicht reflektiertes Erbe aus dem Personenkult ist? Und: Woher rührt es, dass in so vielen Filmen, selbst bei Christow und Scharlandshiew, die Darsteller wie auf der Bühne auf- und abtreten, dass sie in vielen Dialogszenen theatermässig geführt werden? Viele Schauspieler machen einfach «ihre Nummern»; sie denken an den äusserlichen Effekt und wollen das aufdrängen, was Sache einer sensibel registrierenden Kamera wäre. Sie bemühen sich peinlich um «Wirklichkeit», wo doch der moderne Film bestenfalls auf Wirklichkeit verweisen kann. Glaubt man, der Schauspieler — und noch der beste — sei autonom, er habe sich nicht zu integrieren, ja unterzuordnen einer Sprache aus Bildkomposition und -ausschnitt Rhythmus, Distanz, Musikschnitt, usw.? Gewiss: Es gibt Ausnahmen. Weitgehend bei Zachariews Erstling, bei Stoianow, zum Teil bei Terziew, sicher bei Andreikow. Ausnahmen sind auch Darsteller wie Itzhak Fintzi, Iwan Grigorow (Das starke Wasser), Pawel Popandow (Reigen der Nymphen, Die Grille im Ohr). Zu oft aber verpatzt das Expressive der Darsteller die beste Sequenz, und (auch) eine Grossaufnahme

— die alles anderer als leicht ist — wirkt nur dann schön, wenn sie auch notwendig ist.

Kritisches gilt auch für den Gebrauch der Musik. Zumeist bleibt sie nur begleitende Berieselung, unterstreicht sie

— wie im vorgestrigen Kino — die ohnehin schon unterstrichenen Momente. Sie ist selten das, was Musik im verwandten Medium Film sein sollte: selbständiges Element im (dialektischen) Ausdruck. Ausnahmen dazu bilden die Filme von Zachariew, Stoianow, zum Teil Terziew, und ganz befreit von diesem Problem zeigt sich Todor Andreikow. Iwan Nitschew verdankt der Musik, wie Schopow und andere, die dichterischsten, schönsten — aber ein paar Mal auch die gefährlichsten Momente. Und es lohnt sich, nachzusehen, wer die vorzügliche Musik zu den Filmen von Zachariew, Nitschew, Schopow und Stoianow geschrieben hat — jedes Mal Kiril Dontschew!

Nur ein Wunder?

Diese unvollständigen Einwände mögen nur jene erstaunen, die glauben, irgendeine Kinematographie sei je als Ganzes vollkommen. Es ist nur natürlich, dass auch bei der Grenz-Überschreitung noch altes Gepäck mitgenommen wurde. Vorab die junge Generation hatte da weniger Abschiedsprobleme als die Generation, die schon in den fünfziger und sechziger Jahren dabei war. Meine Kritik schmälert auch nicht die enormen Fortschritte des bulgarischen Films: Sie lässt sie, im Gegenteil, akzentuierter hervortreten. Man kritisiert nur differenziert, was man liebt: Und Liebe, Vertrauen verdient der bulgarische Film von heute ohne jeden Zweifel. Vieles spricht dafür, dass es sich hier nicht nur um eines jener «Wunder», um eine jener «Explosionen» handelt, von denen der Kritikerjargon bis zur Unerträglichkeit voll ist, ehe das Gefeierte jäh wieder im nüchternen Alltag versinkt. Eine so harmonisch erfolgte Reife und Grösse, wie sie der bulgarische Film ohne Skandalerfolg und Forciertheit erreicht hat, kann kaum so leicht zum Rückschlag führen.

Auch der neueste Schritt in der anpassungsfähigen Organisation der bulgarischen Kinematographie nährt dieses Vertrauen. Vor wenigen Monaten wurde ein viertes Arbeitskollektiv geschaffen. Sein Name: Savremennik («Zeitgenosse»). Da liegt bereits im Namen ein ganzes Programm vor. Es lohnt sich auch, die Zusammensetzung dieser jüngsten Gruppe näher zu besehen. Für die Leitung sind der Regisseur Ludmil Kirkow und der Drehbuchautor Athanas Zenew (Hauptredakteur) verantwortlich. Unter den Szenaristen finden wir: Waleri Petrow, Athanas Zenew und Georgi Mischew. Die Regisseure heissen: Eduard Zachariew und Iwan Terziew, der übrigens sein neuestes Projekt wiederum mit dem talentierten Boian Papazow plant. Bis jetzt sind zwei Filme bereits in Produktion und vier in Vorbereitung. Nikola Ruda-row (Den Apfel aufessen) dreht seinen zweiten Film, nach dem Drehbuch von Zenew: Leute von der Ferne. Matriachat heisst der Film von Ludmil Kirkow, der seit 1974 nun zum dritten Mal mit Georgi Mischew Zusammenarbeit. Und Ludmil Kirkow selbst meint zum Kollektiv Savremennik: «Die Hauptsache ist, dass die Filme der Gruppe sich mit wichtigen (zeitgenössischen) Problemen auseinandersetzen, die ernst und ehrlich gestellt sind.»

PASSAGE DE FRONTIERE

Le cinéma bulgare des années 70 a passé la frontière quj sépare le quelconque du spécifique, le déjà-vu de l'innovation. Il doit ce progrès à certains éléments dont il a déjà été question dans d'autres chapitres: l'apport de la littérature, la diversité de formation des cinéastes, des structures administratives adéquates et le respect à l'égard du spectateur.

Bruno Jaeggi soulève la question si cette évolution est temporaire (comme elle l'a été en Yougoslavie et en Tchécoslovaquie) ou si elle est irréversible. Il constate que les critiques bulgares ne sont pas toujours à la hauteur de ce nouveau cinéma. Ils continuent à distinguer de manière idéaliste entre le contenu idéologique d'un film et sa forme esthétique et à condamner comme élitaire les films ne trouvant pas un public large. Le cinéma bulgare est allé au-devant des exigences d'un public adulte. Il ne peut pas revenir en arrière, même si nous y trouvons toujours des résidus d'un «cinéma de papa». Afin de pouvoir s'en libérer, il lui faut la confiance des responsables. La oréation récente d'un quatrième collectif nommé Savremennik (Contemporain) semble prouver qu'elle lui est acquise. (meg)

Bruno Jaeggi
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]