BERNHARD GIGER

DIE «SPRACHLOSEN» DÜRFEN NOCH IMMER NICHT SPRECHEN — KONTRADIKTORISCHES ZU GLOORS KONRAD STEINER

CH-FENSTER

Bisher wurde jeder grössere Schweizer Film in «Cinema» von einem Kritiker nur besprochen. Diese Besprechungen waren meistens positiv. Der Leser musste daraus schliessen, dass sämtliche Mitarbeiter alle Schweizer Filme gut finden. Dem ist aber glücklicherweise nicht so: innerhalb der Arbeitsgemeinschaft prallen nicht selten sehr verschiedene Meinungen über diesen oder jenen Film aufeinander. Wir wollen diese Meinungsverschiedenheiten nicht länger für uns behalten — darum drucken wir hier erstmals zwei Kritiken zu einem Film ab. Wir hoffen, dass wir damit die Diskussion über die Schweizer Filme, die zu oft nicht richtig stattfindet, beleben können. (Anm. d. Red.)

In seinem Aufsatz über «Heimat und Entfremdung im neuen Schweizer Film» schrieb Alexander J. Seiler:

Das ist ein zentrales Motiv, das sich durch den gesamten neuen Schweizer Film hindurchzieht: Menschen sprechen zu lassen, Menschen zur Sprache zu bringen, die vielleicht das Stimmrecht, aber keine Stimme haben, die nicht gehört werden oder die vollends verstummt sind.

Auch Kurt Gloor Hess solche Menschen zu Wort kommen, Bergbauern, Alkoholiker und Hausfrauen draussen im Grünen. Er vermittelte die Versuche der «Sprachlosen», sich zu formulieren, aber niemals so sorgfältig wie Yves Yersin in Die letzten Heimposamenter oder Roman Hollenstein in Freut euch des Lebens, er ging nie mit der Zärtlichkeit an sie heran wie Walter Marti in Ursula, er zeigte nie so viel Verständnis für ihre Probleme wie Fredi Murer in seinem Berglerfilm. Kurt Gloors Dokumentarfilme hatten stets Knall-Effekt, es waren Filme wie «Blick»-Schlagzeilen. Anstatt in den Gesichtern der Menschen die Spuren des Aussenseitertums, der Unterdrückung oder der Einsamkeit zu suchen, vergrösserte Gloor sie zu Plakaten: der Bergbauer, der Alkoholiker und die grüne Witwe als Negativ der Werbegesichter der grossen weiten Welt. Anstatt ihnen wirklich zuzuhören, machte er sie zur Sensation.

So etwas schlägt ein — was genaue, trockene Analysen nur selten schaffen, war bei Gloors Filmen selbstverständlich: sie provozierten, über sie wurde heftig diskutiert. Schlagzeilen jedoch vergisst man bald wieder, die Sensationen, die sie anbieten, werden von anderen, neueren überboten. Schlagzeilen verändern nichts, sie sind wie kleine elektrische Schläge, von denen man sich rasch erholt. Sicher, andere schweizerische Dokumentarfilme sind beim Publikum weit weniger gut angekommen als die von Gloor. Wer sich aber in den stilleren Filmen die Mühe nahm, den «Sprachlosen» wirklich zuzuhören, der wird diese Sprache niemals mehr vergessen können.

Mit seinem ersten abendfüllenden Spielfilm nun hat Kurt Gloor andere Töne angeschlagen — er hat den Protestknopf abgelegt. Aber er ist von einem Extrem ins andere gefallen, etwas grob ausgedrückt vom lärmigen, ungenauen und lieblos gemachten Sensationskino ins weinerliche, gefällige und unkritische Trivialkino. Die Gesichter — wenigstens die der beiden Hauptdarsteller Sigfrit Steiner und Silvia Jost — sind zwar keine Plakate und die Menschen dürfen ein bisschen mehr sich selber sein als in den früheren Filmen. Aber während die früheren Filme provozierten, stösst Steiner nirgends mehr an.

Erzählt wird eine allgemein bekannte Geschichte: Steiner ist ein alter Mann, er verliert seine Frau, dann werden ihm Wohnung und Werkstatt gekündigt. Steiner wird ausser Betrieb gesetzt, im Altersheim soll er auf seinen Tod warten.

Was Steiner erlebt, erleben heute die meisten Alten. Unter den Zuschauern seines Films wird Gloor kaum einen finden, der nicht auch von irgendeinem ähnlichen Erlebnis mit Alten erzählen könnte. In jeder Familie lebt ein Steiner.

Von einem Film, der vorgibt, ernsthaft über ein Problem zu sprechen, erwartet man, besonders wenn man selber täglich mit diesem Problem konfrontiert wird, dass er einem etwas mitgibt auf den Weg, erwartet man eine Botschaft. In Gloors Film muss man lange auf sie warten: am Schluss fliegt Steiner, anstatt ins Altersheim zu gehen, in den warmen Süden. Das ist also die Lösung: wer alt ist und nicht mehr gebraucht wird und sich dennoch nicht abschieben lassen will, geht auf die Bank, hebt über 30 000 Franken ab und fliegt dann in den Süden. Ausser Lina Braake kann ich mir keinen alten Menschen vorstellen, der ein solches Unternehmen noch wagen würde. Sinkel und Brustellin haben eine Komödie gedreht, Lina Braakes Flugzeugreise passt zur verspielten Geschichte. Gloor hingegen hat einen traurigen Film gedreht, in dem es nicht viel zu lachen gibt, er hat einen «realistischen» Film gedreht mit einem bewusst unrealistischen Schluss. «Ich will den Zuschauer nicht resignieren lassen, sondern ihm Mut machen», meint er dazu. Was traurig anfängt, soll nicht traurig enden — das tönt mir zu amerikanisch. Nicht Mut macht dieser Schluss, er lenkt, wie jedes konventionelle Happy-End, von den wirklichen Problemen ab.

Nach Steiner ist man sich einig: die Alten haben es schwer. Warum, das weiss man, wenn man's vor dem Film noch nicht wusste, auch nachher nicht. Ich will Kurt Gloor nicht unterschieben, dass es ihm gar nicht darum ging, sich ernsthaft mit der Situation der Alten auseinanderzusetzen, sondern bloss darum, eine gefällige Geschichte zu erzählen. Schliesslich hat er sich lange auf den Film vorbereitet: «...ich war in Altersheimen, Pflegeheimen, Alterssiedlungen, Armenasylen, psychiatrischen Kliniken, Herbergen, Alterclubs, Beratungsstellen, Selbsterfahrungsgruppen für Betagte, Werkstätten, sprach mit Sterbenden, mit Pflegepersonal, mit Behörden, mit Sozialarbeiterinnen, Planern, Pfarrern, Fürsorgern usw.» Wer so gründlich recherchiert, sollte deutlicher sprechen. In Steiner gibt es keine Schuldigen, alle die mit dem alten Mann in Kontakt kommen, sind so «menschlich», jeder tut, was er für richtig hält, jeder «meint es gut» mit dem mürrischen Greis. Anstatt zu zeigen, wie die Alten, als seien sie Aussätzige, in Heime an den Rand der Stadt vertrieben werden, weil wir damit unsere eigene Angst vor dem alt werden verdrängen können; anstatt die Grausamkeit unserer «Hilfe» zu zeigen, erzählt Gloor eine melodramatische Geschichte: ein einsamer Alter trifft eine junge Sozialarbeiterin, für ihn beinahe noch ein Mädchen, die ihm die Schönheit des Lebens zeigt. Eine Groschenromangeschichte könnte nicht rührender sein.

In einigen kleinen Szenen sieht man, wie Steiner die anderen Menschen liebt: bevor er ins Spital geht, nimmt er aus der Fruchtschale auf dem Tisch Birnen für seine Frau, für kleine Kinder lässt er die Puppe in seinem Werkstattfenster tanzen, einem Mädchen zeigt er Zauberkünste — mit solchen Szenen wird das «Image» Steiners aufgebaut, wird er uns sympathisch gemacht. Wir schliessen ihn in unser Herz. Darum muss es brechen, wenn der Briefträger Steiner die Kündigung bringt. Kinofiguren, für die man sich einmal entschieden hat, verlässt man nicht wieder, man lacht und leidet mit ihnen bis zum Ende. Gloors melodramatische Konstruktionen sind bekannt aus vielen amerikanischen Filmen und ihren europäischen Kopien. Diese Art Kino hat dem Zuschauer die Freiheit genommen, sich für oder gegen einen Helden zu entscheiden. Sie will überzeugen, anstatt nur zu zeigen. Den Kampf, den das «andere Kino», zum Teil also auch die Filme aus der Schweiz, in den letzten Jahren ausgetragen hat, war auch ein Kampf gegen die Unterdrückung und die Verführung des Publikums. Erst wenn die Menschen — sowohl die, die der Film abbildet wie die, an die er sich wendet — wieder frei sein dürfen, wieder selber urteilen dürfen, erst dann wird das Kino sich verändern. Kurt Gloor scheint an diesem Unternehmen nicht besonders aktiv mitzuarbeiten: nach den Bergbauern, den Alkoholikern und den grünen Witwen hat er einen Film über alte Menschen gedreht. Er hat dafür eine völlig andere Form benutzt, sonst aber ist er der gleiche geblieben: die «Sprachlosen» dürfen bei ihm noch immer nicht selber sprechen.

Die plötzliche Einsamkeit des Konrad Steiner. Schweiz 1976, 35 mm., Farbe, 101 Minuten. P: Kurt Gloor Filmproduktion Zürich, Atlanitc Film Zürich; R: Kurt Gloor; B: Kurt Gloor; K: Franz Rath; M: Peter Jacques; D: Sigrit Steiner, Silvia Jost, Ettore Cella, Alfred Rasser, Felix Klee, Helmut Förn-bacher, Lilian Westphal, Emil Steinberger. rehzelt: 7 Wochen. Verleih Schweiz: Rialto Film AG Zürich.

LES «SANS-VOIX» N'ONT TOUJOURS PAS VOIX AU CHAPITRE

Donner la parole à ceux qui ne l'ont pas est — comme l'a écrit Alexander J. Seiler — un des motifs principaux du nouveau cinéma suisse. C'est bien ce que Kurt Gloor a fait dans ses films documentaires. Seulement ces «êtres sans paroles» — montagnards, alcooliques, veuves vertes — sont devenus des sensations; un peu comme les titres, les manchettes du journal «Blick». Gloor ne cherchait pas, dans les visages des gens, les traces de l'oppression et de la solitude; les visages qu'il reproduisait étaient des affiches — des négatifs des visages publicitaires de ce vaste monde.

La soudaine solitude de Konrad Steiner, le premier long-métrage de fiction de Gloor, est un film discret, retenu; les visages ne sont plus des affiches. Mais Gloor est tombé d'un extrême à l'autre: après un tapageur cinéma à sensation il s'est lancé dans un cinéma trivial et pleurnichard. Steiner est un vieil homme qui doit être relégué dans une maison pour personnes du troisième âge. Gloor ne montre pas pourquoi nous chassons les vieux comme des lépreux dans des asiles tout au bord de la ville; il ne dit pas que par là nous essayons de refouler notre propre angoisse de vieillir; il ne parle pas de la cruauté de notre «assistance», mais raconte une émouvante histoire dans le style des romans à quatre sous. Les visages qui, auparavant, étaient des affiches, sont maintenant devenus des personnages mélodramatiques de cinéma: chez Kurt Gloor, les «sans-paroles» n'ont toujours pas le droit de parler eux-mêmes. (AEP)

Bernhard Giger
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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