JEAN-LUC GODARD

ÜBER UNABHÄNGIGKEIT, IDEEN, FILM UND VIDEO

CH-FENSTER

Vor einem Jahr, am 20. November 1976, hat der Verband Schweizerischer Film- und AV-Produzenten Jean-Luc Godard, der damals noch in Grenoble arbeitete, an ihre 8. Informationstagung nach Bern eingeladen. Godard hielt keinen vorbereiteten Vortrag, sondern versuchte, eine Plauderei zum Thema Film und Video anzuregen. Er fing an zu reden, sprunghaft, improvisierend, verlangte immer wieder nach Fragen aus dem Publikum. Seine Sache sei die Kommunikation, er wolle kommunizieren. Die Fragen kamen dann auch, und Godard erwies sich — was man allerdings schon seit langer Zeit, beispielsweise seit Numéro deux wissen konnte — als ein äusserst informierter Benutzer der neuen Apparaturen. Jean Richner hat die Tagung in Bern auf Tonband aufgezeichnet und sehr viel Zeit darauf verwendet, all das, was übersetzbar war, all das, was einen Zusammenhang ergab, zu übersetzen. Aus den Ausführungen Jean-Luc Godards lässt sich kein Aufsatz abziehen. Was möglich ist, versuchen wir hier: wir publizieren eine Sammlung von Aperçus von jenem Samstag in Bern, der vielen Teilnehmern viele Rätsel aufgab und vielleicht eines annähernd löste, das Rätsel Godard nämlich: er ist ein Kommunikationsforscher, und er sucht jenen Ort in unserer Gesellschaft, von dem aus man ungehindert sprechen kann.

Ich bin immer daran interessiert, auf Fragen von Leuten zu antworten, die sich nicht für mich persönlich interessieren, sondern für das, was wir gemacht haben, oder für das, was wir anders gemacht haben als sie. Auf einer solchen Ebene können wir uns unterhalten und Vergleiche anstellen.

Ich versuche mich daran zu erinnern, wie es dazu kam oder wie es dazu kommen konnte, dass ich mir eines Tages ein «Sony» kaufte. Ich glaube, das muss um 68 oder 69 herum gewesen sein, also in der Zeit, als die schwarzweissen Aufzeichnungsgeräte in Europa auf den Markt gekommen sind. Was mag wohl der Grund gewesen sein, dass ich als technisch ausserordentlich interessierter Regisseur angefangen habe, diese Dinger zu brauchen? Ja, ich habe mich dieser Technik ganz einfach aufgrund eines moralischen Prinzips bedient, das heisst aus dem Bedürfnis, es anders zu machen, anders als Papa und Mama. Als ich Operation beton machte, war doch alles verboten. Man sagte einem: «Das ist so zu machen», und immer wieder erschien mir das eigenartig. Als ich in Frankreich mit Schwarzweiss-Aufnahmen begann, war es in allen grossen Filmen verboten, weisse Hemden zu tragen. Man sagte, das gäbe zu viele Reflexe oder das mache zu viel Kontrast. Das Wort «professionell» hat mich immer getroffen; es wird äusserst oft gebraucht am Fernsehen, oder man braucht das Wort «Qualität» oder gar «professionelle Qualität». Ich erinnere mich, dass, als ich einmal einen Film mit einer grossen amerikanischen Firma machte, effektiv im Vertrag stand: «You as a director are engaged to deliver a first class quality picture». Und ich fragte sofort, was denn das sei, «first class», ich wisse nicht, ob ich vielleicht vierzehnte Klasse herstellen würde, und wer denn überhaupt darüber bestimme, was erste und was zweite Qualität sei. Bei der Eisenbahn gebe es solche klare Unterscheidungen, und die funktionierten auch, aber im Film? Wer denn da entscheide? «Nun, wir entscheiden das», sagten die Verantwortlichen der Firma, und ich erwiderte ihnen, dass ich das nicht könne, ich wollte sehr gerne, aber ich sei nicht sicher, etwas machen zu können, was sie dann «first class quality» nennen würden.

Wir haben eine Produktions-Gesellschaft, die sich «Sonimage» nennt, deren rechtlicher Sitz in Paris ist und die aus produktionstechnischen Gründen und aus Gründen der Kreativität beschloss, in die Provinz zu ziehen. Denn als wir, um unabhängiger zu werden, in einem gewissen Moment unser eigenes Material angeschafft hatten, merkten wir, dass man seine Unabhängigkeit mit seinem Verbleib in Paris wieder verliert. Dies sogar schon dann, wenn ich beispielsweise nur ein Pferd aufnehmen will. In Paris kann ich das nicht. Man muss da x Kilometer zurücklegen, bis man eins findet.

Erst im Moment, da man etwas Unabhängigkeit gewonnen respektive erkämpft hat, kann man etwas von jener Beweglichkeit finden, wie sie beispielsweise Leute wie Mack Sennett in den Anfängen von Hollywood gekannt haben. Wir verloren sie, weil eben Paris nicht dasselbe ist wie Los Angeles zur Zeit von Mack Sennett. Wir sahen uns schliesslich gezwungen, uns in ruhigere und vergessenere Gegenden zurückzuziehen. Und das war eben die Provinz.

Ich habe immer versucht, die Lücke zwischen superprofessionellem und Amateur-Material auszufüllen, und zwar immer, indem ich mich als Amateur verstand, der aber wie ein guter Handwerker professionell zu arbeiten und eine professionelle Qualität zu erzielen versucht. Im Film bedeutet das, den 35 mm zu vergessen, auf dem Niveau des 16 mm zu bleiben.

Wir besitzen das klassische 16mm-Material. Eine grosse Neuigkeit für uns war es schon, unser eigenes Überspiel-Gerät zu besitzen. Wir kauften eine Maschine von Sondor in Zürich, weil sie damals am weitesten entwickelt war. In einem gewissen Moment war für mich schon die einfache Tatsache, die Überspielung nur drei Meter vom Montagetisch entfernt machen zu können, eine grosse Neuigkeit. Denn anstatt vier Kilometer zurückzulegen, um meinen Ton zur Überspielung zu bringen, benötigte ich jetzt nur noch ein paar Schritte. Und das bewirkte, dass ich anders überspielte. Anstatt dass ich alle Rushes zum Anlegen des Tons weggab, überspielte und legte man den Ton nach Massgabe der auf dem Schneidetisch besichtigten Rushes an. Nur das, ich weiss nicht, bewirkte eine gewisse Bewegung, die vielleicht nach nichts aussieht, die aber ein Zeichen für grössere Unabhängigkeit ist. Man überspielt, skizziert die Idee eines Kommentars, zeichnet sie auf, montiert, löscht wieder, zeichnet wieder auf. Das ist ein Kommen und Gehen zwischen den Maschinen, und man hat überhaupt keine Lust mehr, einen Film in der herkömmlichen Art zu entwerfen und zu montieren.

Ob wir in 35 mm, 16 mm oder Super-8 drehen, der Ton und die Mischung werden in 16 mm gemacht, und alles bei 25 Bildern pro Sekunde, was der Frequenz des Fernsehens entspricht. Ich habe mich immer gewundert, weshalb Leute in Europa mit 24 Bildern pro Sekunde drehen. In den USA sind diese 24 Bilder wohl normal, weil die Amerikaner mit 60 Halbbildern pro Sekunde aufzeichnen und nicht mit 50 wie die Europäer; 60 und 24, das geht bald einmal auf.

An Super-8 Material besitzen wir eine stumme Beaulieu und eine mit Ton, eine Leicina — jene kleine, die man einfach in die Tasche stecken kann —, eine Nizo und eine Fujica. Diese letztere interessiert uns besonders, weil sie eine Andruckplatte aufweist, durch die die Filmkassetten stabiler werden, was bei Super-8 besonders wichtig ist.

Was Video betrifft: Wir haben auch heute noch keine grosse Ausrüstung. Wir besitzen zwei Sony U-Matic-Recorder, die durch ein Montagepult miteinander verbunden werden können, was bedeutet, dass es jetzt endlich eine — halbprofessionellen Bedürfnissen zugängliche — Montagevorrichtung gibt, deren Preis noch relativ akzeptabel ist, und die es mir erlaubt, mit Video fast wie mit 16 mm zu produzieren.

Meiner Meinung nach hat Sony diese Anlage herausgebracht, um damit den 16mm-Film zu konkurrenzieren. Für die amerikanischen Fernsehstationen ist ein perfektioniertes System entwickelt worden. Früher drehten diese alle ihre Aktualitäten in 16 mm. Die Anschaffung einer beweglichen U-Matic-Anlage erspart einen Korrespondenten. Notfalls kann sie von einem einzigen Mann bedient werden.

Ich habe, um meine Vorstellungen und schöpferischen Ziele zu verwirklichen, mich immer jenes Materials bedient, das der wissenschaftliche, journalistische und der Industriefilm, die sich vom Spielfilm getrennt hatten, hervorgebracht haben. Ich trachte darnach, Filme zu machen, wie man sie in Hollywood macht, aber das mit der Technik, derer sich beispielsweise die CBS für ihre Reportagen bedient. Nicht dass ich am Hollywood-System interessiert wäre. Man hat kein Recht dorthin zu gehen. Aber man hat ein Anrecht auf vergleichbare technische Bedingungen.

Ich kann mir in der Tat einen Film mit Alain Delon vorstellen, der in gewissen Teilen auf Super-8 gedreht würde. Montiert würde er in Video, und wenn er über Gaumont in den Kinos herauskommen müsste, würden wir vom Videoband eine Filmkopie machen.

Ich glaube, dass Super-8 gerade zum Sammeln grosser Mengen von Dokumenten sehr gut ist. Man kann das Material sofort auf Video kopieren und später auf 8mm oder auf 16mm herausbringen. Seine Kopie muss man nicht mehr berühren, zudem sind die Bilder auf Video durchnummeriert, was beim Film nie der Fall ist.

Ich glaube, es ist auch besser, wenn man von 16mm auf 35mm aufblasen will, den Weg über die 2-Zoll Quadruplex-Aufzeichnung einzuschlagen. Ich glaube, dass das Resultat besser sein könnte, handelt es sich doch nicht um eine eigentliche Vergrösserung, sondern um eine zweifache elektronische Übertragung. Mit 3/4-Zoll- oder 1-Zoll-Bändern wird das nicht ganz so gut; die Auflösung ist schlechter. Aber bei gewissen Gegenständen und für gewisse Zwecke wird auch das genügen.

Was den Transfer von Video auf Film betrifft, existiert auf dem europäischen Kontinent noch nichts Gescheites. Man muss dazu in die USA oder nach London gehen, wo es schon zwei oder drei Systeme gibt. Für uns gibt es im Moment nur das Abfilmen vom Monitor mit einer Kamera, die eine spezielle Synchronisiervorrichtung hat, um den Balken auszuschalten. Als wir den Film Numéro deux machten, den wir mit Video gedreht hatten und bei dem wir die Bilder gut fanden und uns schon darauf freuten, mit dem Ausgangsmaterial ein gutes Filmbild zu machen, schirmten wir die grossen Monitore mit schwarzen Lichtblenden ab und filmten die Bilder einfach ab. Aber indem wir schwarz abdeckten, erzielten wir einen Kontrasteffekt, der die Bilder noch schärfer erscheinen liess. Das brachte uns auf die Idee, zwei Monitoren gleichzeitig aufzunehmen und die Geschichte etwas anders zu erzählen.

In einem gewissen Moment, als wir Numéro deux machten, erinnerte ich mich meiner früheren Dreharbeiten mit beschränkter Equipe, mit einer Mitchel, mit sechs, sieben Scheinwerfern, mit Kabeln, acht Kisten, die man da in ein natürliches Dekor tragen musste, und vieles andere mehr. Wir drehten Numéro deux mit einer IVC-Anlage, die etwa gleich gross ist wie die U-Matic, und jetzt waren wir zu dritt anstatt zu fünfzehnt. Man stelle sich einmal einen Raum von vier Metern im Quadrat vor; da macht es wirklich einen Unterschied, ob man zu dritt ist oder zu fünfzehnt. Was mich immer gestört hat beim Film, war, als wir einen Raum betraten, die notorische erste Frage des Skripts: «Aber wo stellen wir denn die Kamera hin?» Ich erwiderte dann etwa: «Gut, da haben wir einen Schauspieler, er wird auf diesem Bett da sitzen, da gibt es eine Zahl Techniker; ihr stellt euch dort auf, wo ihr das richtig findet, und dann bin ich sicher, dass keine dreissigtausend Orte mehr übrigbleiben für die Kamera; es wird eben nur noch jener Platz da sein, der übrigbleibt, und dort werden wir die Kamera hinstellen. Also macht, was ihr wollt, und dann nehmen wir, was übrigbleibt.» Schliesslich wurde das sogar ein Gag, weil wir die Kamera immer dorthin stellten, wo sich das Skript oder der Kameramann zuerst niederliess. Man meinte dann einfach: «Aha, dort ist es». Schliesslich ging es so weit, dass die Techniker dem Skript nur noch sagten: «Willst Du dich endlich setzen? Wir wollen die Kamera aufstellen.»

Ich meinte schon oft, dass sich niemand interessiert für das, was ich mache, und ich kann nur noch auf mich selber zählen. Und wie kann man das am besten, auf sich selber zählen? Zum einen braucht man Material, und zum anderen Ideen. Gut, ich habe mit den Ideen angefangen, da ich das Material noch nicht kannte. Ich nahm dann, was beim Film existierte: die Lampen, die vorhandenen waren, die Kameras, die es gab, die Rohfilme, die erhältlich waren; und dann versuchte ich jedesmal, damit zurechtzukommen. Es war genauso, wie wenn man bei einer Familie, bei der man eingeladen ist, das Essen nicht gut findet und deshalb in die Küche geht und es mit den Sachen, die da sind, besser zu machen versucht.

So, sagt man, das ist eine Kamera, und die muss man auf ein Stativ tun. Gut, sagte ich mir, ich weiss nicht, wenn ich sie auf ein Stativ setze, so zwingt mich das, einen bestimmten Blickwinkel zu wählen. Da ich aber nicht weiss, welchen Winkel ich will, ziehe ich es vor, die Kamera in die Hand zu nehmen. So kann ich die Dinge einmal so und einmal anders sehen, und ich muss mich nicht mit der Frage herumschlagen, wo ich die Kamera hinstellen muss, weil ich sie ja auf der Schulter trage. Sie wird immer da sein, wo ich bin, oder zumindest dort, wo ich jemanden hingeschickt habe, der meine Kamera trägt. Gut, so machten wir das, und man hat sich über uns lustig gemacht, hat uns verleumdet, uns misstraut. Und heute machen wir es gerade umgekehrt. Wir stellen irgendwo eine kleine Kamera auf ein Stativ, bewegen sie nicht mehr. Sie bleibt genauso, wie sie ist, vielleicht sogar während einer stündigen Einstellung. Und schon sagt man uns wieder: Grotesk. Lächerlich. Ihre Kamera bleibt ja fix während einer ganzen Stunde. Eigentlich haben wir immer alles anders gemacht als die andern, und zwar aus dem Bedürfnis des Forschens heraus, als Suchende.

Manchmal versuchen wir, die Aufnahmen zu verwerten. Aber da haben wir kein Glück, weil es eben Forschung, Erkundung ist. Was sich verkauft, ist eben nicht das, was das Suchen zeigt. Damit ist kein Geschäft zu machen. Man verkauft nicht das Suchen, man verkauft nur, was man gefunden hat. Man verkauft nicht die Idee einer Pfanne; man verkauft eine fertige Pfanne. Man verkauft ein fertiges Schauspiel, und nicht die Idee eines Schauspiels.

(Übersetzung Jean Richner)

(Montage Martin Schaub)

Jean-Luc Godard
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]