MARTIN SCHAUB

DIE BOTSCHAFT VON DER INSEL — REPÉRAGES VON MICHEL SOUTTER

CH-FENSTER

Es war verständlich — wenn auch nicht selbstverständlich — dass Michel Soutter nach L’Escapade eine Denkpause einlegte. L’Escapade war gerade noch gelungen: als Film auf dem schmalen Grat zwischen leichtsinniger Gewöhnung und tiefsinnigem Krampf. Mit knapper Not gelang da etwas, was sich zu leicht angelassen hatte, auf der Ebene der Erfindung und auf der Ebene der Produktion. Drei Männer kamen zur Ruhe: Auguste, der gern und rasch beleidigte Schriftsteller, Ferdinand, der potentielle Selbstmörder an seinem vierzigsten Geburtstag, und der Ehemann, Paul, der dem Film den Titel gibt; er schaut auf den Bauch seiner Frau und sieht wieder eine Zukunft vor sich. L’Escapade, dieser Film über die Unsicherheit und die Vergänglichkeit der Gefühle mit seiner diskontinuierlichen Geschichte, seinen zerbrechlichen Scherzen, seinem durchscheinenden Symbolismus war die heitere Schlusscoda hinter eine kleine Musik, deren Thema die Lebensangst war, ein Stück mit fünf Sätzen, einem verzweifelten (La lune avec les dents), einem trotzigen (Haschich), einem tastenden (La pomme), einem tragischen (James ou pas) und einem abschliessenden, zusammenfassenden (Les Arpenteurs). L’Escapade ist nicht der krönende Film der Reihe; er war sogar ein bisschen überflüssig. James ou pas und Les Arpenteurs sind wohl die wichtigsten und gewichtigsten gewesen bis Repérages. Nur die Figur Ferdinands (Jean-Louis Trintignant) reichte in die Höhe dieser beiden Filme. Michel Soutter wurde sich nach L’Escapade eines gefährlichen Mechanismus, einer Selbsttätigkeit seiner poetischen Welt bewusst und entschloss sich zu einer Pause, in der alles — nicht nur das Kino — neu zu überdenken war. Soutter machte, was Francois Truffaut zum Beispiel immer wieder ankündigt und nie fertigbringt; er schwieg.

Nicht ganz freilich: Zwei Theaterinszenierungen am Théâtre de Carouge (Ubu roi von Jarry und sein eigenes Stück Ce Schubert qui décoiffe) und meines Wissens zwei Fernsehinszenierungen liegen in den drei Jahren des Schweigens (L’Eolienne und Brechts Dialogues d’exilés). L’Eolienne skizziert das Scheitern eines Filmprojekts: Der Regieassistent bereist die ganze Gegend auf der Suche nach noch funktionierenden Windrädern, derweil sich der Regisseur bereits mit dem Komponisten über die Musik des Films unterhält, denn offenbar ist die Musik das Wichtige, nicht die Sache. Weil die Musik nicht zustande kommt, wird der Film abgeblasen. Auf der Bühne, sagt Soutter, ausgerechnet dort, wo er die «planséquence» hat systematisch anwenden wollen, habe er den Sinn der «découpage» entdeckt, eine gewisse szenische Analytik.

Kurz, Michel Soutter meint, er sei in den Jahren des Schweigens ein anderer geworden, mit Repérages fange eine neue Phase an.

Die Inszenierung einer Handlung

Bisher wurden Soutters Figuren zufällig aus ihrer Ruhe und relativen Untätigkeit in eine Handlung gerissen. «Der Schrei eines anatolischen Hirten» ist es in Haschich, ein nicht eingestellter Taxameter in James ou pas, die «Lust nach etwas Salzigem» in Les Arpenteurs und immer wieder Frauen, deren Weg man unbeabsichtigt kreuzt; sie bringen Soutters Helden von ihrer Bahn ab, führen sie in sich selber hinein, bringen sie aus ihrem labilen Gleichgewicht und helfen mit, ein neues, ebenso labiles zu finden. Soutters Figuren passiert eine Geschichte.

In Repérages inszeniert die Hauptperson eine Geschichte, vorsätzlich, in vollem Bewusstsein. Victor (Jean-Louis Trintignant), der Regisseur, bestellt drei Schauspielerinnen zu Proben für seinen Drei Schwestern-Film ins Hotel des Salines nach Bex. Er weiss, dass der Film und die Proben ein Vorwand sind, um seine Frau, von der er sich vor Jahren getrennt hat, wieder zu sehen, verstehen zu lernen, wieder (oder erstmals richtig) zu lieben und zu besitzen.

Ein zweifelhaftes Unterfangen; der Lächerlichkeit entgeht Victor nicht, dieser Mann, der sich den Launen und der Kritik, den Spannungen und den Erwartungen von drei Frauen aussetzt, um die eine zu gewinnen, dieser Mann, der alles klären will und sich die Klärung nicht zu einfach machen will. Er ist schon wegen des blossen Vorsatzes ein bisschen lächerlich. Lächerlich und hilflos, denn alles wächst ihm ein wenig über den Kopf. Julie (Delphine Seyrig) bricht zusammen, Cécilia (Lea Massari) lässt sich nicht so ohne weiteres in einer Selbstfindungsaktion gebrauchen und missbrauchen. Esther (Valérie Mairesse) schliesslich, die Jüngste und die Jugend, fühlt sich so ausgeschlossen, dass sie fast mit Gewalt sich in die Geschichte hineindrängen will, (indem sie mit Victor «eine Geschichte» hat).

Victor, Julie, Cecilia und Esther kommen ins Reden über die Liebe, die Männer und die Frauen. Sie drehen im Kreis, finden keine Lösung. Der «Erlöser» kommt ganz am Schluss dazu: Jean Vallee (Roger Jendly), «artiste dramatique», der sich bei Victor für die Rolle des Tschebutikin bewirbt, abgewimmelt werden soll und dennoch eine Szene vorspielt — den Tod Tschechows in Badenweuker am 2. Juli 1904 —, nicht vorspielt, sondern lebt. Er sagt «Ich sterbe», und er stirbt.

Cecilia: Tcheboutykine, quelle leçon d’amour vous nous donnez. Nous parlons, nous parlons, mais que nous nous aimons peu...

Unverhofft — wie die Gnade — löst Vallée den Fluch, der über den vier Hauptpersonen gelegen hat. Eine letzte lange Einstellung: Ein Panoramaschwenk streift über Szenen gnadenhaften Friedens, die drei Frauen, Victor ganz gelöst, Kinder, Cecilias Hund; dann erhebt sich die Kamera und blickt in eine grosse Waldlichtung; «Die drei Schwestern, vierundsiebzig, die erste», ruft der Assistent, und ganz hinten, im Takt einer fröhlich dissonierenden Musik, löst sich der Darsteller des Tschebutikin aus den Baumschatten und kommt auf die Kamera zu.

Auf die Kamera, die bis jetzt Soutters Kamera war und jetzt die Kamera von Victor. Die Liebe ist eingekehrt, und jetzt kann nichts mehr passieren.

Eine Lektion in Liebe

Jean Vallee ist in keinem Augenblick zu verwechseln mit einer jener Soutter-Figuren der früheren Füme, die der Zufall ins System spielt. Er hat von Anfang an Attribute eines deus ex machina. Repérages hat alle Züge einer letztlich christlich inspirierten Fabel. Mein Zwischentitel soll als Hinweis auf Ingmar Bergman aufgefasst werden; er liegt am nächsten bei Soutter. Nicht nur Vall6e erteüt den vier Verirrten eine «leçon d’amour»; der ganze Film soll eine «leçon d’amour» sein, für den Zuschauer, für mich. Repérages ist angelegt als das erste Alterswerk des Neuen Schweizer Films. Soutter wird nicht müde, auf sein und Victors Alter hinzuweisen. Mit vierzig sei man an jenem Kap angekommen, wo man nicht mehr nur vorwärtsschaue, sondern zurück auf seine Irrtümer.

Die Botschaft hör ich wohl, allein, mir fehlt der Glaube. Mich hat noch kein Film Soutters weniger überzeugt als Repérages, und ich frage mich, weshalb. Im Grunde könnte es meine fehlende Erlösungs-Sehnsucht sein; dann wär’s meine eigene Sache. Ich meine, es gibt andere Gründe für die relative Schwäche von Soutters Lektion in Liebe ästhetische auch, und erst später sozusagen «ideologische».

Auffällig — und für mich in Repérages zum ersten Mal bei Soutter störend — ist der «poetische» Verbalismus der einzelnen Protagonisten. Es gibt noch immer — auch wenn sie selten geworden ist — gute und weniger gute Poesie. (Es ist wahr, dass man vor der Poesie heutzutage zu rasch in die Knie geht.) Poesie ist schwierig geworden, sie muss sich gegen die Zeiten behaupten. Poesie als Flucht nach vorn ist vorstellbar, als utopischer Weltenwurf sozusagen, und Poesie, die durch das Schweigen gegangen ist. Die «Blumigkeit» scheint mir eine der grössten Gefahren Soutters und auch des Komponisten der Filmmusik Arie Dzierlatkas, zu sein, das heisst: Poesie, die durch das Bild nicht mehr gehalten, nicht gebunden ist.

Nun scheint mir das Bild in Repérages bis auf wenige Momente ziemlich beliebig zu sein, hübsch, gefällig, selten unbeholfen, öfter nichtssagend, reine Folie für die Sprache, Papier, auf das die Protagonisten ihre Sätze legen. Eine Einstellung ist bezeichnend. Julie wird nach ihrem Zusammenbruch im Speisesaal und ihrer Flucht frühmorgens von einem Lastwagenchauffeur am Ufer der Rhone geborgen. Der Chauffeur steigt das Bord hinunter und überwältigt die Frau; sie steigt an Bord. Und nun sehen wir den Camion, eine Milchzisterne, von hinten: ein vierblättriges Kleeblatt prangt auf der glänzenden Rückseite, im Hintergrund zackige Berge im Morgenrot: ein wunderschönes Bild, ein «poetisches», denn es sagt nichts, formuliert nichts, ist quasi Selbstzweck. Es sagte nur etwas, wenn man es überinterpretieren wollte (mit dem Kleeblatt, der Morgenröte, der Steilheit der Berge). Dem Drehbuch entsprechend hätte Soutter den Camion in der Schlusszene noch gebraucht, den Camion mitsamt Chauffeur. Aber weil der Milchwagen so schön war, hat Soutter die Funktion des biederen Retters vergessen; er opferte den Zusammenhang einem schönen Bild. Ähnliches liesse sich von den Rückblenden sagen, den «blauen Aufnahmen» im Appartement Julies, im Speisewagen und in der Bar, schliesslich vom Ton des Tschechow-Begräbnisses am Anfang, der nie mehr aufgenommen wird. Zusammenfassend lässt sich vom Bild sagen, dass es nie auf die Höhe des literarischen Anspruchs dieses Films kommt, sogar in der Schlusseinstellung nicht ganz, wo es doch offensichtlich ganz darauf angelegt ist.

Die Beliebigkeit der Bilder — Renato Berta hat spürbar nur das gemacht, was Soutter gerade brauchte, um die Sprache und die Gesten der Protagonisten daran aufzuhängen — ist ein Mangel dieses Films, den auch bedingungslose Verfechter privatistischer Kunst empfinden könnten.

Ich gebe zu, dass mich ein anderer Widerspruch mehr gestört hat: der Widerspruch privater Wahrheiten und einer lehrhaften Form. Soutter findet es nicht notwendig, die Vorurteile gegenüber seiner christlich-idealistischen Botschaft auf verbindliche Weise abzubauen. Er will ungestört durch politische und historische Überlegungen zum Wesentlichen vordringen. Er spricht von dem Mann und der Frau, deren Bild er nicht als historisch erwachsene und sozial bedingte anerkennt. Er ist sofort auf die «letzten Wahrheiten» aus.

Die letzte Wahrheit ist die Liebe. Wer sie besitzt, ist erlöst. So einfach ist das.

Robinson

Michel Soutter spricht mit Bewunderung von Ingmar Bergman, der sich zur Abfassung seiner Drehbücher und manchmal auch zur Herstellung seiner Filme auf die Insel Farö zurückzieht, wo er die Fragen des Lebens «rein» zu fassen bekommt. Auch er hat sich in Repérages mit Victor und den drei Frauen auf eine Art Insel zurückgezogen. Wir sind weit von Les Arpenteurs entfernt, wo die Baumsägen rund um das von Hecken eingeschlossene Haus kreischen und immer näher rücken, und wo am Schluss ein Enttäuscher droht: «Ich werde euren verdammten Garten und das Haus in die Luft sprengen.» Wir sind fast ebensoweit entfernt von dem Antagonismus von «le haut» und «le bas», der L’Escapade regierte. Die Bedrohung der Menschlichkeit haust allein im Innern der Menschen.

Auf einer Insel soll diese Bedrohung gemeistert werden, sollen die vier Protagonisten offen werden für die Gnade der Liebe. In seinen früheren Filmen hat Soutter Menschen vorgeführt, die das beste machen aus ihrer Entfremdung, Fremde in dieser Welt, die in der Fremde bleiben. In Repérages ist Soutter selber weltfremd.

Das ist sein Recht. Und niemand würde es bestreiten, hätte Michel Soutter seinen neuen Film nicht aufgezogen als eine Lektion in Liebe, sondern etwa als heitere oder erleichterte Innenschau. Weshalb sollte ein fünfundvierzigjähriger Filmregisseur nicht dürfen, was wir dem fünfunddreissig jährigen Schriftsteller Peter Handke seit dem «Kurzen Brief» immer wieder abnehmen? Am wahrsten ist man noch immer, wenn man von sich selber redet. (Was nicht heissen soll, man solle nie von den anderen und vom Ganzen reden und handeln. Auf einer Insel müsste Handke verstummen.) Problematisch an dem neuen Film von Michel Soutter ist nicht, dass er sich auf eine Insel zurückzieht, sondern dass er nicht mehr zurückkommt, dass er seine Botschaft von der Insel herruft, dass er sie ausruft.

Michel Soutter zieht in Repérages Bilanz. Er zieht sie nicht nur für sich — als Liebender, Künstler, Enkel einer Grossmutter, die «ihren Tschechow» immer wieder las, als Vater usf. —, sondern er tut es auch für uns (anstelle von uns und zum Nutzen von uns). Das nimmt dem ersten «Alterswerk» Soutters einigen Charme und stimmt für die Filme, die da von ihm kommen werden, skeptisch.

Repérages. Produktion: CH/F; Citel Films, Action Films; R. und B.: Michel Soutter; Kamera: Renato Berta; Musik: Arie Dzierlatka; Montage: Albert Jürgenson; Ton: Pierre Gamet; Darsteller: Jean-Louis Trintignant (Victor), Delphine Seyrig (Julie), Lea Massari (Cecilia), Valerie Mairisse (Esther), Roger Jendly (Vallee) u.a.m.; 35 mm Eastmancolor, 100 Minuten; Premiere Anfang November 1977 in Paris, 19. November Genf.

Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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