ALEXANDER KLUGE

DAS THEATER DER SPEZIALISTEN — GESPRÄCH MIT MARTIN SCHAUB

ESSAY

Der Vorspann von Deutschland im Herbst nennt viele Autorennamen, doch der Film ab ganzes trägt eindeutig den Stempel von Alexander Kluge, ist wesentlich bestimmt durch die Klugesche Montagetechnik, deren Mechanismen man nicht nur aus seinen Filmen, sondern auch aus den neuesten Buchveröffentlichungen kennt. Wir haben am Tage der Uraufführung von Deutschland im Herbst, am 3. März an den Berliner Filmfestspielen, ein Gespräch mit Alexander Kluge geführt, von dem wir im folgenden einige Passagen abdrucken. Die Fragen stellte Martin Schaub.

Schaub: Kann man überhaupt Schleyer, Mogadischu, die Stammheimer Selbstmorde, die Terroristenfahndung im Film so behandeln, dass das keine Ware wird, konsumierbar wie der STERN?

Kluge: Schon dadurch, dass wir ja sofort losgefahren sind mit Kameras und vollkommen andere Eindrücke eingesammelt haben als die Presse und das Fernsehen, gibt es eine Differenz. Unser Interesse war ja nicht, etwas zu wiederholen, was wir als Information schon haben; der Film ist in diesem Punkt kein besonderer Informationsträger. Wir lehnten uns auf gegen die Nachrichtensperre, auch gegen die Sprachregelung in den Medien. Man kann aus Ereignissen eine Geschichte machen; das wäre Ausbeutung der Wirklichkeit. Und man kann Ereignisse auf ihre Geschichte zurückführen; das wäre guter Film. Dieser Film hier geht im Grunde gegen das Ahistorische der Mediensprache, die alles in Momentaufnahmen zerlegt. Also an dem Tag von Mogadischu ist eben Mogadischu; an dem Tag der Stammheimer Selbstmorde ist eben nur gerade das aktuell, und an Weihnachten wird alles gelöscht. Und davon haben wir das Gegenteil gemacht.

Schaub: Wie könnte man die «breite Front» derer, die wirklich zusammengearbeitet haben für Deutschland im Herbst, politisch definieren?

Kluge: Schlöndorff kann man sehr klar erkennen als jemand, der sich gegen jedwede Repression engagiert. Mich kann man politisch einschätzen etwa in der Richtung von Oskar Negt und unserem gemeinsamen Buch.1 Man kann Fassbinder einschätzen als jemand, der gewissermassen eine natürliche Protesthaltung hat gegen Klischees — die er auch benützt natürlich—, und der ein diffiziles Verhältnis hat zum Staat. Brustellin kann man einschätzen als jemand, der sein Land sehr liebt. Er kommt aus einer Offiziersfamilie, er hat durchaus Patriotismus. Wir alle haben hier in diesem Film unter der Hand patriotisch gearbeitet, das heisst wir haben uns mit unserem Land befasst.

Schaub: Das wird ja mit dem musikalischen Motiv, dem «Deutschlandlied», gewissermassen plakatiert.

Kluge: Jawohl. Wobei wir allerdings sagen würden: Wir lieben unser Land unter der Bedingung, dass wir alles von ihm wahrnehmen dürfen, so dissonant es sein mag, soweit zurück es in der Geschichte auch liege... Also die bösen und die guten Seiten gemeinsam, die können wir verstehen und wahrnehmen. Wenn wir nur das Gute wahrnehmen sollen: das ist Propaganda, das gibt’s gar nicht. Und nur das Böse... also wie im Ausland vielfach gesagt wird, wir würden hier in einem faschistischen Land leben, das stimmt ja auch nicht. Wer den Faschismus kennt, der weiss, dass das anders ist. Da hätten wir diesen Film gar nicht machen können.

Schaub: Die Faschismus-Frage trotzdem. Bewirken Nachrichtensperre, Sprachregelung, totale Terroristenfahndung, «Sympathisanten»-Hetze nicht doch eine gewisse Faschismus-Angst? Oder seht Ihr das nur als eine kleine Fehlentwicklung eines liberalen Staates, der einen Moment lang seine Grundsätze vergessen hat?

Kluge: In einer so komplizierten Gesellschaft wie der Bundesrepublik gibt es die verschiedensten Strömungen. Es gibt die direktesten Formen von Repression, von Bürokratisierung, von Aufrüstung der Repressionsinstrumente, wobei man sehr sicher sein kann, dass die sich hinterher verselbständigen. Der Skandal, der Minister Leber stürzte, das ist ja kein Zufall, die Traube-Affäre, die ja auch hier in diesem Herbst stattfand, ist kein Zufall und kein Einzelstück. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite gibt es doch breite Gegenströmungen, und ich meine jetzt nicht nur die Linke, die sich ja so ein bisschen nach Art einer Maginot-Linie verschanzt, sich in ihre Gelände zurückzieht und schimpft. Das ist ja nun wirklich nicht die wirksamste Gegenaktion. Auch Demonstrationen sind nicht die wirksamsten Gegenaktionen. Aber in der Mitte der Gesellschaft selber, gewissermassen sogar auf konservativer Seite sind Erfahrungen in unsere Gesellschaft einprogrammiert, die hier — wenn so eine Hetzkampagne losgehen soll wie z. B. in der Sympathisantenfrage, wenn die CSU etwa meint, sie könne damit Wählerstimmen gewinnen oder das Ruder ganz nach rechts reissen — wirksam werden. Da erhebt sich eine ganze Gruppe von Leuten, die — auch aus den Erfahrungen der Weimarer Republik — ganz klar abwinken. Das war zum Beispiel auch auf dem SPD-Parteitag in Hamburg mit der Rede von Max Frisch so.

Nach dieser Rede und dem immensen Beifall, da war diese Sachfrage gelaufen; von da an ist eigentlich die ganze Sympathisantendiskussion verschwunden. An den politischen Gesamtverhältnissen hat sich durch den Herbst 1977 eigentlich gar nichts geändert. — Es ist nicht progressiver, und es ist nicht repressiver geworden. Aus dem öffentlichen Bewusstsein ist — und das billige ich überhaupt nicht — im Grunde dieser Herbst bereits teilweise wieder gelöscht. Wahlpolitisch lässt er sich nicht ausschlachten. Aber auf einer tiefen Ebene der Menschen hat sich etwas gerührt, ist etwas aufgewühlt worden. Sehr viele Menschen haben die Ereignisse, obwohl sie ja äusserlich gar nichts damit zu tun haben, an die Zeit um 1945 erinnert. (Auch uns übrigens, deswegen sind auch sehr viele historische Anspielungen in dem Film.) Da ist etwas aufgerührt worden, aber das wirkt sich nicht im Sinne von Staatspolitik oder so etwas aus, sondern psychologisch wirkt es sich aus. Wir haben gesehen: Die Menschen bewegen sich durch solche Ereignisse affektiv ungeheuer stark, und zwar in einer Art Verwirrung. Einige Gefühle gehen sogar zu den Terroristen, einige gehen zu den Kämpfern in Mogadischu usw. Das heisst also, in wenigen Tagen werden die Affekte hin- und hergeworfen; gleichzeitig ist man aber in einem realistischen Verhaltensaspekt festgehalten und kann sich nach seinen Gefühlen gar nicht richten.

Man verhält sich in seiner konkreten Situation realistisch. Das deutet ja Fassbinder in seiner konkreten Situation sehr gut an. Er schreibt immer weiter an seinem Drehbuch Berlin Alexanderplatz, währenddessen laufen im Radio die Nachrichten, und er telephoniert und ist auch bewegt und hoch irritiert und überträgt die Angst, die man haben kann, wenn man jetzt Sympathisant wäre — was er wohl nicht ist — auf seinen Aussenseiterstatus, dass er homosexuell ist, dass er Kokain braucht; das spielt er in dem Film und interpretiert dieses Angstgefühl um. Und gleichzeitig versucht er eine Klärung mit seiner Mutter. Sie verhält sich, mit allem was sie sagt, realistisch. Und eine ganze Bundesrepublik — darf man annehmen —, die sich realistisch verhält, steht dann den Spezialisten auf der Terrorseite, aber auch den Spezialisten von BKA oder von GSG 9 gegenüber, deren Spezialistentätigkeit eben im Alltag, in der Arbeitswelt gar keinen Raum hat. Da kann ich keine Flugzeuge stürmen, da nehme ich keine Geiseln, und da werden Menschen durch ganz andere Grunde — wie Autounfälle oder Maschinenunglücke — getötet... Es ist im Grunde, so grausam das klingt, eigentlich ein Theater, das sich abspielt, gemessen an den persönlichen realistischen Erfahrungen, die jemand hat, der festgehalten ist im Arbeitsprozess, in seiner unmittelbaren persönlichen Umgebung oder jemand, der ein Kind kriegt.

Dass man mich nicht falsch versteht. Ich bin natürlich überhaupt nicht der Meinung, dass so etwas spielerisch genommen werden kann. Es ist ein ganz grausiges Theater, aber es ist eine eigentümlich abgehobene Sphäre, in der es sich abspielt. Uns hat das sehr bewegt; etwas, das mich im April 1945 auch schon berührt hat. Da gab es auch das unconditional surrender, Jalta usf., auch Theater, böses inszeniertes Staatstheater. Aber unter diesem Theater können Menschen sterben wie in Dresden unter einem Bombenangriff oder in Hamburg, wo 70 000 Menschen in einem Brutofen verbrannten. In mir und auch in Fassbinder und in Schlöndorff haben diese Herbstereignisse etwas aufgewühlt, was wir aus der Geschichte kennen. Und deshalb heisst der Leitsatz auch: «An einem bestimmten Punkt der Grausamkeit angekommen, ist es schon gleich, wer sie begangen hat: sie sollen nur aufhören». Ein Satz von damals.

Ich habe Herbert Wehner angesprochen auf dem SPD- Parteitag in Hamburg, habe ihm gesagt, er verstehe doch etwas von Theologie. In der Theologie gibt es die Worte Gnade, Barmherzigkeit, also die Unterbrechung der tödlichen Logik des Auge um Auge, Zahn um Zahn. Rache gegen Rache, die ja sozusagen der Tendenz nach in einem Bürgerkrieg der Spezialisten enden würde, während die ganze Pinguinbevölkerung passiv, Gewehr bei Fuss steht, bezw. gar kein Gewehr hat.

Die Tüchtigkeit von Mogadischu und die Tüchtigkeit derer, die da Pistolen usw. in ihre Zellen schmuggeln, haben eine gemeinsame historische Wurzel. ...Und ich würde die Pfiffigkeit, mit der in Nürnberg Goering Strichnin in der Zelle hatte, was ja auch nicht vorgesehen war, damit auch in Verbindung bringen. Wir machen lauter verbotene Grenzüberschreitungen in unserem Kopf und in unserem Film, weil sie genau in den Sprachregelungen der Massenmedia nicht gemacht werden. Arnold Gehlen, also ein sehr konservativer Anthropologe, hat 1970 schon den Terrorismus als eine Antwort auf die pluralistische Gesellschaft, die Mediengesellschaft definiert. Wenn Institutionen da sind wie der Staat, die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten, eine bestimmte Grosspresse und alle sozusagen einen Rechthabe-Standpunkt vertreten und durchsetzen, da sitzen plötzlich jene, die Unrecht haben, abseits. Da sitzen immer welche unter dem Tisch; die werden zu Separatisten. Der Separatismus hat den Terror in sich. Wir müssen eine Antibürgerkriegspartei bilden. Wenn wir an Öffentlichkeit wirklich glauben und sie für ein Politikum halten, dann sind wir — so wie die Humanisten unter Henri IV. — für eine Gesellschaft, für die Beendigung der Bürgerkriege. Das ist unsere Hauptlinie: Sprachen leben oder erfinden oder wiedererorbern, die von der ganzen Gesellschaft verstanden werden, und die Zerstreitung der Gesellschaft in ein Ghetto der linken, der rechten Universitätssprache, in die verschiedensten Ghetto-Sprachen, die schon die Klassik nicht mehr verstehen können, zu bekämpfen. Wenn Sie Politikern zuhören in Bonn, da sind da also ganz feste pattern; die Wörter wiederholen sich, fahren auf einem ganz schmalen Gleis; das ist eine Fünfhundert-Wort-Sprache; unsere Sprache aber hat achttausend Wörter, und die Gefühle sind noch reichhaltiger, als es überhaupt Wörter gibt. Das ist unsere Partei: Sie ist für den Eigensinn und die Vielfalt; sie will mit Bildern und Worten über die Wiedereroberung von Verständlichkeit dem Zerfallsprozess der Gesellschaft entgegenwirken. Es ist im Grunde eine Partei, die nicht an Bürgerkrieg und schon gar nicht an Religionskrieg glaubt. Natürlich können wir das nur erreichen durch eine Reihe von Tabuverletzungen, wobei wir aber nicht pampig vorgehen...

Ich bin der Meinung, dass der Staat mordet oder mindestens in Auschwitz gemordert hat; das kann aus unseren Köpfen nicht verschwinden. Andererseits sind wir Patrioten und leben in einer Gesellschaft. Also können wir nicht einfach sagen: Weg mit dem Staat. Das wäre irreal; der Staat ist nun einmal das einigende Band unserer Gesellschaft. Aber dieses dialektische skeptische Verhältnis zum Staat, das müssen wir in den Fingerspitzen haben. Es kann keine Uniformierung geben; es darf nicht geschehen, dass da plötzlich alle vereidigt werden, unkritisch gegenüber dem Staat. Umgekehrt kann es aber auch nicht so sein, dass wir uns alle von dem Staat trennen. Wir können uns nicht von der Gesellschaft trennen; sie ist unser Leib.

Oskar Negt / Alexander Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung; Zur Organisation von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, edition suhrkamp, 1972.

Alexander Kluge
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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