BERNHARD GIGER

ROUTEN DURCH WEISSE FLÄCHEN — ANMERKUNGEN ZU EINIGEN FILMEN VON ALEXANDER J. SEILER UND JUNE KOVACH

CH-FENSTER

1963, als In wechselndem Gefälle in Cannes mit der goldenen Palme für den besten Kurzfilm ausgezeichnet wurde, eröffnete The Birds das Festival, machte 8 1/2 den Schluss, verlieh die Jury den grossen Preis an II Gattopardo. Ende 1976, anfangs 1977 wurde Die Früchte der Arbeit fertiggestellt. Es ist der neunte Film von Alexander J. Seiler und seiner Lebens- und Arbeitspartnerin June Kovach seit dem Auftragsfilm für die Schweizerische Verkehrszentrale. In Kürze wird Fellinis siebter Film seit 8 1/2 anlaufen, im letzten Jahr lief Hitchcocks fünfter seit The Birds und Viscontis achter seit II Gattopardo. 1963 wurden Fellini, Hitchcock und Visconti als «Meister» gefeiert, 1976 sind sie schon beinahe Heilige, ihre Werke sind unantastbar geworden. Wenn Hitchcocks Suspense langweilig, wenn Viscontis Bilder unsorgfältiger gestaltet und weniger eindringlich, wenn Fellinis Launen grössewahnsinnig werden, nimmt man das weitherum kritiklos hin. Um bei diesen drei Beispielen zu bleiben: Ohne zu vergessen, dass diese drei einmal Strangers on a Train und North by Northwest, I Vitelloni und La dolce vita, La terra trema und Rocco e i suoi fratelli realisiert haben, dass sie, der eine in Amerika, die anderen beiden in Europa, in Italien, mit ihren Werken die Filmgeschichte mitgeschrieben haben, ohne zu vergessen schliesslich, dass, hätten sie die erwähnten Filme nicht gedreht, alles, was sie damit geleistet haben, erst noch nachgeholt werden müsste, ohne oder gerade darum, weil dies alles nicht in Vergessenheit geraten sollte, müssen wir, die wir von uns behaupten, das Kino zu lieben, unserer Verehrung für die alten Meister ein Ende setzen. Wenn wir wirklich an Filmen interessiert sind, die nicht bloss längst Bekanntes und längst Erreichtes bestätigen, müssen wir Abschied nehmen — Abschied von jenen Autoren, die in den vierziger und fünfziger Jahren die Filmgeschichte schrieben.

In seinem 1955 veröffentlichten «Brief über Rossellini» schrieb Jacques Rivette, dass es im Unterschied zu Rossellini Autoren gebe, die zwar vielleicht nicht weniger gross seien, deren Werk aber, «nachdem sie an einem bestimmten Punkt ihrer Karriere angekommen sind, sich in sich selbst zurückzieht; was sie machen stimmt nur noch für sie und aus ihrer Perspektive. Das ist der Endpunkt einer Kunst, die nur noch sich selbst Rechenschaft schuldet, die alles Tasten und Suchen hinter sich gelassen hat.»

Die letzten zehn, fünfzehn Jahre werden in die Filmgeschichte nicht als Zeit der Veränderung eingehen, sondern als Zeit ständiger Wiederholungen. Sicher, es gab die Nouvelle Vague, aber was hat sie denn wirklich verändert, was ist von ihren Ideen nach den ersten Versuchen noch geblieben: Rivettes lange Filme und Godards radikale Manifeste gegen sämtliche Kinokonventionen. Es gab Kluge und Straub, aber nach «Abschied von gestern» verlief sich Kluge in intellektuelle Spielereien, die für den Zuschauer schwer nachvollziehbar sind und Straub nimmt man die Behauptung, Othon sei beim Arbeiterpublikum angekommen, auch nicht ganz ab. Es gab all’ das, was Seiler während seiner Weltwoche-Zeit — und nicht nur er — «neuer» Film nannte. Während der letzten zehn Jahre erschienen auf der Leinwand Bilder, die man bisher nicht gesehen hatte. Die Hoffnungen aber, die viele in diese Bilder setzten, wurden dann zu Illusionen. Denn unser täglich Brot wird weiterhin in Amerika oder seinen europäischen Ablagen gebacken. Das Kino ist auch heute noch kein freies, die Filmindustrie will das Kino noch immer nicht zum Ort der Auseinandersetzung werden lassen.

1963, nochmals, wurde in Cannes Seilers «Erstling» aufgeführt. 1977 hat Seiler eine für schweizerische Verhältnisse imposante Filmographie vorzuweisen. Den Endpunkt aber hat er noch lange nicht erreicht. Im Gegenteil; mit diesem über fünf Jahre entstandenen Dokumentarfilm, mit der Verwirklichung dieser «Idee, die schon lange im Raum stand» (Seiler), hat er ein Werk geschaffen, das wie kaum ein zweites des neueren Schweizer Filmschaffens das Ergebnis ist einer Entwicklung, die geprägt ist von dem, was Rivette Tasten und Suchen nennt.

Siamo Italiani — ein Film, den man eigentlich gleich anschliessend an II Camino della speranza von Pietro Germi zeigen sollte — steht am Anfang des neuen Schweizer Films, genauer am Anfang der schweizerischen Dokumentarfilmbewegung. Obschon er sieben Jahre nach Nice Time erschienen ist, sieben Jahre also nach jenem Film, den man üblicherweise als den ersten des neuen Schweizer Films bezeichnet, kündet sich in ihm erstmals mit aller Deutlichkeit das Thema an, das sich dann durch den ganzen schweizerischen Dokumentarfilm hindurchzieht: den Unterdrückten, Ausgebeuteten, Ausgestossenen und Behinderten, den «Sprachlosen» haben sich die Dokumentaristen gewidmet, für sie haben sie Ton und Bild freigegeben. Die schweizerischen Dokumentaristen haben das «andere» Bild der Schweiz geschaffen. Sie sind in die Totale, in der die Postkarten die schweizerische Landschaft zeigen, hineingestiegen, sie sind in die Häuser, die auf den Karten Punkte sind, hineingegangen und haben ihren Bewohnern bei der täglichen Arbeit zugeschaut, sie haben auf den Strassen, die auf den Karten Striche sind, nicht nur oder sogar nur selten glückliche Menschen getroffen.

1964 wurden die Fremdarbeiter in der Schweiz langsam aber sicher zum Problem, das kleine Herrenvolk, das sich in Gefahr sah, hatte nun auch seine «Neger». Mit Siamo Italiani reagierte Seiler auf dieses Problem. Da er «den Fremdarbeiter», «den Italiener» selber so wenig kannte wie die meisten anderen Schweizer auch, wollte er ihn, dies hingegen im Unterschied zu den meisten anderen Schweizer, kennenlernen. Er ging nicht mit einer vorgefassten Meinung zu ihm, nein, er hörte seinen Erzählungen zu und er beobachtete ihn, bei der Arbeit, in den Baracken, vor einem Kino, in einem Nachtlokal, beim Kauf eines Autos. Gerade durch diese Beobachtungen, durch die Zurückhaltung, mit der Seiler die Fremdarbeiter zeigt, wirkt dieser «unpolitische» Film überzeugend. Was er nicht ausspricht, dass die Italiener dazu missbraucht werden, einen Wohlstand zu errichten, der dann nicht der ihre ist, an dem sie dann nicht teilhaben dürfen, dass die Italiener eigentlich nur Maschinen und keine Menschen sind, das zeigen die Bilder umso deutlicher. Zwei Jahre vor Siamo Italiani hat Seiler «sein» Land, «seine» Heimat in einem Werbefilm für die Schweiz beinahe abstrakt abgebildet, «weil deren blosses Abbild uns entfremdet ist», in seiner ersten unabhängigen Produktion suchte er eine Schweiz, die vorher selten abgebildet wurde, eine Schweiz, die man in den Filmen der fünfziger Jahre nicht gesehen hatte.

Siamo Italiani wurde kein, auch kein schweizerischer, Box-Office-Hit. Siamo Italiani war eine unzweideutige Absage an das, was Seiler damals «Papas Kino» nannte, an ein Kino, das nicht erklären, verdeutlichen, das der Wirklichkeit, die es vorgibt abzubilden, nicht gerecht werden, sondern das wegführen, ein paar angenehme Stunden bieten, ein Freizeitfüller sein will. Sein Erscheinen ist vergleichbar mit dem Erscheinen von Shadows vier Jahre früher in den USA.

1967: Godard realisierte Week-end, Seiler Musikwettbewerb. Godard reagierte sehr direkt auf die Wirklichkeit, dieser Film sei auf dem Schrotthaufen gefunden worden, heisst es am Anfang. Seiler hingegen zog sich zurück in eine Welt fernab der Unruhen draussen auf den Strassen. Dies mag einer der Gründe sein, warum der Film damals nicht besonders ankam, er war leise und fein anstatt laut und böse, er verlangte vom Zuschauer ungeheure Konzentration anstatt klipp und klar zu sagen, auf welcher Seite er stehe, gegen welche Seite er agiere. Die Aussage von Week-end war zwar auch nicht klipp und klar, Godard zeigte aber immerhin dieselbe Hässlichkeit, die einem auch täglich fertigmachte. Seilers Musikwelt war unbekannt und — vor allem für jene, die sich ihren Protest durch die Rolling Stones anheizen Hessen — uninteressant. Und dennoch ist Musikwettbewerb einer der wichtigsten Filme nicht nur im Schaffen Seilers: er ist — wenigstens in der Schweiz — der erste Film, dem mit der üblichen Bezeichnung Dokumentarfilm nicht mehr beizukommen ist. Dies ist ein anderer, entscheidender Grund für seinen geringen Erfolg: Musikwettbewerb wird erst durch die folgenden Filme, genauer durch Wer einmal lügt oder Viktor und die Erziehung von June Kovach und nun durch Die Früchte der Arbeit richtig verständlich. Musikwettbewerb ist eine dieser Routen, von denen Seiler spricht, die schon gelegt seien im «Niemandsland zwischen klassischem Dokumentar- und klassischem Spielfilm», Routen durch weisse Flächen.

Musikwettbewerb ist (was im Vergleich mit den früher entstandenen Mixturen besonders deutlich auffällt) darum kein Dokumentarfilm mehr, weil er nicht mehr nur dokumentiert, sondern erzählt. Erzählt von einem Wettbewerb und von Siegern und Besiegten. Wer in diesem Film einen blossen Musikfilm sucht, kommt nicht auf seine Rechnung, wer sich aber einfangen lässt — nicht verführen wie in den durchschnittlichen Hollywoodprodukten — von diesem brillant montierten Bilderbogen, vergisst die Musik vielleicht, oder empfindet sie als Filmmusik. Wer andererseits sich zurücklehnt und die Beine streckt, langweilt sich. Denn Musikwettbewerb erzählt seine Geschichte nicht naiv und konventionell; es sind Hände und Gesichter, ein leerer oder ein mit festlich gekleideten Zuhörern gefüllter Saal, ein Wartezimmer, die die Geschichte aufbauen. Was dazwischen liegt — die Gedanken etwa, die sich einer macht im Wartezimmer vor dem Auftritt, das, was er empfindet draussen auf der Bühne, von der Jury getrennt durch einen Vorhang, allein und doch belauscht — das muss sich der Zuschauer selber erarbeiten. Was einem die Filme, die eine konventionelle Sprache sprechen, ständig aufdrängen wollen, die «Gefühle», ausgedrückt in Szenen, «wie aus dem Leben gegriffen», bleibt hier aus. Ein Film kann, wenn er die Zuschauer nicht vergewaltigen will, nur hinweisen auf die Gefühle, ihre Spuren sichern. Ein solcher Film aber fordert den Zuschauer zur Mitarbeit auf, er gibt ihm die Freiheit, die er im Kino so selten spürt. Eine Freiheit, dies zeigt ganz besonders Viktor, mit der umzugehen — vorläufig noch — nicht einfach ist.

Eigentlich erzählt June Kovach eine bekannte Geschichte, was schon das Sprichwort im Titel antönt. Aber sie dreht die bekannte Geschichte um, nicht Viktors Geschichte wird erzählt, sondern die von Erziehern, die — indem sie sich auf Gesetze berufen, auf eine Ordnung, der man sich anzupassen habe, — sich das Recht nehmen, einen Menschen zu «verbessern». Viktor, das ist kein einzelner, das ist nicht James Dean oder Jean-Pierre Leaud, wir alle könnten Viktor heissen. Woran man in Rebel Without a Cause und in Les quatre cents coups, so hervorragend diese Filme auch sind, letztlich hängenbleibt, an den Hauptdarstellern, den Stars, das fehlt bei Viktor. Der Film von June Kovach ist ein «falscher» Spielfilm und ein «falscher» Dokumentarfilm zugleich.

Aber Viktor ist auch eine Zusammenfassung früherer Filme: der Suche nach und dem Tasten in einer unvertrauten Welt (Siamo Italiani); der Suche nach neuen formalen Möglichkeiten (Musikwettbewerb); der Auseinandersetzung mit einer Wirklichkeit, an der wir täglich versuchen uns vorbeizudrücken (Unser Lehrer). Aus der Zurückhaltung von Siamo Italiani sind die beiden Filmemacher allmählich hervorgetreten, Beobachtungen genügten ihnen nicht mehr — Beobachtungen sind zu wenig genau, lassen zu viele Fragen offen, bleiben zu sehr im Zufälligen haften.

In Früchte der Arbeit werden die Grenzen zwischen Dokumentar- und Spielfilm endgültig aufgelöst. Spielfilm im Dokumentarfilm sind die Szenen einer Schweizer Arbeiterfamilie, sind die Szenen, die die Gegenwart beschreiben. Dokumentarfilm, einen Spielfilm ergänzend, sind die historischen Materialien. Sie werden ergänzt durch die Statements, durch die Erzählung persönlicher Erlebnisse und Eindrücke, durch die Sicht verschiedener Arbeiter auf ihre Geschichte. Und schliesslich gibt der Autor, Seiler, Auskunft über seine eigene Herkunft und seinen Weg zu diesem Film.

Durch sein Selbstportrait steht Seiler unzweideutig dazu, dass er als Fremder in die Welt vordringt, die er beschreiben will. Er ist nicht mehr zurückhaltend, er schleicht sich jedoch auch nicht ein wie ein blinder Passagier. Er hat sich der Arbeiterbewegung langsam genähert, er hat ihre Geschichte studiert, er hat Teile von ihr kennengelernt durch seine Tätigkeit in der SP.

Früchte der Arbeit erzählt die Geschichte der Schweizer Arbeiterbewegung, erzählt die Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert und weist darüber hinaus ständig auf die Weltgeschichte. Die Informationen, die der Film liefert, haben nicht alle das gleiche Gewicht, während die Realszenen sehr präzis das Leben des Arbeiters zeigen, sind die Dokumentar-bilder manchmal nur Hinweise. Wenn Kennedy und Chruschtschow einige Sekunden lang zusammen auf der Leinwand erscheinen, soll dies dem Zuschauer in Erinnerung rufen, was diese beiden Gesichter bedeuten. Das Bild erklärt in dem Moment nichts, es ist ein Hinweis, auf den wir reagieren sollten.

Früchte der Arbeit folgen heisst aktiv bleiben — dieser Film ist erst fertig, wenn wir ihn noch um eine Ebene erweitern: durch unsere Reaktion, durch unsere Sicht auf das Beschriebene, durch unsere Informationen — wer nicht mitarbeitet, wird verarbeitet, das heisst, steht am Schluss völlig erschöpft vor einem Haufen Bilder, mit dem er nicht viel anfangen kann.

Und hier nun schliesst sich der Kreis: gerade darum, weil wir zu lange die alten Meister verehrten, weil wir uns zu wenig darum bemüht haben, Veränderungen voranzutreiben, weil wir die Möglichkeiten der Veränderung nicht erkannt haben — darum fühlen wir uns nun nicht wohl in einem Film, der das Resultat einer möglichen Veränderung ist. Unsicherheit ist die Folge, die sich dann in einer allzu raschen und recht oberflächlichen Kritik äussert. Es mag sein, dass der Film zu anspruchsvoll ist, dass er zu viel oder zu wenig sagt, dass er für die, an die er sich richtet, unverständlich bleiben wird. Aber man könnte den Vorwurf an Seiler auch umdrehen: wer ist denn daran schuld, dass Seilers Sprache nur schwer verständlich ist, wer hat denn mitgeholfen zu verhindern, dass die Entwicklung zu diesem Film nicht ins Bewusstsein des Kinopublikums und der Fernseher drang — sicher nicht Seiler und sicher nicht June Kovach.

Die Früchte der Arbeit ist ein trauriger Film, es — ich kann es nicht anders ausdrücken — schmerzt einen, wenn Frau Fierz von der Situation des Arbeiters früher und heute spricht, wenn sie sagt, dass sich die Situation, obwohl es dem Arbeiter heute bessergehe, nicht entscheidend verändert habe und es dabei nicht fertigbringt, das Wort Ausbeutung auszusprechen. Früchte der Arbeit erzählt von Verrat, von Illusionen, von Anpassung, von Tropfen auf den heissen Stein. 1974 endet die Erzählung. In einem Nachtrag wird auf das hingewiesen, was die «Krise» genannt wurde und was für viele Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit bedeutete. Ein Film, der die beiden letzten Jahre beschreiben würde, müsste, um der Situation gerecht zu werden, einen arbeitslosen Rudolf Fierz zeigen. Und als Motto könnte er ein anderes Brecht-Zitat anbringen: «Wenn ihr erkennen würdet, wohin ihr geht / Würdet ihr halt machen. / Wenn ihr wissen würdet / Was mit euch geplant ist/Würdet ihr euch umschauen. / ... Wisst, dass ihr eure Lage verbessern könnt.»

Die Geschichte braucht sich nämlich nicht immer zu wiederholen. Auch die Filmgeschichte nicht.

Bernhard Giger
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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