Ich suche ständig irgendwas. Es ist zum Verzweifeln. Ich bin da auf eine Art gar kein Bildhauer. – Josephsohn
Wir machen nur das, was wir müssen. – Die Putzfrauen im Museum zu Allerheiligen
Josephsohn — Stein des Anstosses: an dem Titel habe ich mich zunächst gestossen. Man denkt an kaum behauenen, kantigen Granit oder an einen Findling, abgeschliffen durch Jahrtausende und noch immer unförmig. (Oder an einen Pflasterstein, Mai 1968 in Paris.) Der Bildhauer Josephsohn arbeitet aber nicht oder nur ausnahmsweise in Stein, sondern vor allem in Gips: ein weiches, poröses Material, fragil, verletzlich, intim in der Oberfläche, wie dazu gemacht, von Blinden mit Fingerspitzen betastet, ertastet zu werden. Oder in Lehm, den er mit blossen Händen knetet und formt. An diesen Figuren und Reliefs, die so gar nichts von Steinen haben, kann man eigentlich nicht anstossen und auf keinen Fall sich wehtun. Aber man kann sie sehr leicht beschädigen, solange sie aus Gips oder Lehm sind, und man kann — trotz der Patina, ohne die Josephsohn sie nicht aus der Hand gibt — mit dem Blick an ihnen abgleiten, wenn sie erst einmal in Bronze gegossen sind.
Auch der Mann Hans Josephsohn hat nichts Steinernes und nur wenig Steiniges an sich. Er ist keiner jener Findlinge oder erratischen Blöcke, als die manche Bildhauer kraftmeiernd und potenzprotzend sich gerne auch persönlich geben. Bei Josephsohn ist es eher so, dass er seine Kraft versteckt. Die grosse Heftigkeit, die seinen Reliefs die Spannung gibt und die nur selten explosiv aus ihm herausbricht, umgibt er mit einem Mantel aus Gelassenheit, Gleichmut und Distanz. Die Absolutheit seines Anspruchs verbirgt er hinter Anspruchslosigkeit. «Nicht auffallen» — diese Devise, genauer: diese Überlebensbedingung aller Verfolgten hat ihn aus Nazideutschland durch das Italien Mussolinis in die Schweizer Flüchtlingslager begleitet und ist ihm als Gewohnheit oder Bedürfnis auch in den Strassen und Cafés von Zürich geblieben. Oder wie Josephsohn von sich selber sagt: «Ich bin nicht interessant.» Womit er meint, interessant sei allein sein Werk.
Lässt man das Sinnliche der Metapher einmal beiseite, so stimmt der Titel natürlich: dieser Hans Josephsohn ist ein Stein des Anstosses, und auch der Film von Jürg Hassler ist in kürzester Zeit dazu geworden. Anstosserregend an Josephsohn ist nicht so sehr sein Werk, das man immer noch erst entdecken muss, um es überhaupt wahrzunehmen — Anstoss erregt vielmehr Josephsohns Existenz, die in jeder Beziehung quer zur Zeit steht: in der unbedingten und doch ganz unfanatischen, unverkrampften Konzentration auf die Arbeit, in der souveränen Gleichgültigkeit gegenüber allen Modeströmungen und Trends, in der konsequenten Weigerung, für den möglichen Erfolg einen anderen Preis zu zahlen als die unbeirrte tägliche Arbeit. Wie Josephsohn sagt:
Entweder müssen sie mich für einen armen Idioten halten, oder es ist eigentlich so eine Provokation für ihr eigenes Leben, dass, wenn sie es genau nehmen würden, mich eigentlich erschlagen müssten.
Um sich Jürg Hasslers Darstellung des Bildhauers Josephsohn anzunähern, mag es nützlich sein, sich zunächst einen anderen Film vorzustellen: den eines «Kunstfilmers», womöglich von einem Kunsthistoriker oder -kritiker kommentiert, der sich ein «Künstlerporträt» («Mensch und Werk») zum Ziel setzt. Der würde vermutlich bereitwillig eingehen auf Josephsohns Wunsch, hinter seinem Werk gleichsam spanisch zu verschwinden: er würde ein paar biographische Daten geben, den Künstler bei der Arbeit zeigen und sich darum bemühen, das Œuvre chronologisch oder systematisch oder sonstwie zu zeigen und zu interpretieren. Sich darauf zu beschränken, wäre übrigens seine einzige Chance, denn träte er Josephsohn zu nahe, etwa mit der Forderung, ihn auch privat zu zeigen, so würde das Unternehmen fast sicher mit Krach und Hinausschmiss enden.
Zu diesem Film, den fast jeder andere gemacht hätte, ist Hasslers Film das genaue Gegenstück. Hassler ist seit zwanzig Jahren mit Josephsohn vertraut: als Schüler, Helfer, Freund, und sein Film ist zunächst nichts weiter als die Fortsetzung eines täglichen Gesprächs mit anderen Mitteln. (Was Josephsohn für Hassler bedeutet, lässt sich am ehesten mit dem heute so missbrauchten Wort Guru bezeichnen: ein Meister, von dem man nicht ein Handwerk oder eine Fertigkeit, sondern sehen und leben lernt.) Mit Hasslers Worten:
Die Filmaufnahmen haben sich oft ganz nebenbei ergeben, ohne die zielstrebige Absicht nach einem Resultat. Ich habe Josephsohn mehr als Freund für einen Schwatz besucht oder für handwerkliche Handreichungen oder um mich mit seinen Plastiken auseinanderzusetzen, und es kostete manchmal Überwindung, sich vom unmittelbaren Eindruck loszureissen, um die Kamera an den richtigen Standort hinzustellen.
Nur aus diesen nichtprofessionellen Voraussetzungen konnte sich ergeben, was Josephsohn sonst streng vermeidet: eine Selbstdarstellung nicht bloss durch das Werk, sondern vor und neben dem Werk. Was andere Künstler in Aufzeichnungen, Tagebücher niederlegen: die Entstehungs- und Randbedingungen, die Neben- und Abfallprodukte des Werks — das gibt im Falle Josephsohn eine erste Ebene von Jürg Hasslers Film in unmittelbarer Lebendigkeit — sur le vif, wie die Franzosen sagen — und aus der Intimität einer Beziehung wieder, in der die Grenzen zwischen Gespräch und Selbstgespräch weitgehend aufgehoben sind. Wie Josephsohn sich im Figurenwald seines Ateliers bewegt, wie er mit seinen Arbeiten, unfertigen, halbfertigen, umgeht, wie er sie in Frage stellt, verbessert, auch zerstört, wie er vor sich hinschimpft, wenn die Gesetze der Schwerkraft sich nicht nach seinen Vorstellungen richten, wie er sich von seinen Geschöpfen auf den Liegestuhl und ganz nach innen zurückzieht — das alles verschmilzt mit dem, was Josephsohn in Aperçus von oft aphoristischer Schärfe über sich, Gott und die Welt aussagt, zu einem subtil facettierten und doch ganz einheitlichen Selbstbildnis aus der Sicht eines Freundes.
Nun hat Hasslers Methode aber nichts gemein mit cinéma-vérité oder uncontrolled cinema. Gewiss haben sich seine «Aufnahmen oft ganz nebenbei ergeben, ohne die zielstrebige Absicht nach einem Resultat». Aber einmal ist sein Film bei aller Direktheit und Spontaneität der einzelnen Einstellung und Szene in einem sehr hohen und gerade darum für den Zuschauer kaum spürbaren Mass gestaltet und durchkomponiert — und zweitens hat der Autor des «Agitationsfilms» Krawall (1970) diesen Film nicht einfach gemacht, um der Nachwelt ein Dokument des Bildhauers Josephsohn zu überliefern. Die Selbstdarstellung, zu der er Josephsohn immer wieder provoziert und überlistet, indem er ihm Fragen und ihn — durch die Stimme des «Sozialisten», durch ein feministisches Traktat undsoweiter — in Frage stellt, ist zugleich eine Selbstbefragung des Autors. Unter allen Dokumentarfilmen des neuen Schweizer Films ist dies vielleicht der erste, der die ethnographische Perspektive — hier ich, der Beobachtende und Fragende, dort du, der Beobachtete und Befragte — ganz überwunden hat. Nicht der Künstler Josephsohn und nicht sein Werk, das ihn überleben wird, stehen im Zentrum des Films. Worum es Hassler geht, ist eine Seinsweise, die er als exemplarisch, als «Beispiel und Modell» empfindet und die ihn ebenso beunruhigt wie fasziniert, mehr: durch die er sich selber nicht weniger als die meisten Zeitgenossen in Frage gestellt sieht. Josephsohns Sammlung und Konzentration auf das Eine, seine Autonomie innerhalb einer Welt, die er gestaltet hat und immer weiter gestaltet, weil sie nie fertig ist, seine Ablehnung alles Plakativen, Parolenhaften, Abstrakten: das erscheint in Hasslers Film als Gegensatz nicht nur zu Konsum und Reklame, Pop-Art und sozialistischem Realismus, sondern als Gegenwelt schlechthin.
In dieser Perspektive erscheint auch Josephsohns Biographie: die Kindheit und Jugend als kleinbürgerlicher Jude im Deutschland der völkischen und der entarteten Kunst; die Suche nach einer Identität bis hin zur Selbstentfremdung in der jüdisch-deutschen «Jugendbewegung»; der Ausbruch nach Italien, dessen Menschen und Landschaften und archaische Kunst ihm zur eigentlichen Heimat werden; das Exil in der Schweiz, wo Flüchtlingslager und Fremdenpolizei ihn vollends auf sich selbst verweisen. Dass einer von Amts wegen kein Geld verdienen, keinem Erwerb nachgehen darf, erweist sich in der Rückschau als seine eigentliche Chance.
In den wenigen Monaten seit seiner Uraufführung ist Jürg Hassler Film vor allem auf Unverständnis und Ablehnung gestossen. Auswahljurys haben ihn abgelehnt, staatlich bestellte Experten «die Konzeption und die Gestaltung des Films unausgegoren» genannt und sich zu der Behauptung verstiegen, «es gelinge dem Regisseur nicht, das bildhauerische Werk des Künstlers filmisch zu erfassen, darzustellen und zu interpretieren.» Um zu meinem anfänglichen Unbehagen mit dem Titel zurückzukehren: sowohl von Josephsohn wie von Jürg Hasslers Film lässt sich sagen, dass sie weniger Anstoss erregen würden, wenn sie mehr Stein, wenn sie steinerner, versteinerter wären. An Josephsohns Plastiken wird das Unfertige, Unkonturierte, Fliessend-Fragmentarische bemängelt, der sozialistische Realist im Film nennt sie «vom Optischen her — und wir sind ja vor allem optische Leute in unserer Epoche — (...) einfach ziemlich rudimentär, infantil», und die Putzfrauen im Museum zu Allerheiligen sehen, «dass das Köpfe sind, aber was es darstellt und was der Künstler sich gedacht hat dabei, als er sie gemacht hat, was...». Von Jürg Hasslers Film sagen Fachleute der Kunst und des Films, «die Visualisierung wirke zerfahren, unkontrolliert und technisch mangelhaft».
Es ist schon so: Hassler verzichtet konsequent auf jenem professionellen Oberflächenfinish und -firnis, der im Schweizer Film mit dem Anschwellen der Budgets und der Mitarbeiterstäbe überhandgenommen hat. Das Leben, das wir in den letzten Jahren zunehmend in ausgeklügelte Cadragen und Kamerabewegungen zwängten und dessen Poren wir mit der Goldbronze und dem Seidenglanz perfekter Ausleuchtung verstopften: das Leben pulsiert in Josephsohn dicht unter der Haut. Auch hier ist die Analogie zu Josephsohns Plastiken und ihrem «bröcklig-unbestimmten, tastend-unfertigen Oberflächengrad» (Paul Nizon) evident. Es geht darum, sich einem Gegenstand, einer Vorstellung, einer Figur anzunähern, nicht sie festzulegen und festzurammen in einem Endresultat.
Mit Josephsohn hat der neue Schweizer Film eine Spiralwindung zurück zu seinen Anfängen und zugleich über sie hinaus vollzogen. Die Spontaneität des Cinéma direct, das Vertrauen auf die Selbstdarstellung der Dargestellten kehren auf einer neuen Stufe wieder in der Dialektik von Selbstdarstellung und Kritik, von Frage und Selbstbefragung. Jürg Hassler zeigt den Künstler Josephsohn so, wie er sich selber darstellt, und indem er es tut, weigert er sich zugleich, ihn so zu zeigen, wie er sich selber sieht: als Künstler, der nur in seinem Werk und durch sein Werk lebt. Das Leben, das Hans Josephsohn in Jürg Hasslers Film gewinnt, geht über sein Werk hinaus, es ist mehr als jedes seiner Werke und auch mehr als die Summe seiner Werke. Der Prozess des Schaffens ist wichtiger als die Produkte. Der Künstler ist auch ein Mensch — vielleicht ist er einfach der Mensch. Indem er uns diese Einsicht nahelegt, hat Jürg Hassler mehr getan als «nur das, was wir müssen», und das, vermute ich, nimmt man ihm vor allem übel.