BEATRICE LEUTHOLD

LIEBER HERR DOKTOR — EINE KOLLEKTIVPRODUKTION UND DIE ÜBERLEGUNGEN DANACH

CH-FENSTER

Exposition. Zu Beginn, ungefähr vor einem Jahr, planten wir einen 30 bis 45 minütigen Diskussionsfilm zum Thema «Abtreibung in der Schweiz». Die Wahl des Themas war bedingt durch unsere Praxis als Frauen der Infra (Informationsstelle für Frauen), die wöchentlich, und als Ärzte, die täglich mit dem Problem konfrontiert wurden. Das Thema Abtreibung lag uns nahe, weil es exemplarisch sehr viel aussagen konnte über die Situation der Frau in der Schweiz.

Am Schluss bestand unsere Arbeit aus einem 60-minütigen Film, der vor der Abstimmung über die Fristenlösung während 10 Wochen in 8, während der letzten 6 Wochen in 15 Kopien täglich irgendwo in der Schweiz gezeigt wurde. Zwischen 60 000 und 80 000 Leute haben den Film gesehen. Das ist eine grosse Zahl gemessen an unserm Arbeitsaufwand, an den finanziellen Mitteln, gemessen auch an der Tatsache, dass keine reguläre Kinoauswertung und keine TV-Ausstrahlung stattfand. Unter anderen beurteilen Hedi Schaller (SABZ, 75 Vorführungen mit 3 Kopien), Annemarie Rey (Vereinigung f. straflosen Schwangerschaftsabbruch), Elfi Schöpf (SPS-Sekretariat), Prof. Ff. Stamm (Baden) den Film als ausgezeichnetes Mittel im Abstimmungskampf. Diese auf realpolitischem Boden stehenden Leute, die sich seit Jahren für die Fristenlösung einsetzen, und die sich — wie wir übrigens auch — keine Chance für die Freigabe ausrechneten, bezeichnen das Resultat (48 % Ja-Stimmen) als positiv. Unser Teilnehmen am Abstimmungskampf war nicht ein Kampf um ein kurzfristiges Erfolgsziel, sondern ein Teilnehmen an einem Prozess, der z. B. dank einer Abstimmungskampagne vorangetrieben werden kann. Wir wussten aus der Praxis, dass selbst bei der (unwahrscheinlichen) Annahme der Fristenlösung sich die Situation für die Frauen der konservativen Kantone nicht ändern würde in den nächsten 5 bis 10 Jahren. Sie würden weiterhin keine Ärzte finden und in die Städte wandern müssen. Mit dem Film wollten wir den Leuten das Problem vor Augen führen und nicht propagieren: Fristenlösung ja. «Emanzipatorischer» Film heisst für uns nicht, den Zuschauer zu der Meinung zu bringen, die wir von ihm erwarten. Es heisst für uns vielmehr, den Zuschauer überhaupt zu motivieren, seine Meinung, wie sie auch immer sei, zu reflektieren, sie auszudrücken, sich persönlich in einem Votum zu engagieren. Der Zuschauer, der provoziert wird, seine Gedanken öffentlich zur Diskussion zu stellen, steht bereits in einem Bewusstseinsprozess. Das ist unser Ausgangspunkt.

Exkurs 1. Der Verleih wäre in diesem Ausmass nie möglich gewesen ohne die Infrastruktur der Filmcooperative und ohne die Arbeit der Filmgruppe. Es war von Anfang an klar, dass die Mitarbeit an einem Diskussionsfilm auch die Mitarbeit an den Vorführungen bedeutete. Das Filmemachen war eine erste Arbeitsleistung, das Erarbeiten eines Instrumentes. Die Vorführtätigkeit war immer als zweite Leistung vorgesehen. Interessierte wurden zusätzlich aufgefordert, die Vorführungen in die eigenen Hände zu nehmen. Frauengruppen nahmen Projektorkurse in der Filmcooperative und zogen während Wochen in Eigenregie mit dem Film herum. Sehr gut war auch der Kontakt zu Einzelpersonen (Hausfrauen, Lehrer, Pfarrer), die von sich aus Vorführungen in ihren Gemeinden organisierten. Die Filmgruppe funktionierte in diesem Fall als Berater, einzelne nahmen auf Wunsch an der Veranstaltung teil, traten aber zugunsten der Autonomie der Veranstaltenden in den Hintergrund.

Exkurs 2. Die Realität der Frauen in der Innerschweiz, mit welcher konfrontiert zu werden für uns eine heilsame Erfahrung war. Frau aus einem Innerschweizer Dorf:

Wir wollen eure Abtreibung nicht. Wie sollen wir uns noch unsere Männer vom Leib halten, wenn wir nicht mehr sagen können, ich werd gleich wieder schwanger? Die schicken uns dann nach Zürich abtreiben!» Frau aus Zürich (spontaner, nicht überlegter Ausruf): «Was habt Ihr denn für Männer?» Frauen aus der Innerschweiz (sehr wütend): «Glaubt nur ja nicht, Ihr hättet in Zürich die bessern!

Die Frauen dieser Kantone verfügen oft nicht einmal über die einfachsten Verhütungsmittel.

Die Realität der Gegner. Die Filmgruppemitglieder bekamen sie zu spüren durch anonyme Telephone, Drohbriefe, verschiedene Prozessandrohungen, einen tatsächlich als unwahrscheinliche Farce über die Bühne gegangenen Prozess, der im Sand verlief. Am härtesten war der im Film vorkommende Arzt betroffen, der den Verunglimpfungen seiner Herren Kollegen ausgesetzt war. U. a. wurde behauptet, der im Film gezeigte Abbruch sei fiktiv oder schlecht ausgeführt. Nur indem er selbst mit Verleumdungsklagen drohte, konnte er solche Gerüchte zum Verstummen bringen. In Vorführungen konnte man gelegentlich die Autoritätsgläubigkeit des Publikums und das Prestige der Ärzteschaft kennen lernen. Ärzte konnten ihre Lügen auftischen (z. B. «Wenn Ihr ja stimmt, wird auch jedes missgestaltete Neugeborene mit einer Spritze getötet»), und ein Teil des Publikums war stets bereit, diesem «lieben Herrn Doktor» alles zu glauben.

Fazit. Gemessen an quantitativen Kriterien war der Film ein Erfolg, sein Gebrauchswert ist rein äusserlich als gut zu bezeichnen: der Film hat «funktioniert». Wir sind uns jedoch bewusst, dass Zahlen über die Qualität des Films nichts aussagen. Wir selbst kennen seine Fehler, wissen, dass viele Anspräche nicht eingelöst werden konnten. Die Fertigstellung war ein non-stop-Marathon mit allen sich daraus ergebenden filmischen und persönlichen Problemen. Man gab sich im Mai mit der Hälfte und weniger dessen zufrieden, was im Januar noch geplant war. In absehbarer Zeit wird man uns wahrscheinlich auch von offizieller Seite bestätigen, dass der Film schlecht ist. Wir sind überzeugt, dass schlechte Filme nicht nützliche Filme sein können. Den Anspruch, dass ein nützlicher Film auch ein guter Film sein muss, wollen wir unbedingt aufrechterhalten. Hier müssen Selbstkritik und Analyse einhaken.

In einigen Punkten sind wir uns einig. Richtig finden wir nach wie vor die Art der Interviews: die befragte Frau erzählt halbnah einem Gruppenmitglied, das der Kamera den Rücken zukehrt, ihre Erfahrung. Wir haben ein Dutzend Interviews in dieser Konstellation gefilmt. Eine Fernsehcutterin, die das 8-Minuten-Interview mit Francoise T. auf dem Schneidetisch sah, sagte: «Das könnt ihr nie machen. Wo sind die Gegenschnitte? Wo sind die Grossaufnahmen?» Wir wollten nicht, dass Francoise dem Zuschauer ins Herz weine. Der Zuschauer sollte sich nicht mit einem beklagenswerten Opfer identifizieren. Identifikation erschwert selbständiges Weiterdenken. Um allen Missverständnissen vorzubeugen: «sich nicht identifizieren» heisst keineswegs «keine Emotionen haben». Wir wollten dem Zuschauer lediglich die Emotion «Mitleid» verweigern (Mitleid blockt ab), vielmehr die Emotion «Solidarität» mit Frauen in einer Situation, die sie extrem zur Unterdrückten macht, die Emotion «produktive Wut» hervorrufen.

Schlecht finden wir u. a. die Zwischenteile. Schlecht im Sinn von filmisch ungenügend und nicht im Sinn von unvollständig. Filmemacher stehen hierzulande (wohl auch anderswo) immer unter einem Vollständigkeitszwang, was dazu führt, dass sie jahrelang an ihren Produkten arbeiten. Differenzierter, breiter, subtiler wollten wir das Thema zu Beginn angehen, aber nicht allumfassend. Wenn der Zuschauer von selbst draufkommt, dass in einem Diskussionsfilm «etwas fehlt» und darüber spricht, dann ist diese «Fehl-Leistung» implizit im Film enthalten.

Die Ästhetik des Gebrauchsfilms ist nicht geschrieben, und es ist uns nicht möglich, sie jetzt zu schreiben. Präzise Vorstellungen müssen unbedingt erarbeitet werden, bevor auf diesem Filmgebiet weitergemacht wird.

Exkurs 3. Wir haben die Filmarbeit ohne Geld begonnen und unternahmen grosse Anstrengungen, die Mittel zu erhalten. Zu Beginn war die Situation verzweifelt, und es wurde beschlossen, über Geldfragen nicht mehr zu sprechen, da die Arbeit dadurch gelähmt wurde. Hunderte von Briefen wurden während Wochen an Freunde, Bekannte, Politiker und Organisationen verschickt. Bei fortschreitender Arbeit flössen die Spenden von Privatpersonen reichlich. Heute sind die Auslagen gedeckt, Honorare wurden nicht bezahlt. Gratisarbeit beruht aber auf einem elitären Prinzip (wer kann sie sich heute leisten? Sind die, welche sich das leisten können, auch immer die richtigen Leute?) und soll nicht idealisiert werden. Auch die Geldaktion wollen wir im Nachhinein weder idealisieren noch unbedingt empfehlen, obwohl sie uns zeigte, dass eine breite Basis unser Projekt wichtig fand. Die Aktion hat uns viel zu viel Zeit gekostet. Das Geld kam zusammen, weil das Thema aktuell war und jeden einzelnen betreffen konnte. Würde sich diese Art von Geldbeschaffung durchsetzen, könnte sich bei der Themenwahl eine Art Opportunismus durchsetzen, würde man sich zum Voraus fragen, mit welchem Filmthema man am meisten Geld erhalten könnte. Offizielle Stellen könnten sich vermehrt um einen Beitrag drücken mit dem Hinweis auf den Erfolg der Basis-Geldbeschaffung.

Von offizieller Stelle wurden wir kaum unterstützt. Dadurch dass wir plötzlich auf die politische Realität einschwenkten und den Film kurzfristig fertigstellen wollten, gingen wir des EDI-Beitrages verlustig, obwohl die Expertenkommission mit allen gegen eine Stimme das Projekt befürwortet hatte. An dieser Stelle muss wieder einmal ganz klar gesagt werden, dass es in der Schweiz unmöglich ist, einen Film zu einem politisch brisanten Thema mit einer Unterstützung des Bundes zu realisieren. Diese Tatsache sollte ehrlicherweise in den Richtlinien zur Filmförderung offen festgehalten werden.

Gewerkschaftsbund und SPS unterstützten das Projekt nur zögernd und mit lächerlich kleinen Beiträgen, obwohl sie den Film nachträglich sehr stark einsetzten. Es wäre an der Zeit, dass die zuständigen Gremien merkten, dass Filme nicht zu unterschätzende Mittel der Öffentlichkeitsarbeit darstellen. Dass Filme eine bessere, weil offen geführte Strategie ermöglichen und auf einer ganz andern Ebene funktionieren als letztlich anonym und parolenhaft gehaltene Kleber, Zündholzbriefchen, Postversand in private Haushaltungen und dergleichen. Es ist mühsam, dass qualifizierte Filmemacher immer noch auf Misstrauen stossen und ihre Projekte den später mit ihnen zusammenarbeitenden Organisationen bettelnderweise schmackhaft machen müssen. Erfreulicherweise scheint sich in einzelnen Gewerkschaftssektionen eine Änderung in Richtung einer aktiveren Medienpolitik abzuzeichnen. Sie haben gemerkt, dass der Film als Produkt zwar teuer, in seiner Effizienz (Diskussion in Öffentlichkeit und Presse) aber verglichen mit andern Mitteln billig zu stehen kommt. Das einzige Machtpotential politisch engagierter Filmemacher, Künstler, Intellektueller ist im Grunde, Sachen zu machen, die von der Gegenseite nicht erwartet werden. Dieses Potential müsste einmal ohne Legitimationszwang anerkannt werden.

Mit der Geldfrage verhält es sich genau wie mit der Ästhetik: vieles muss gründlich abgeklärt werden, bis eine sinnvolle Weiterarbeit gewährleistet ist.

CHER DOCTEUR

Béatrice Leuthold, une des réalisatrices du film sur la question de l’avortement, dessine l’histoire de ce film d’intervention et fait au nom du collectif — l’autocritique, le bilan de cet expérience. Pendant dix semaines, le film circulait avec huit copies, pendant les six dernières semaines avant la votation, avec 15 copies. Entre 60 000 et 80 000 spectateurs ont vu ce film. Ceux qui l’ont utilisé dans leur campagne le jugent utile et efficace. Le collectif a toujours visé plus haut; même si l’initiative avait été acceptée, la situation de la femme n’aurait pas changé profondément. «Film émancipateur» ne signifie pas donner des réponses, mais provoquer la réflexion.

La distribution a été effectuée en collaboration avec la «Film-cooperative» de Zurich; les auteurs du film ont pris des cours d’opérateur; elles ont accompagné le film dans toute la Suisse. La collaboration avec des groupes et des personnalités aux lieux de la projection était excellente. Par contre, le collectif a rencontré des murs d’incompréhension (souvent motivée par un sentiment d’infériorité) chez des femmes concernées et un front d’adversaires (souvent des médecins) qui ne reculaient devant rien. En ce qui concerne le succès quantitatif du film, la valeur de Cher Docteur est considérable; le film a fonctionné. En ce qui concerne la qualité «intérieure», Béatrice Leuthold pèse le pour et le contre. L’esthétique du film à usage immédiat n’est pas encore écrite. Mais partant des expériences pratiques, le collectif se pose des questions avant de continuer le travail. Il réfléchit en même temps sur le financement de films d’intervention politique. Il aimerait bien que la Confédération se prononce clairement: Est-ce qu’elle peut aider des projets qui abordent une problématique politique précise et qui reflètent clairement une position politique. Sinon, les partis et groupements politiques devront changer d’attitude. Les cinéastes ne sont pas des mendiants, mais des confédérés qui méritent la confiance et l’appui financier. (msch.)

Beatrice Leuthold
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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