MARTIN SCHAUB

CORRIDA DER LIEBE — NAGISA OSHIMAS DAS IMPERIUM DER SINNE

ESSAY

Kein Film ist letztes Jahr öfter beschlagnahmt oder vom Programm abgesetzt worden als Nagisa Oshimas L’Empire des Sens. Am Filmfestival von Cannes war er erstmals gezeigt worden, und zwar im Rahmen der «Quinzaine des Realisateurs»; immer neue Vorstellungen mussten angesetzt werden. L’Empire des Sens war die Sensation des Festivals. Sofort bemühten sich die verschiedensten Festivals beim Produzenten Anatole Dauman (Argos Films, Paris) um Oshimas Film. Unter anderen nahmen die Festivals von Locarno, London und New York sowie das Berliner «Forum des Jungen Films» Oshimas extremes Werk in ihr Programm auf. In Berlin und in New York wurde L’Empire des Sens beschlagnahmt; in Locarno ging er vorerst ohne nennenswerte Schwierigkeiten über die Leinwand. Doch die Reaktion blieb nicht aus. Im Frühling 1977 verlangten einige hundert Bürger von Locarno — in Erinnerung an die Vorführung von Borowczyks Contes immoraux, Pier Paolo Pasolinis Salò und L’Empire des Sens — die «saubere Leinwand». Die Festivalleitung hat sich gegen diese Einflussnahme des «gesunden Volksempfindens» zur Wehr gesetzt; die Sektion Film, die die Veranstaltung von Locarno subventioniert, besteht darauf, dass das Festival zensurlos durchgeführt werden kann. Doch der Erfolg der konservativen Bürgerinitiative von Locarno wird sich erst im kommenden August, anlässlich des «Jubiläumsfestivals» abschätzen lassen. Nach dem Londoner Festival haben die Kritiker einiger englischer Tageszeitungen sowie «The Critics Circle» Erklärungen zu L’Empire des Sens abgegeben. To Whom It May Concern, das heisst an die Adresse aller möglichen Zensoren und Verhinderer, verteidigen sie Oshimas Film. «There is no doubt in the minds of most of those who have seen L’Empire des Sens that it is a genuine work of art.» «I think it is a remarkable work of art.» «The film is undoubtedly a true work of art.» «... and I regard it as a major work of art from a direetor of international repute.» «It is a work that transcends its subjeet of human sexuality to become what may well be a major work of art.» «There is no doubt in my mind that the film is a major work of art, a serious study of love and sexual politics, unique in the cinema.»

Ich meine, alle diese Beteuerungen sprächen bereits die Sprache des Gegners. Die englischen Kollegen versuchen, den Zensoren zu sagen: Da könnt Ihr nicht eingreifen; Kunst ist heilig. Doch im Grunde bestünde die Aufgabe des Kritikers und Interpreten einzig und allein im Versuch, die Wahrheit eines Werkes zu finden, ohne Rücksicht auf jene, die Filme ganz anders anschauen.

Lieben, ganz innen sein

Wie in einigen anderen seiner Filme geht Oshima bei L’Empire des Sens von einer tatsächlichen Begebenheit aus. Die Geschichte von Sada und Kichizo hat sich 1936 zugetragen, und sie ist noch heute vielen Japanern geläufig. Von Sada, die ihren Liebhaber Kichi erwürgt und entmannt hat und die nach der Tat vier Tage durch Tokio geirrt ist, mit dem abgeschnittenen Geschlechtsteil Kichis in der Hand, bevor sie von der Polizei aufgegriffen wurde, spricht man in Japan mit Bewunderung. Sada hat die Grenzen physischer Liebe weiter hinausgeschoben; sie ist eine Heldin der Liebe.

1936: Das Jahr des Aufstands der Offiziere gegen den «anpasserischen» Kaiser, das eigentliche Geburtsjahr des japanischen Faschismus, jenes irrwitzigen Aufbruchs eines Volkes, der knapp zehn Jahre später in Hiroshima und Nagasaki ein furchtbares Ende findet. Oshima ist sehr sparsam mit seinen Verweisen auf den historischen Kontext, so sparsam, dass viele diese Hinweise gar nicht gelesen haben. Zwei Stellen weisen auf die Zeitumstände hin. Wenn Sada einmal wegfährt, begibt sich Kichi für kurze Zeit auf die Strasse; er begegnet einem in Zweierkolonne marschierenden Militär-detachement; Frauen und Kinder winken den zum Verwechseln ähnlichen Soldaten mit Fähnchen zu; Kichi nimmt offensichtlich keine Notiz von den Soldaten. Die zweite Stelle, ganz zum Schluss, ein Off-Kommentar, berichtet von den vier Tagen nach der Tat, vom Moment, da sich die Passion Sadas und Kichis im Tod Kichis erfüllt hat, bis zum Moment, da die Öffentlichkeit sich dieser Passion annimmt: Sada wird verhaftet. (Sie ist übrigens zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt worden.)

Im Jahr, da sich Japan in die faschistische Massenhysterie stürzt, ziehen zwei Menschen die Läden und die Türen zu, sind ganz allein, kümmern sich nicht um Geschichte und Gesellschaft. Sie halten die Zeit an, sind ganz innen, haben nur ihre eigene Geschichte.

Oshima verzichtet, im Film, auf eine historisch-politische Interpretation des Tatbestandes. In Interviews meinte er, es sei wohl damals nicht die dümmste politische Haltung gewesen, sich nicht in die Politik einzulassen. Das ist ein Scherz. Die Geschichte von Sada und Kichi kann man durchaus auch andersherum lesen, man kann in ihr ein Sinnbild totaler Preisgabe sehen. So wie sich Kichi völlig hingibt, haben sich japanische Soldaten — als Kamikaze-Flieger, als Dschungelkämpfer ohne Nachschub — ihrem Staat hingegeben. Ich ziehe meine deutsche Version des französischen Originaltitels dem Verleihtitel «Im Reich der Sinne» jedenfalls vor. Imperium macht deutlicher, dass es bei der Geschichte von Kichi und Sada um Herrschaft und Abhängigkeit geht, um Besitzergreifung, Machtausübung. Am zutreffendsten erscheint mir allerdings der japanische Titel «Ai no corrida» — Corrida der Liebe. Er macht die Unausweichlichkeit der Ereignisse klar. Die Liebe von Kichi und Sada muss im «Augenblick der Wahrheit» enden. Ich verzichte auf die Resümierung der sexualpsychologischen Interpretationen der spanischen Corrida; sie passen genau auf Oshimas Liebes-Entwurf.

Vor Liebe sterben

«Liebe» und «Tod» stehen nicht nur in den ganz grossen Liebesmythen aller Kulturkreise (Tristan und Isolde; Orpheus und Eurydike; Abelard und Heloi’se) nahe beieinander. Noch in der Umgangssprache finden sich Relikte der Idee: Der Deutsche stirbt vor Liebe und ist tödlich verliebt; der Franzose nennt die Liebe (manchmal ganz speziell den Orgasmus) «la petite mort»; der Engländer «dies for love», und «to die» hiess im 17. Jahrhundert auch ganz genau, vor allem bei der Frau, einen Orgasmus haben.

Gleich nahe beisammen stehen «Liebe» und «Essen». Bei Kleist (in Penthesilea) reimen sich Küsse und Bisse, Penthesilea fällt mit ihren Hunden über den toten Geliebten Achill her; man hat seine Geliebte (seinen Geliebten) zum Fressen gern; sie ist zum Abbeissen; eine Liebe kann verzehrend sein; das englische «to eat» bezeichnet den cunnilingus usf. Wenn man Sprache wörtlich nähme, wäre sie schon so extrem wie Oshimas Film. In der Differenz zwischen extremer Sprache und genormter Praxis und Darstellung der Praxis nisten sich in der Regel Ersatzhandlungen, Magie, «Poesie» und Mysterien ein. Das berühmteste Mysterium: Die Kommunion nach katholischem Verständnis, das Essen von Fleisch und Blut Christi als Akt der Liebe, als Einverleibung, als Vereinigung.

Oshimas Das Imperium der Sinne ist eine Todesspirale; nach einer halben Drehung ist der Rest unvermeidbar und klar, wie die Oedipus-Tragödie nach dem Orakel. Der Entwurf fällt wie im luftleeren Raum (hinter verschlossenen Türen, wie wir gesehen haben) seiner Erfüllung, der «Katastrophe» zu.

Sada und Kichi machen ernst mit ihren Liebessprüchen. Sie schliessen alles aus, was der Erfüllung ihrer Liebe hinderlich sein könnte, zuerst Kichis Ehefrau. Sie bezeichnet die Grenze, über die Kichi und Sada hinauswollen und können. Nur wenige Gänge gibt es aus der Liebeshöhle (-hölle); und jeder Gang scheint nur den einen Sinn zu haben, die Liebe, die gegenseitige Konsumation noch einmal anzustacheln, noch einmal zu steigern. Wenn Sada vom Haus des alten Beamten zurückkehrt, den sie bedient, will Kichi alles wissen, was sie getrieben hat, und er will es nicht nur wissen, sondern erleben. An diesem Punkt wird auch die Dominanz der Frau erstmals deutlich. Jetzt ist Sada nicht mehr unter dem Mann; sie nimmt erstmals die Position ein, in der sie Kichi den Tod geben wird.

In ihre Höhle nehmen Sada und Kichi nur herein, was ihnen und der Verwirklichung ihrer Leidenschaft nützt, die alte Geisha zum Beispiel, die Kichi vor den Augen Sadas liebt. Sie essen wenig, sie essen sich; Oshima macht es deutlich mit dem Ei, das Kichi der Geliebten in die Vagina schiebt, bevor er es isst. Kichi und Sada entscheiden allein, wann und wie Aussenwelt in ihr System hineinspielen darf. Sie reklamieren, wenn jemand ihr Zimmer, ihr Nest, aufgeräumt hat. Nur schon ein fremder Geruch beeinträchtigt die Reinheit ihrer Liebe. Der Geruch Kichis begleitet Sada zu dem Mann, der ihre Dienste bezahlt; in der Toilette des Zugs, der sie zum bedeutungslosen Rendez-vous führt, drückt sie sich Kichis Kimono ans Gesicht.

Nicht allein Steigerung ist das Prinzip der Entwicklung dieser Liebe. Im Grunde geht es zuerst um den systematischen Abbau jeder konventionellen, traditionellen, «unnatürlichen» Distanz; erst dann werden die Grenzen des Beisammenseins immer weiter hinausgesetzt, bis zur Selbstaufgabe des Mannes. (Viele männliche Zuschauer scheinen mir falsch auf diesen Film reagiert zu haben. Sie haben nur die Unterwerfung des Mannes gesehen, und nicht das immer totaler werdende Einverständnis der beiden Liebenden.)

Man hat Oshima gefragt, weshalb er nicht die traditionelle japanische «Lösung» des Doppelselbstmordes gewählt habe. Eine Frage, die von Unverständnis (im Gewände des Bescheidwissens) zeugt. Der Doppelselbstmord, wie ihn Oshima selbst, und am deutlichsten Yukio Mishima dargestellt haben, ist Zeichen von Ideologisierung einer unfreien Situation. Kichi und Sada hingegen sind in ihrem immer restloseren Aufgehen des einen im anderen auf einem Weg zur höchsten vorstellbaren Freiheit. In Frankreich hat man L’Empire des Sens meines Erachtens viel zu nah an das Werk Georges Batailles gerückt. Batailles Überlegungen zur Erotik sind nicht denkbar ohne die erotische Fremdbestimmung des europäischen Erotismus durch das christliche Dogma und die christliche Morallehre. Nagisa Oshima zielt höher. Es gibt allerdings einen Punkt, in dem sich L’Empire des Sens und die Methode Batailles treffen: in der Vernachlässigung, ja in der Ausschliessung der Geschichte, in der Suche nach den «ewigen Wahrheiten» des Sexus. Das erstaunt bei Bataille weniger als bei Oshima, dessen gesellschaftskritisches Engagement bekannt ist und der sich mit L’Empire des Sens sozusagen den Boden, von dem aus er sonst operiert, selber unter den Füssen wegzieht. (Das hat mich bewogen, die Szene mit den Soldaten, die sich übrigens ziemlich genau in der zeitlichen Mittelachse des Films befindet, zu diskutieren.)

Die reine Sexualität — Das reine Bild

Nicht alle Filme Oshimas sind so rein, so gepflegt, so oberflächenschön wie Das Imperium der Sinne. Die ruhigen Halbtotalen, diegeometrisch gestalteten Dekors, die zum Teil an die frühen Filme Bertoluccis erinnernde Farbgebung, der ruhige Schnittrhythmus, die fast sentenzenhaften Sätze der Protagonisten, aber eigentlich zuallererst die Schönheit der beiden Hauptdarsteller (Tatsuya Fuji und Eiko Matsuda) konzentrieren die Aufmerksamkeit und die Reflexionen des Zuschauers auf das Wesentliche.

Oshima ist nicht der Voyeur, der durchs Schlüsselloch sexuelle Realität beobachtet. Er inszeniert das Wesen der Sexualität. (Meinetwegen: Er will das Wesen der Sexualität inszenieren.) Die Geschichte von Sada und Kichi rollt sich vor dem Zuschauer ab wie eine katholische Messe, bis zum keineswegs überraschenden, von allem Anfang an vorgesehenen und abschliessenden «Ite, missa est».

Wenn ich über Das Imperium der Sinne schreibe, ärgert mich eigentlich der Ausdruck «Geschichte», den ich doch immer wieder gebrauche. Um eine Geschichte handelt es sich im Grunde nicht mehr: Oshima benützt eine Geschichte als Ausgangspunkt für die Inszenierung eines zeitlosen Rituals, eines folgerichtigen Prozesses. Oshima zielt nicht auf die Sekunden höchster Lust sondern auf das Wesen der körperlichen Liebe. Und dieses Wesen ist die Todessehnsucht.

Kichizo und Sada sind vom Moment an, da sie sich treffen, bis zum Moment, da Kichizo stirbt, in jedem Augenblick bereit, sich zu lieben. Deswegen muss Oshima nicht dauernd neue Reize, Positionen, Perversionen, Techniken und Tricks erfinden. Kichi muss nicht gereizt werden, er ist immer im Zustand sexueller Exaltation, gleich wie Sada. Beide gehen sie auf den «Augenblick der Wahrheit» zu. Für die Darstellung dieses Wegs ist kein «schmutziges Bild» nötig.

Der am meiste verfolgte erotische Film der letzten Jahre ist keuscher als die meisten Filme, mit denen man ihn fälschlicherweise vergleicht.

L’EMPIRE DES SENS: CORRIDA D’AMOUR

L’Empire des Sens, le dernier film de Nagisa Oshima, montré pour la première fois à l’occasion de la «Quinzaine des Réalisateurs» 1976 à Cannes est devenu le film le plus opprimé, le plus souvent séquestré de l’année. Des critiques cinématho-graphiques dans le monde entier l’ont défendu au nom de l’art, et non de la liberté: L’Empire des Sens est une œuvre d’art, alors sainte et intouchable! Il faudrait parler de la vérité de ce film.

Oshima s’inspire d’une histoire réelle: En 1936, deux jeunes amants ont vécu une passion mortelle. Sada et Kichizo, après avoir exploré toutes les possibilités de leur amour charnel, abordent et franchissent la dernière frontière. Sada étrangle son amant et s’empare de son sexe. La Sada historique a été trouvée quatre jours plus tard, tenant encore le sexe de Kichi dans ses mains. Oshima développe du fait divers, pourtant encore bien connu au Japon, un rite mortuaire. Les amants ferment les fenêtres et les portes, ils font sauter tous les ponts et vivent leur passion pure. Contrairement à son habitude, Oshima néglige ici la description des circonstances politiques et sociales. Il la réduit à un seul plan dans lequel on voit une colonne militaire dans le quartier des maisons closes. Dans un interview Oshima a dit que s’enfermer et ne plus participer à la vie publique du Japon fasciste était peut-être déjà un acte politique. D’autre part, on note une ressemblance entre l’abandon de soi-même chez les deux amants et l’abandon de l’individu dans un système fasciste. L’idée du film a évidemment des traits réactionnaires.

Dans toutes les langues, «amour», «mort» et «manger» sont des voisins. Si on prenait la langue «au pied de la lettre», on serait déjà dans l’extrémisme du film d’Oshima. Sada et Kichi prennent au sérieux leurs aveux amoureux. L’Empire des Sens est une spirale mortuaire, une corrida d’amour (titre japonais du film); la fin, la mise à mort, est inévitable. Cela ne sera pas le double suicide (puisqu’il ne s’agit guère d’un amour impossible, il n’y a pas de contraintes sociales); Kichi mourra de plaisir.

Oshima met en scène une pure histoire d’amour charnel en utilisant les moyens les plus purs du cinéma: plans fixes, rythme constant et agréable, couleurs soignées, décors géométriques, beaux corps des interprètes. Il n’a pas besoin d’une seule «sale image», paroe qu’il ne s’agit pas d’exoiter le spectateur par quelques moments d’exaltation sexuelle. Il s’agit plutôt d’une démonstration (et réflexion) philosophique: L’amour, c’est le désir de la mort. (msch)

Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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