RAINER WERNER FASSBINDER

EXIL WÜRDE ICH NOCH NICHT SAGEN — GESPRÄCH MIT PETER W. JANSEN

ESSAY

Am 9. Januar dieses Jahres hat Peter W. Jansen für den Südwestfunk Baden-Baden ein langes Gespräch mit Rainer Werner Fassbinder geführt. Fassbinder arbeitete — wie in seinem Beitrag zu Deutschland im Herbst an seinem Drehbuch zu Berlin Alexanderplatz. Es ist nicht neu, dass Fassbinder ein Drehbuch im Ausland schreibt; die Fremde gehört irgendwie zu seinem Arbeitsprozess; die Angaben über den Entstehungsort von Drehbüchern und Stücken könnten oft zusammengefasst werden mit dem Ausdruck «auf der Reise». Doch Peter W. Jansen hat Fassbinder in der besonderen historischen Situation auf den «Tatort» angesprochen. Wir veröffentlichen im Folgenden die einschlägigen Stellen aus einem Gespräch, das zu den offensten und besten gehört, die mit Fassbinder geführt worden sind. Peter W. Jansen danken wir für die Überlassung des Manuskripts.

Jansen: Es heisst oder hiess von Ihnen, Sie wollten nicht mehr in Deutschland bleiben, sondern weggehen. Vielleicht in Amerika leben und Filme drehen. Sie selbst haben sich in dieser Richtung geäussert. Sie leben jetzt in Paris, haben eine Wohnung hier, in der wir uns unterhalten. Betrachten Sie Paris als ein Art Exil, oder ist das nur ein Fluchtort für Sie, denn Sie arbeiten gegen die Voraussagen ja noch in der Bundesrepublik weiter. Sie planen sogar ein grosses Fernsehprojekt, das verbunden ist mit einem grossen Kinofilm. Wie verträgt sich das mit der Absicht, aus Deutschland wegzugehen?

Fassbinder: Man muss es andersrum sagen. Ich meine, dieses Projekt, von dem Sie sprechen, das ist der Grund, warum ich erstmal in Deutschland weitergearbeitet habe. Das ist Berlin Alexanderplatz, und es ist ein Projekt, das ich auf alle Fälle in meinem Leben noch machen wollte1. Es hat sich eine Situation ergeben, dass jemand anderer die Rechte kaufen wollte und mir nichts anderes blieb, als zuzugreifen oder das Projekt zu verlieren. Ich hab mich letztlich dann entschlossen, es zu machen. Was Paris anbetrifft: Bin früher schon immer sehr viel hier gewesen. Ich habe mich hier wohler gefühlt als in Deutschland. Es ist nur... für mich ist es ein normaler Vorgang, dass ich jetzt hier lebe. Es ist nichts Besonderes. Exil würde ich noch nicht sagen. Vielleicht wird es das schneller, als ich denke.

Jansen: Hatte die Überlegung fortzugehen irgendetwas mit den Angriffen zu tun, denen Sie ausgesetzt waren nach der Veröffentlichung Ihres Frankfurt-Theaterstücks Der Müll, die Stadt und der Tod2 und nachdem bekannt worden war, dass Sie «Soll und Haben» von Gustav Freytag fürs Fernsehen verfilmen wollten? Ich meine jene Vorwürfe, ein Antisemit zu sein bezw. Antisemitismus zu fördern — Vorwürfe, die jeder falsch finden muss, meine ich, der Sie und Ihre Arbeit kennt. Hat Sie das persönlich verletzt?

Fassbinder: Persönlich verletzt würde ich nicht sagen, sondern mich hat das einfach in einer Art und Weise bestätigt, dass mit dem, was man macht, umgegangen wird auf eine Art und Weise, auf die man keinen Einfluss mehr hat. Es waren mehr Bestätigungen für Empfindungen oder Ängste, die ich ohnehin hatte. Es hat... sicherlich auch damit zu tun. Andererseits haben mich die Vorwürfe selber eher traurig gemacht, natürlich, weil... ich finde, dass ich wirklich mit allem, was ich gemacht hab, ziemlich klargemacht habe, dass dieser Vorwurf nichts mit mir zu tun haben kann.

Jansen: Könnten Sie denn Ihre Ängste, die Sie eben erwähnten, Ihre Sorgen, was Sie dazu bringt, sich zu überlegen, ganz aus Deutschland wegzugehen, konkretisieren? Ist es etwas Vages, oder heben Sie ganz konkrete Anlässe?

Fassbinder: Das ist natürlich auch in erster Linie etwas Vages. Als ich dieses Interview im SPIEGEL gab vor einem halben Jahr während der «Berlinale», da war das noch vager als jetzt. Mittlerweile ist dieser berühmte Oktober gewesen, in dem Dinge passiert sind, die ich zum Beispiel vor einem halben Jahr noch nicht hätte formulieren können. Das sind Dinge gewesen, die ich fand, dass sie in der Luft liegen. Ich finde, es liegen noch mehr Sachen in der Luft, die ich nicht formulieren kann, wo ich erst, wenn sie passiert sein werden, weiss, dass es die Dinge waren, die mir Angst gemacht haben. Ich glaube, dass speziell Deutschland sich in einer Situation befindet, wo sehr vieles sehr rückläufig ist. Das heisst, ich würde sagen, dass 1945, als der Krieg zu Ende war, als das Dritte Reich zu Ende gewesen ist, dass da die Chancen, die Deutschland gehabt hätte, nicht wahrgenommen worden sind, sondern, würde ich sagen, was ich auch in der ZEIT damals geschrieben habe, dass die Strukturen letztlich und die Werte, auf denen dieser Staat, jetzt als Demokratie, beruht, im Grunde die gleichen geblieben sind. Das heisst, dass das zusammen mit einer Entwicklung nach rückwärts zu etwas führen wird, was eine Art von Staat ist, in dem ich nicht so gerne leben möchte.

Jansen: Ist das ein Schwund an Freiheit? Fühlen Sie sich nicht mehr so frei in der Bundesrepublik?

Fassbinder: Das würde ich so sagen, ja. Es ist ja ganz konkret einer da, ein Schwund an Freiheit, der für einige Leute ja absolut auch konkret spürbar und bemerkbar ist. Inwieweit andere ihre Äusserungen, in welcher Art und Weise ihre konkreten oder künstlerischen, daraufhin ausrichten, um nicht aufzufallen, ist die zweite Sache. Es ist ein Klima da, das auf so eine Egalisierung, auf so eine... tja... Egalisierung von Menschen hinausläuft. So als ganz blödsinniger, utopischer Gedanke läuft das darauf hinaus, dass alle Leute gleich aussehen, gleich angezogen sind, das Gleiche denken, sagen.

Jansen: Haben Sie denn persönlich die Erfahrung gemacht, dass Sie nicht mehr das produzieren können, nicht mehr das filmen können, nicht mehr das sagen können, was Sie vorhaben, oder ist das bei Ihnen so mehr ein vages Gefühl, dass irgendwann diese Situation eintreten müsste?

Fassbinder: Ich hab ja nun wirklich ganz konkret mit drei Projekten, die sich mit der Wirklichkeit hier und heute auseinandersetzen sollten — auch «Soll und Haben» ist ein Projekt, das eigentlich viel mehr mit heute zu tun hat — erfahren, dass ich sie nicht machen konnte. Das ist ja nun kein Scherz, kein Witz und kein was weiss ich mehr. Das ist ja passiert. Ich bin überzeugt, dass man immer mehr mit Dingen, die mit uns und unserer Situation und dem, wie wir sie empfinden und — sagen wir’s mal so rum — Künstler sind ja doch nun immer Leute, die — na, nicht immer — manchmal, die so ein bisschen hellseherisch sind oder was weiss ich; die früher Sachen empfinden als andere Menschen — dass man damit immer mehr Schwierigkeiten haben wird, bis es soweit ist, dass man es konkret nicht mehr darf.

Jansen: Wenn man viele Geschichten macht, die einen überraschenden Gleichklang aufweisen mit Geschichten, die auch andere Leute betreffen, kommt man da nicht gelegentlich in die Lage, etwas zu erfinden, was fast von anderen sein könnte?

Fassbinder: Ja natürlich; ich würde sagen, je mehr man sich selber in Geschichten einbringt, also je ehrlicher oder — das ist auch wieder ein blödes Wort «ehrlich», weh ich das nicht beanspruchen möchte im Moment aber je ehrlicher man sich selber in eine Geschichte einbringt, umso mehr hat diese Geschichte natürlich letztlich auch mit anderen zu tun. Unter Umständen gibt es eine Geschichte, die jemand anders gemacht haben könnte.

Jansen: Warum wollen Sie das Wort «ehrlich» auslassen? Das ist doch ein ganz wichtiges Wort für Ihre Filme.

Fassbinder: Das ist so ein Problem, wenn ich auf der einen Seite sage, ich lebe in einer Gesellschaft, in der man nicht ehrlich sein kann, und dann sage ich wieder, ich bin ehrlich — das geht nicht. Also ich bin in dem Masse, in dem mich die Gesellschaft ehrlich sein lässt, bin ich ehrlich. Ich weiss nicht, wenn die Gesellschaft mir andere Möglichkeiten gäbe, ehrlich zu sein, wie ehrlich ich dann wäre.

Jansen: Aber Sie sind doch gar nicht angepasst. Sie passen sich doch diesem Massstab und dieser Unehrlichkeit bezw. dem Ehrlichkeitsbegriff dieser Gesellschaft nicht an.

Fassbinder: Inwieweit ich angepasst bin oder nicht angepasst bin, das bin ich noch nicht mal selbst in der Lage zu beurteilen. Ich hoffe, dass ich maximal wenig angepasst bin, oder denke, dass ich das bin, aber inwieweit ich letztlich doch angepasst bin, kann ich nicht beurteilen. Ich glaube nicht, dass man völlig unangepasst innerhalb dieser Gesellschaft überhaupt leben kann. Ich glaube, das geht nicht.

Auf Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz gibt es in Fassbinders Werk einige Anspielungen. Die deutlichste: Der Held in Faustrecht der Freiheit (dargestellt von Fassbinder selbst) heisst Franz Biberkopf.

Von Daniel Schmid unter dem Titel Schatten der Engel verfilmt; vom Suhrkamp-Verlag nicht ausgeliefert.

Rainer Werner Fassbinder
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]