BERNHARD GIGER

WER ERSCHOSS POLIZIST HEUSLER? — ÜBER DIE BETROFFENHEIT DER ZAUNGÄSTE

ESSAY

In einer Werkshalle in den Mercedes-Betrieben: In den Werkshallen stehen die Bänder für drei Minuten still... an diesem Band in der Endfertigung arbeiten 95 % ausländische Arbeiter... die Medien sind anwesend...

Miterlebt haben wir, hier in der Schweiz, die Ereignisse in der BRD im Herbst 77 nicht, nur mitverfolgt. Sicher, die Schleyer-Entführung, die Befreiungsaktion in Mogadischu und die Selbstmorde in Stammheim wurden auch hier besprochen, auch hier wurden bei Nacht und Nebel Solidaritätserklärungen an die RAF auf Hausmauern gepinselt und gesprayt, auch hier wurde behauptet, was die GSG 9 gemacht habe, könnten Schweizer Spezialtruppen ebenso leisten, auch hier schliesslich näherten sich Diskussionen über den Terrorismus, über Gründe und Folgen der Hysterie. Unsere Informationen über die Ereignisse aber beruhten auf Bildern und Äusserungen, die von der Presse und vom Fernsehen für uns ausgesucht wurden, Bildern und Äusserungen, von denen wir nicht wussten, ob sie dem, was in Deutschland geschah, auch wirklich entsprachen. Gespürt haben wir die Angst und die Gewalt nicht, die Angst etwa vor der falschen Bewegung bei einer Polizeikontrolle auf der Strasse. Wir waren Zaungäste, mehr nicht. Deutschland im Herbst reisst zwar nicht alle Zäune ein, der Film vermag nicht auf alle Fragen, die ein Zaungast hat, zu antworten. Aber er führt näher an die Ereignisse heran. Er bricht jene Nachrichtensperre, über die, im Gegensatz zu jener Bonns während der Ereignisse, weniger gesprochen wurde, diejenige der Medien, der Fernsehens vor allem.

Deutschland im Herbst zeigt, was die aus Zeitungen und Fernsehen bekannten Bilder verdeckten: während des Staataktes für Hanns Martin Schleyer schwenkt die Kamera von den Trauergästen weg und findet im Hintergrund flatternde Esso-Fahnen. Im Fernsehen wäre ein solcher Schwenk wohl kaum denkbar. Nicht so sehr, weil er irgendwelche Zusammenhänge verdeutlichen könnte, die in der täglichen Politik möglichst verwischt werden, sondern vielmehr darum, weil er für die Fernsehinformation unbrauchbar wäre. In dieser Situation der allgemeinen Ratlosigkeit wirken Bilder von besorgten, übermüdeten, aber doch ruhigen, gefassten Politikerminen bestimmt mehr als Esso-Fahnen im Hintergrund. Der Fernsehzuschauer soll wissen, dass er nicht allein ist. Während das Fernsehen mit Perfektion die Tragödie «Bedrohte Demokratie» gab, nimmt sich der Film, der ja nicht wie das Fernsehen «dabei zu sein» braucht, die Zeit für Geschichten am Rand der grossen Ereignisse. Für die Geschichte etwa des türkischen Gastarbeiters, der ausgerechnet am Tag des Staatsaktes mit einem Luftgewehr Tauben schiessen will. Nicht «dabei sein» zu müssen erlaubt aber auch von ganz privaten Erlebnissen zu berichten, ehrlich und schonungslos sich selber gegenüber wie Rainer Werner Fassbinder, der sich, auch im wahrsten Sinn des Wortes, vor der Kamera völlig auszieht.

Am Grab von Baader, Ensslin und Raspe: Wer richtig empört, also betroffen und mobilisiert ist, der schreit nicht, sondern überlegt sich, was er jetzt machen kann.

Deutschland im Herbst ist so wenig «ausgewogen» und «objektiv» wie das Fernsehen, der Film gibt aber im Unterschied zu diesem nicht ständig vor, es zu sein. Deutschland im Herbst, das sind mehr und weniger persönliche Reaktionen auf die Ereignisse im Herbst und auf die Entwicklung, die zu diesen Ereignissen geführt hat. Die da reagieren, deutsche Filmemacher, haben die Entwicklung Deutschlands seit Jahren schon sorgfältig aufgezeichnet, ihre Filme waren teilweise recht deutliche Berichte zur Lage der Nation. Die Entwicklung des deutschen Films seit Alexander Kluges «Abschied von gestern» zeigt einmal mehr, wie sehr die Eigenständigkeit einer Bewegung davon abhängt, wie weit sich die Filmemacher mit dem auseinandersetzen, was sie auch kennen, wie weit sie mit ihren Werken auf Vorgänge und Klima in ihrer näheren und weiteren Umgebung reagieren. Ein in München entstandener Film, der von Zuschauern in Tokio auf den ersten Blick verstanden wird, braucht noch lange kein Meisterwerk zu sein, Filme, die von Anfang an als Filme für alle Kinos der Welt geplant sind, bedrohen die Eigenständigkeit. Jene Eigenständigkeit, die das gegenseitige Verständnis eigentlich erst ermöglicht. Denn wer in den letzten Jahren die deutschen Filme, soweit sie in hiesigen Kinos überhaupt zu sehen waren, aufmerksam angeschaut hat, wird nun auch eher begreifen, warum es zu den Ereignissen im Herbst 77 kommen konnte, wird Fassbinder nicht gleich einen üblen Extremisten schimpfen, wenn er im Film zu seiner Mutter sagt: «Ist das Schlimme bei den Terroristen nicht vielleicht, dass sie vielleicht sogar Gründe haben, die du verstehen könntest?»

Mit Deutschland im Herbst also haben die Filmemacher ihre jahrelange Arbeit fortgesetzt. Und doch ist der Film mehr als ein weiterer Bericht zur Lage der Nation. Indem die Filmemacher die Aufforderung am Grab von Baader, Ensslin und Raspe ernst genommen, sich zusammengeschlossen und zusammen einen Film realisiert haben, begannen sie wieder von dem zu sprechen, wovon viele Deutsche lange Zeit Angst hatten zu sprechen. Der Film nimmt die Diskussion, zu der Fassbinders Mutter «niemanden ermutigen» würde, wieder auf, er ermutigt zur persönlichen Äusserung. Was, aus Angst abgehört zu werden, schon am Telephon nicht mehr gesagt wurde, soll nun wiedergesagt werden — Abhören soll nun öffentlich werden.

Max Frisch als Gastredner am Parteitag der SPD: ... Mindestens eines dieser beiden Phänomene wird die Polizei — wie verstärkt auch immer, und spezialisiert und volksverbunden durch Telefonabhören bis an die Grenze des Rechtsstaates— nicht aus der Welt schaffen — die Resignation.

Die Ereignisse, auf die Deutschland im Herbst reagiert, werden sich in dieser Form in der Schweiz kaum wiederholen, hier wird es, wenigstens vorläufig, ruhig bleiben. Den noch ist der Film auch für Zaungäste mehr als nur eine Information aus Deutschland. Er geht uns nicht nur darum etwas an, weil er von einem Land berichtet, das nun einmal unser Nachbar ist, der «grosse Kanton», wie der Schweizer gern sagt, sondern weil er mehr oder weniger auffallende Erscheinungen festhält, die in der Schweiz auch zu beobachten sind. Der von Max Frisch im «Fernseh-Duell» mit Bundesrat Furgler erwähnte Fall einer Lehrerin aus dem Kanton Solothurn, die, weil ihr Mann bei der Poch ist, ihren Beruf nicht mehr ausüben darf; das harte Vorgehen der Polizei gegen Atomkraftwerkgegner; die unsichere Situation der Lehrlinge, denen nach der Lehre die Arbeitslosigkeit droht; die Abhängigkeit schweizerischer Arbeiter von internationalen Konzernen, für die sie nicht Menschen sind, sondern ein Posten in einer Rechnung, die aufgehen muss; und schliesslich die arbeitsplatzsichernde, aber frustrierende Selbstzensur vieler Kulturschaffender — das sind die einen, die rasch auffallenden Erscheinungen. Die verbreiteste Erscheinung hat bisher noch weniger deutliche Formen angenommen: die Resignation und Hoffnungslosigkeit nicht weniger Jugendlicher, die radikale Verwerfung jedes Versuches, sich in dieser unserer Gesellschaft irgendwie zu behaupten. Die paar Funken, die 1968 von den internationalen Unruhen auch auf die Schweiz übersprangen, sind erloschen. Die Ruhe hat sie erstickt. Die Leidenschaft ist zur Erinnerung geworden, zu einer Erinnerung, mit der die Enkel von Marx und Coca-Cola nicht mehr anfangen können. Und das ist gar nicht so unverständlich; die beinahe weinerliche Art, in der heute manchmal von 68 gesprochen wird, unterscheidet sich wirklich kaum von jener der Aktivdienst-Erzählungen unserer Väter. Zudem haben sich viele der damals Aktiven verlaufen: sind von den Reisen ins psychedelische Wunderland nicht mehr zurückgekommen, brüten noch immer, ohne je aus dem Fenster auf die Strasse zu schauen, über linken Klassikern, sind am Widerspruch zwischen ihren Theorien und ihrem ganz persönlichen Verhalten gescheitert, oder fahren mit schwarzen Aktenköfferchen zu Geschäftsbesprechungen. Jugendliche, wie jene, die am Grab der Terroristen ihre Gesichter mit Tüchern verdecken, sind auch unter uns. Sie haben jede Kommunikation über ihren engen Kreis hinaus abgebrochen, ihre Äusserungen zur gegenwärtigen Gesellschaft, auch zu den Bemühungen, innerhalb des Bestehenden Veränderungen anzustreben, sind nur noch hasserfüllte Attacken. Sie haben damit dich selber isoliert. Diese Isolation werden sie aber eines Tages, wenn ihr Hass weiter so anwächst, sprengen. Und das Schlimme wird dann sein, dass man dann ihre Gründe vielleicht sogar verstehen könnte. Am 4. März stand auf der Titelseite der meistgelesenen Schweizer Tageszeitung: «Polizist im Jura erschossen. Verdacht, dass es Terroristen waren.» Ohne jeden Beweis darf nun auch hier zur Jagd auf «Extremisten» geblasen werden. Der Tod des Polizisten Heusler wird missbraucht, um Sensationen und Stimmung zu schaffen. Auch Zaungäste können zu Betroffenen werden.

Alle Zitate stammen aus dem Protokoll zum Film.

Bernhard Giger
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]