WERNER JEHLE

NICHT ZU EXTREM UND NICHT ZU LANGE — CINÉMA MORT OU VIF, EIN FILM ÜBER EINEN FILM

CH-FENSTER

Eine Szene ist eine Einstellungsfolge, eine Sequenz, die kontinuierlich an einem Ort spielt. Die Szene muss nicht nur aus einer Einstellung bestehen, sie muss keine Plansequenz sein. Es kann mit Schnitten, mit Schuss-Gegenschuss etwa gearbeitet werden. Alain Tanners Jonas besteht aus 77 Szenen. Szene 46 bildet den Ausgangspunkt einer filmischen Analyse von Urs Graf. Ihr Titel: Cinéma mort ou vif. In Szene 46 treffen sich all die Leute erstmals, welche Tanner im Verlaufe seines Films einzeln vorgestellt und zusammengebracht hat. In Szene 46 zeichnen Kinder eine der Personen (Max) an eine Mauer. «Später im Film werden auch die andern sieben Hauptpersonen nach und nach auf die Wand gezeichnet. Die Personen selbst verlieren sich wieder — gehen auseinander — zurück bleibt lediglich das verwitterte Abbild auf der Mauer im Hof»1, wo zuletzt der fünfjährige Jonas spielt.

Die Jonas-Dreharbeiten begannen am 28. Januar 1976. Die Szene 46 wurde am 23. März aufgenommen. Eine Equipe des Filmkollektivs (Kameras: Hans Stürm und Iwan P. Schumacher; Ton: Mathias Knauer; Assistenz und Koordination: Urs Graf.) filmte während dieses Tages mit zwei Kameras am Drehort. «Über Jonas» hiess der Arbeitstitel ihres Exposés, in dessen am 29. März 1976 verfassten Anhang stand: «Erst wenn Alain Tanner die Arbeit an seinen Film abgeschlossen hat, können wir mit der Arbeit am Film «Über Jonas» beginnen. Der fertiggestellte Film Jonas und unsere Aufnahmen der Dreharbeiten werden die Grundlage sein, auf welcher wir zusammen mit Alain Tanner, John Berger, Renato Berta und weiteren Mitarbeitern der Jonas-Equipe stufenweise Konzept und Realisierung des Films «Über Jonas» erarbeiten werden. Der Film wird das Resultat dieses Prozesses sein.» (Der Drehbuchautor John Berger konnte schliesslich nicht mitmachen)2.

Warum und wie andere Bilder und Töne?

Aus drei Teilen besteht die mit filmischen Mitteln unternommene Analyse. Im ersten Teil (553,9 m - 50 Min.) wird gefragt, «warum und wie andere Bilder und Töne» herzustellen seien («pourquoi et comment produire des images et des sons autres — une journée de tournage»). — Tanner wird befragt3. Er sagt ungefähr das, was er schon geschrieben hat in Michel Boujuts Materialsammlung zu Le milieu du monde4: Der Zuschauer ist Bilder und Töne gewohnt, die eine Unterhaltungsindustrie entwickelt hat, der es, um möglichst überall verstanden zu werden, nie um präzise Aussagen ging. Urs Graf interviewt neben Tanner Mitglieder des ganzen Jonas-Teams, Schauspieler und Kameramann, über ihre Erfahrungen bei der Arbeit zum Film. Der Spielfilm, über den Grafs Dokumentarfilm geht, ist im Bewusstsein gemacht, dass die Technik eines Films etwas mit der Ideologie eines Films zu tun hat. Tanner meint, er müsse dem Zuschauer eines Films Widerstand entgegensetzen, eher, als dessen schlechte Kino-Gewohnheiten zu bestätigen. Während das herrschende Kino, das «cinéma mort», den Betrachter einlullt, zur Identifikation auffordert mit pseudo-naturalistischen Effekten und überall verdeckt, dass es hergestellt ist, fordert Tanner ein Kino, dem man ansieht, dass es gemacht ist, künstlich ist.

Die Plansequenz, der Verzicht auf Schnitte innerhalb einer Szene, die aus nur einer Einstellung bestehende Handlungseinheit, ist für Tanner ein Mittel, Dinge, die der übliche Film zerstückelt, wieder erfahrbar zu machen. Dass Tanner dabei den Zuschauer schockiert, liegt an der Konvention.

Le plan-séquence, l’absence de coupe à l’intérieur de la scène, est bien davantage qu’une élégance de mise en scène. Paradoxalement, alors que normalement cela devrait être le contraire qui serait vrai, (mais cela est simplement dû aux habitudes forgées dans Beeil du spectateur) le plan-séquence éloigne le réel tout en restituant la durée. C’est parce que la durée est tellement compressée au cinéma que le simple fait de la réintégrer provoque un effet d’étrangeté.5

Der Schnitt ist für Tanner kein Mittel, billige Reime herzustellen, Unzusammenhängendes unauffällig aneinanderzureihen. Schnitte werden von Tanner — wenigstens von der Absicht her — betont. Wenn in Filmschulen die Kunst der unsichtbaren Schnitte gelehrt wird, so ist der Schnitt in Tanners Filmen ein Sprachmittel... «La coupe ‘dit’ énormément de choses... j’ai même parfois fait renforcer le son en debut ou en fin de plan afin de rendre la coupe encore plus sensible»6. Das, was vor einem Schnitt erscheint, kann das folgende beeinflussen und umgekehrt. Mit Schnitten können Gegensätze, Widersprüche, klargemacht werden. Wenn man daran «radiert», gleitend den Zuschauer über zeitliche und thematische Sprünge hinwegtäuschen will, arbeitet man an einem Kino, das mit dem unmündigen Zuschauer rechnet.

Das Travelling, die Kamerafahrt, die Fahraufnahme, ist für Tanner nicht Trick, der den Zuschauer in Bann schlägt, einsaugt in die Tiefe des Bildes. Die fahrende Kamera macht Räumliches zu einer zeitlichen Kategorie. Dinge entstehen für Tanner, während die Kamera sich bewegt. Die Kamera macht die Dinge. «Le travelling crée une sorte d’émotion, de sentiment, qui n’a rien à voir avec ce qui arrive aux person-nages mais qui provoque un ‘frottement’, un glissement entre l’ceil et le sujet regardé.»

Alain Tanner möchte dem Publikum, das er respektiert, ein Chance geben, selber zu sehen, wenn er auf das suggestive Hickhack der kommerziellen Zooms und auf die aufsässige Schnittechnick, die einen von Eindruck zu Eindruck jagt, verzichtet. «C’est une façon de le (le spectateur) respecter, lui et son intelligence que de ne pas lui hurler son propos le nez collé au sien»7.

Solches macht der Film Grafs deutlich, wenn er in Totalen die Arbeit am Jonas zeigt. Soweit so gut: Graf hat einen Film für die Schule (Fach Medienerziehung) gemacht, einen Film der Gattung «Wie entsteht ein Film?» — Nein. Der Dokumentarfilm über den Spielfilm geht weiter. Wo Tanner einhalten muss, den Zuschauer zu verunsichern, dem Zuschauer Hürden in den Weg zu legen, kann Graf einsetzen. In sympathischer Penetranz misst er Jonas an den theoretischen Äusserungen seines Autors und findet dessen Grenzen: nicht verbal, sondern mit den Mitteln des Films selbst. Graf tut, was Tanner fordert. Er macht nichts in seinem Werk, was leicht zu konsumieren wäre. Graf spricht in diesem Zusammenhang von «Kleinigkeiten, die vielleicht auch eine bestimmte Haltung erkennen lassen».

Er verwendet Schreibmaschinenschrift für seine Zwischentitel, «eine nicht perfekte Schreibmaschinenschrift». Kommentar Grafs: «Mit Titeln, die unverrückbar dastehen, ist ein Zuschauer leichter zu überzeugen. Schreibmaschinenschrift erkennt man als etwas Hergestelltes.» — Eine andere «Kleinigkeit», mit der Graf arbeitet, um den Zuschauer zu fordern, besteht in Titeln, die «ein paar Informationen» enthalten: «Zum Beispiel ‘Marco et Marie’ oder ‘Roger Jendly und die Filme, in denen er schon für Alain spielte». Der Zuschauer muss nun diese Informationen selbst mit den Bildern in Verbindung bringen, das heisst, er wird schon durch Kleinigkeiten in der Einleitung daran gewöhnt, dass er selbst aktiv sein muss.»

Graf vermeidet es zudem, «dass Bilder — oder besser: abgebildete Handlungen — allzu eindimensional gelesen werden können. Nur kontinuierliche Handlungen werden aneinandergeschnitten. Ein zeitlicher Bruch wird sichtbar gemacht durch Ab- und Aufblenden; und in den Statements durch eingeschobenen Schwarzfilm oder — bei Fortführung einer Thematik — durch eine Überblendung. Die Bilder — und Töne — sind was sie sind. Sie werden nicht interpretiert (hingegen natürlich in Zusammenhänge gebracht).» (Graf in einem Brief an den Verfasser, Ende September 1977).

Den Blick des Zuschauers verändern

Im zweiten Teil des Filmes, «pourquoi et comment produire des images et des sons autres — le montage — la musique» (373,6 m, 35 Min.) passiert etwas für den inzwischen wachgerüttelten Zuschauer entscheidendes. Tanner, der sich verbal dazu bekennt, dem Betrachter Widerstand entgegenzusetzen, der sich mit seinen Bildern schwertut, reist — obwohl er zum Direktton neigt — zur Herstellung einer Filmmusik zu einem Musikanten nach Strassburg. Der operiert — böse gesagt — nach dem Hollywood-Spottwort: «birdie sings, music sings». Die «images autres», die anderen Bilder, werden mit musikalischen Geplätscher von der Sorte aufbereitet, die in Supermarkets verkaufen hilft. So etwas kann kein Zufall sein. Entweder hat Tanner von Musik keine Ahnung — was ich bezweifle —, oder er opfert in diesem Punkt der Konvention.

Graf demonstriert den Widerspruch. Das Publikum mag richten. Oder der dritte Teil der Studie Cinéma mort ou vif, überschrieben mit... «transformer le regard du spectateur...» (209,4 m - 20 Min.) bringt die Lösung. Es geht in Grafs Film auch um das Verhältnis zwischen Kunst und Geld, «l’art et l’argent». In Filme wird investiert. Investitionen müssen etwas abwerfen. Der Produktionschef wird interviewt und sagt, welche Grenzen das investierte Kapital setzt. Der Kameramann Renato Berta sagt, dass er bei Tanner mitmacht, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen und um frei zu sein, die Kamera für Jean-Marie Straub zu führen. Graf sagt:

Alain bewegt sich eindeutig in den ökonomischen Bedingungen des herrschenden Produktions- und Verleihgeschäfts, und er hat sich davon nicht korrumpieren lassen... Man hätte einen deprimierenden Film machen können über die Anpassung von Goretta, oder über die Produktionsbedingungen, welche Soutter diktiert bekommt. Wir befassen uns mit dem Besten, was es in der Schweiz an Spielfilmen gibt, um es zur Grundlage zu nehmen für die Frage wie weiter? oder wie noch besser? (Graf-Brief)

Graf sieht, dass Tanner dem Zuschauer mit seinen Bildern und Tönen noch zu wenig zutraut. Tanners Mittel «können vom geprägten Kinozuschauer immer noch bequem konsumiert werden. Die Musik wird anders eingesetzt — aber nicht zu laut. Die Musik entspricht allgemein konsumierbaren Harmonien und Rhythmen. Die Kamera bewegt sich unabhängig von den handelnden Personen — aber nicht zu extrem und nicht zu lange. Falls etwas ungewohnt ist: Der Reichtum an Handlungen und die Geschwindigkeit, mit der dem Zuschauer Material angeboten wird... Offen bleibt natürlich die Frage, ob Alain seine fünf Spielfilme hätte machen können, wenn er dem Zuschauer Widerstand leisten würde. Es kann sein, dass Alain genau so weit geht, wie dies im Kinogewerbe möglich ist (jedenfalls mit Filmen, die nicht nur in den Studiokinos gezeigt werden).» (Graf-Brief)

Urs Graf wollte Kritik an den herrschenden Kinoformen üben, indem er Tanners Arbeit studierte. Er konnte anhand der Widersprüche zwischen Tanners Theorie und Praxis aufdecken, worum es beim Filmen neben ästhetischen Problemen auch geht: um Geld! Er selbst demonstriert, dass er freier ist als Tanner, weil er für seinen Dokumentarfilm weniger Geld braucht, als Tanner für seinen Spielfilm. Erst Grafs Film ist etwas anderes; erst seine Bilder sind das, was Tanner im Gespräch fordert, Grafs Film besteht aus «anderen Bildern und Tönen».

Urs Graf, Exposé «Über Jonas» vom Februar 1976 plus Nachtrag vom 29. März 1976, S. N 4.

Graf, Exposé, a. a. O. S. N 1.

Tanner sitzt während des Interviews im Einfamilienhaus seiner Eltern in Genf. Graf bringt die Stadt-Land-Thematik, die für Tanner entscheidend ist, ins Bild. Einmal schwenkt die Kamera über den Bauernhof des Drehortes. Man sieht, der Hof ist nicht mehr in Funktion, er ist Lager eines Bauunternehmers. Montiert wird in Genf bei der Citel. Der Produzent sitzt in Paris.

Alain Tanner, «Le ‘pourquoi dire’ et le ‘comment dire’» in «Le milieu du monde ou le cinéma selon Tanner», hrsg. Michel Boujut, Lausanne, 1974, S. 12 ff.

Tanner, Le pourquoi, a. a. O., S. 20.

Tanner, Le pourquoi, a. a. O., S. 21.

Tanner, Le pourquoi, a. a. O., S. 23.

Cinéma mort ou vif. Produktion: Filmkollektiv Zürich mit Beiträgen der SRG, des EDI, des Institut central cinématographique d’utilité publique, der schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren. Ein Film von Urs Graf, Mathias Knauer, Hans Stürm und Felix Singer, Alain Klarer, Rainer Trinkler, Luc Yersin, Iwan P. Schumacher, Anne Cuneo, Beni Lehmann, André Pinkus. 16 mm. coi., 1137 m., 105 Minuten.

PAS TROP EXTREME, PAS TROP LONG

Avec une équipe du «Filmkollektiv» zurichois, et l’accord d’Alain Tanner, Urs Graf a analyse une journee du tournage de Jonas. Graf confronte les déclarations de Tanner, sa volonté de faire un «cinéma autre» avec la pratique et démontre des contradictions. Seul dans le documentaire sur Jonas (titre: Cinema mort ou vif) se manifeste ce que «images et sons autres» signifient, il devient clair que des images cinématographiques sont quelque chose d’artificiel. Les totales de Graf englobent aussi les appareils avec lesquels l’équipe travaille pour un plan. Graf montre la technique, plus précisément: il informe sur la scène 46, tournée le 23 mars 1976. C’est le documentariste qui résiste au public et qui oblige le spectateur à la réflexion, parce qu’il renonce au déroulement conventionnel de l’action, à la typographie léchée des titres, aux enchaînements doux: bref, en prenant Tanner au sérieux. Graf peut se le permettre parce que son documentaire n’a coûté qu’une fraction de ce que le film de fiction qu’il observe a dévoré. «La liberté artistique est presque illimitée aussi longtemps que la caisse est en ordre», dit Graf. «La liberté finit avec les chiffres rouges.» (msch.)

Werner Jehle
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]