Der Gotthard ist nicht nur ein topographisches Phänomen. Er gehört zu den Mythen der Schweiz. Als «Saumweg, Wasserscheide, Drehscheibe, strategisches Objekt und Mittelpunkt von Legenden in einem» wird der Berg bezeichnet. Als Symbol des «Schweizerischen» schlechthin gilt das Naturereignis. Markige Rednerstimmen stocken beim Wort Gotthard, stammeln es in heiliger Ehrfurcht. Villi Herman dokumentiert diese offizielle Haltung in seinem anderthalbstündigen San Gottardo, indem er die Mächtigen von damals und heute über die Bedeutung des für den Verkehr zwischen Nord und Süd erschlossenen Gebirges sprechen lässt. Er lässt es aber dabei nicht bewenden. Diejenigen, welche Hand anlegen mussten und müssen, die namenlosen Bergarbeiter, kommen auch zu Wort. Es sind in den wenigsten Fällen Schweizer. Es sind Arbeitsemigranten, deren Biographien kapitalistische Produktionsmethoden widerspiegeln.
Herman nennt sein Stück Geschichte eines Alpenübergangs «szenische Dokumentation»: Er hat eine interessante Form gefunden, Vergangenheit und Gegenwart ineinander greifen zu lassen. Er zeigt das Gestern, den Eisenbahntunnelbau von 1872 bis 1882, in «tableaux vivants», in gespielten Szenen, und montiert dazu parallel Filmdokumente, die er mit seiner Equipe Ende 1976, anfangs 1977 beim Bau des Gotthard-Autotunnels gemacht hat.
So wird hinter dem nationalen Naturdenkmal Gotthard Leben sichtbar. Das kollektive Elend von Oberitalienern wird ausgenutzt für den Durchstich der Belle Epoque. Billige Arbeitskräfte aus den armen Gegenden Europas stehen auch heute wieder zur Verfügung.
Der Film San Gottardo konfrontiert einander zwei Geschichtsauffassungen: die herrschende, die «von oben», die der grossen Ereignisse und der grossen Persönlichkeiten, und die der Menschen, die durch ihre körperlichen und geistigen Anstrengungen die Welt bewegen. Die Enthüllung des Denkmals für Alfred Escher (1819-1882), der den Gotthard-bahnbau vorantrieb, steht als gestellte Szene am Ende des Films, ein Dokumentarfilm mit der Einweihung eines Arbeiterdenkmals in Airolo am Anfang. Einmal wird der Bankier gefeiert, der die Fäden in Händen hält, einmal die Masse der ihm fremden Arbeiter, die den Tunnel gebaut hat. Auf Vincenzo Velas Bronze, 1883 vollendet, jedoch erst 1932 aufgestellt, wird ein toter Bergarbeiter von seinen Kollegen geborgen: eine Art profaner «Grablegung».
Zwischen den zwei gegensätzlichen Monumenten, die gegensätzliche Einstellungen der Arbeit gegenüber verraten, liegen die Informationen des Films. Herman geht mit seinem Team in den Gotthardstollen und vermittelt atemraubende Bilder von der Arbeit unter Tag. Schichtweise fahren die Mineure ein in den Stollen zum Werk an vielarmigen Bohrmaschinen. Sie sind die Protagonisten. Herman stellt sie vor in amerikanischer Einstellung. Jeder von den Arbeitern sagt seinen Namen, nennt seine Herkunft und spielt in seiner Freizeit eine Figur des alten Tunnelbaus, einen Steinmetzen, einen Minenarbeiter...
Während das Heute in attraktiver dokumentarischer Manier — subjektive Kamera — geschildert wird, bleibt Herman bei der Rekonstruktion des Gestern in Distanz. Er wählt einfache Szenerien, wenige Schauplätze, ist im Dekor so karg fast wie Jean Marie Straub in seiner Chronik der Anna Magdalena Bach, fährt kaum mit der Kamera, bleibt mit Vorliebe in halbtotalen oder halbnahen Einstellungen. Villi Hermans Montage, die den szenisch-historischen Reportagestrang mit dem dokumentarischen verflicht und die Nahtstellen zwischen Gespieltem und Dokumentiertem klar markiert, ist bewusst unillusionistisch. Dem Hintereinander und Nebeneinander des Damals und Heute im Film entsprechen stete Parallelen von Arm und Reich, von Volkskultur und herrschender Kultur. Die Konfrontation, das parallele Syntagma, verstärkt die Wirkung der Aussage. Schwarz erscheint neben weiss noch schwärzer. Herman ist parteilich und steht dazu. Seine Bergarbeiter haben Lieder, die aus ihren Lebenssituationen heraus entstanden sind, und sehen im Bänkelsang ihre Arbeit reflektiert. Dagegen gehört zum deutschen Ingenieur und zum Bürgertum, das er repräsentiert, Wagners musikalischer Pomp. Für den Arbeiter ist die Wohnstatt vorab «Dach über dem Kopf», für den, der ihn lenkt, «Hof». Escher erledigt seine Korrespondenz zwischen exotischen Pflanzen im Gewächshaus.
Auch die innere Montage macht Kontraste sichtbar. Es gibt Einstellungen, in denen sich Vergangenheit und Gegenwart treffen: Die Rekonstruktion der Eröffnung des Bahntunnels mit einer Museumslokomotive, die dann plötzlich eingeholt wird von einem modernen Schnellzug; ein vertikaler Schwenk über die Enthüllungsszene des Escher-Denkmals hinweg gibt den Blick frei auf Zürcher Autoverkehr. Dazu Herman:
Mit einem historischen Film analysiert man gleichzeitig eine Epoche unserer Geschichte. Da sich der Bau des Gotthardtunnels wiederholt, erhält der historische Film einen aktuellen Bezug. Der Film soll verschiedene Ebenen gleichzeitig ausleuchten. Mit der vollen Ausschöpfung der optischen Möglichkeiten (Tiefenschärfe) erhält beispielsweise ein Schauspieler einen bisher ungewohnten Hintergrund, Raum, so dass Vergangenheit (die der Schauspieler darstellt) und Gegenwart ineinanderfliessen. Es soll nicht dauernd ‘betrogen’ werden.
Was entnimmt man der «Geschichtsstunde» Hermans? Man lernt die politischen und ökonomischen Interessen derer kennen, die den Tunnelbau damals wie heute vorantrieben. Das Naturereignis Gotthard wird geschichtlich, als Produkt von Macht und Arbeit durchschaubar. Unter den Staatsemblemen Deutschlands, Italiens und der Schweiz unterschreiben Escher, der Finanzmann, und Favre, der Ingenieur, ihren Vertrag. Porträts von Bismarck, Wilhelm I. und König Umberto hängen nicht von ungefähr an den Wänden. Escher hat internationale Beziehungen und weiss, sie auszunützen. Er ist ein Vertreter des sogenannten Wirtschaftsliberalismus des Fin de Siècle. «Der Umschwung von durch einzelne Persönlichkeiten repräsentierten Wirtschaftsunternehmen zu anonymen Gesellschaften, deren Geschäftsgebaren für die Lohnabhängigen nicht mehr mit einer einzelnen Unternehmerpersönlichkeit identifiziert — und damit nicht einmal in der Illusion ‘durchschaubar’ — ist, wird exemplarisch fassbar gemacht in der Person des Begründers der Schweizerischen Kreditanstalt, Alfred Escher.» (Esther Modena-Burkhardt im Drehbuch). — Isoliert von den Entscheidungen, die «auf höchster Ebene» fallen, sind die Arbeiter. Sie kämpfen um ihre Existenz. Gestern und heute. Es wird im Film sichtbar, unter welchen Bedingungen vor hundert Jahren gearbeitet wurde. Es wird klar, dass die Verbesserungen, die Arbeiter heute geniessen, erkämpft werden mussten, dass Vergünstigungen keine Almosen sind. Die schweizerische Arbeiterbewegung ist unter anderem am Beispiel Gotthard gewachsen. Ihre frühen Vertreter kommen bei Herman zu Wort.
Zwischen dreieinhalb und vier Franken verdienten die italienischen Tunnelarbeiter bei achtstündiger Arbeitszeit im letzten Jahrhundert. Wenn sie in einem Kosthause assen, mussten sie zwei Franken abliefern, fürs Schlafen einen weiteren. Oft wurden die Männer im Stollen statt mit Bargeld mit Gutscheinen bezahlt, die nur in Favres eigenen Lebensmittelmagazinen galten. Dazu kamen ungesunde Arbeitsverhältnisse, Feuchtigkeit wegen mangelnder Ventilation. Ein Proteststreik gegen die Missstände wurde blutig unterdrückt. Man weiss heute nicht, ob von einem regulären militärischen Trupp oder einem von der Bauleitung gekauften Söldnerhaufen. — Die Probleme haben sich unmerklich verringert. Es arbeiten heute weniger Männer unter Tag, dafür in hektischerem Rhythmus. Für Lüftung ist gesorgt, und trotzdem klagen die Mineure über Krankheiten, die mit den Arbeitsbedingungen zusammenhängen. Die Unterkünfte sind heutzutage hygienisch einwandfrei, aber ganz isoliert. Ein Grund dafür, dass die Arbeitsemigranten in ihrer Freizeit an San Gottardo mitmachen wollten. Ihre Kollegen von damals mussten beim Zusammentreffen des Süd- und Nordstollens Ingenieuren den Vortritt lassen. Sie selbst durften den Durchstich am Fernsehmonitor miterleben, während Magistraten zum Festakt antraten.
Wenn der Gotthard das Schweizerische schlechthin verkörpert, so definiert Villi Herman dieses Schweizerische neu. Es ist nichts Natürliches, sondern Geschichtliches, aus gesellschaftlichen Spannungen Hervorgegangenes. Herman ist Schweizer und als Schweizer Tessiner, also besonders empfindlich für alle Veränderungen am Gotthard. Er wohnt im Tessin, filmt auf beiden Seiten des Bergs und schneidet seinen Film in Zürich. Er ist der romanischen Tradition ebenso verpflichtet wie der des schweizerischen Nordens. Herman hat eine schweizerische Biographie und schweizerische Vorfahren, wie er mir sagte, Arbeitsemigranten, einerseits aus Norditalien, andererseits aus der Ostschweiz. Die Überzeugungskraft seiner Einstellungen, die ganze ästhetische Haltung seines nach Cerchiamo per subito operai, offriamo... zweiten Films über Arbeitsemigranten ist auch aus Umwelt und Herkunft Hermans zu erklären.