VERBAND SCHWEIZERISCHER FILMGESTALTER

EINSTELLUNG - STANDPUNKT — OFFENER BRIEF AN DEN BUNDESRAT IN SACHEN «LANDESVERRÄTERFILM»

CH-FENSTER

Am 25. Januar 1978, ziemlich genau zwei Jahre nach der Uraufführung von «Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.» von Richard Dindo und Nikiaus Meienberg, hat der Schweizerische Bundesrat die Beschwerde von Richard Dindo betreffend Verweigerung einer Qualitätsprämie abgewiesen, und zwar mit einem 19seitigen Bericht über seine Erwägungen und diejenigen einiger zugezogener Experten. Der Bundesrat hat sich seien Entscheid materiell nicht leichtgemacht; substantiell wird man einige Einwendungen gegen seine Argumentation machen können.

Das Papier des Bundesrats geht weit über den «Fall Ernst S.» oder den «Fall Dindo/Meienberg» hinaus, enthält es doch Definitionen und auch Forderungen im Bereich des Dokumentarfilms, auf die auch in Zukunft zurückgegriffen werden kann. Der Verband schweizerischer Filmgestalter hat diese allgemeinen Ausführungen aufgegriffen und sie in einem «Offenen Brief» diskutiert und kritisiert. Die Sorgen der Filmgestalter sind auch unsere: Es geht einmal mehr um die Begriffe «Dokumentarfilm» und «Dokumentation», «Ausgewogenheit», «Objektivität», «inhaltliche Bewältigung», «Dokumentationsdefizit». Deshalb drucken wir die Ausführungen des Filmgestalterverbands hier ab. (Der erwähnte Bundesratsbeschluss mit Begründung ist zu beziehen bei der Schweizerischen Bundeskanzlei, 3003 Bern.)

Sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrte Herren Bundesräte,

Sie haben sich dafür entschieden, die Beschwerde von Richard Dindo gegen das Eidgenössische Departement des Innern abzulehnen und damit den Entscheid des letzteren gutzuheissen, dem Film «Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.» entgegen dem nahezu einstimmigen Antrag der zuständigen Begutachtungsorgane keine Qualitätsprämie zu verleihen. Wir möchten auf diesen Entscheid nicht zurückkommen.

Mit grosser Besorgnis erfüllt uns hingegen die Begründung Ihres Entscheides. Sie stellen darin Kriterien für die Beurteilung von Dokumentarfilmen auf, deren konsequente Anwendung praktisch verhindern muss, dass überhaupt noch Dokumentarfilme produziert werden. Nicht nur die mit dem Film beschäftigten Behörden und Begutachtungsorgane werden durch Ihre Argumente eingeschüchtert, auch viele Filmschaffende werden in die innere Emigration ausweichen müssen — wie in anderen Ländern, in denen der Staat die Kultur definiert.

Das kritische schweizerische Dokumentarfilmschaffen ist in der ganzen Welt bekannt und mit Dutzenden von Preisen an internationalen Festivals ausgezeichnet worden. Diese Filme haben das weitverbreitete Bild einer satten, geldhortenden und unsolidarischen Schweiz korrigiert und damit wesentlich zu einem besseren Image unseres Landes im Ausland beigetragen. Der Schaden, der unserem Land dadurch entsteht, dass die dokumentarische Auseinandersetzung mit unserer Realität erstickt wird, ist also ganz konkret. Wir fürchten auch, dass zum Schaden der Spott kommen wird. Die Ihrem Entscheid zugrunde gelegten Argumente zeugen von wenig Kenntnis davon, was in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Medium Film seit vielen Jahrzehnten erforscht und erarbeitet worden ist.

Mit der Forderung nach «Objektivität der Dokumentation» errichten Sie für das Dokumentarfilmschaffen Massstäbe, die nur für wissenschaftliche, niemals aber für künstlerische Arbeit Geltung haben können. Dass im Film — im Dokumentarfilm nicht anders als im Spielfilm — das einzelne Bild durch die Wahl des Kamerastandpunktes entscheidend bestimmt wird und verändert werden kann, ist eine der Grundlagen des Mediums. Nicht umsonst nennt man das einzelne Bild im Film Einstellung. Indem er die Einstellung wählt, definiert der Filmautor oder -regisseur seine Blickrichtung und seinen Standpunkt. Filme, die den Standpunkt ihres Autors durch den Anschein von «Objektivität» verschleiern oder verbergen, manipulieren den Zuschauer — Filme, in denen und durch die der Autor seinen Standpunkt und damit seine Subjektivität klar zu erkennen gibt, ermöglichen dem Zuschauer Reflexion und Auseinandersetzung. Indem Sie den Dokumentarfilmautor auf eine Objektivität verpflichten, die es im künstlerischen Schaffen nicht gibt und nicht geben kann, stellen Sie das Dokumentarfilmschaffen an und für sich in Frage.

Sie fordern von einem Dokumentarfilm überdies «Ausgewogenheit» und übernehmen damit die Terminologie jener Kreise, die sich für ein mundtotes und langweiliges Fernsehen stark machen. In einer lebendigen Demokratie kann der Dokumentarfilm sich nicht darauf beschränken, Vorgegebenes und Bekanntes ausgewogen zu reproduzieren, vielmehr ist es sein spezifischer Auftrag, Bestehendes und Überkommenes immer wieder zu hinterfragen und neu zu beleuchten und damit Impulse zu geben für jenen Prozess steter selbstkritischer Erneuerung, der zu den Lebensbedingungen einer demokratischen Gesellschaft gehört. «Ausgewogenheit» bedeutet nichts anderes als die Unterdrückung und letztlich die Ausschaltung des subjektiven Engagements, welches das Wesen jeder kulturellen und politischen Betätigung ausmacht.

In Ihrem Entscheid billigen Sie den von Ihnen eingesetzten Fachexperten Kompetenz und Urteilsfähigkeit lediglich in filmästhetischer Hinsicht zu, nehmen dagegen die Überprüfung des historischen Wahrheitsgehalts eines Films für das Eidgenössische Departement des Innern bzw. für sich selbst in Anspruch. Sie desavouieren so einerseits die Arbeit einer eidgenössischen Kommission, die Sie für unzuständig erklären, einen Film auch in inhaltlicher Hinsicht zu beurteilen, und andererseits geben Sie damit zu verstehen, dass eine Behörde und in letzter Instanz der Bundesrat darüber befindet, welches das offizielle und damit das wahre Geschichtsbild sei. Dies mutet umso selbstherrlicher und undemokratischer an, als Sie es dem Bürger durch Beschränkung in der Benützung des Bundesarchivs verunmöglichen, sich von der in Frage stehenden Periode unserer Geschichte sein eigenes Bild zu machen. Wie leicht eine durch den Staat kontrollierte Geschichtsschreibung zur Geschichtsfälschung wird, sollte aus der jüngsten Geschichte anderer Länder hinlänglich bekannt sein. Demgegenüber ist es eine der vornehmsten Aufgaben des Dokumentarfilms, Geschichte dadurch darzustellen, dass er Menschen abbildet und Menschen ihre Geschichte erzählen lässt, die in der zünftigen Geschichtsschreibung nicht erwähnt werden und nicht zu Wort kommen.

In Ihrem Entscheid weisen Sie weiter darauf hin, dass in den letzten fünf Jahren auch «zeit- und gesellschaftskritische Filme mit Herstellungsbeiträgen, Qualitäts- und Studienprämien gefördert» worden seien. Als Beispiele nennen Sie die Filme Die Früchte der Arbeit von Alexander J. Seiler, Schweizer im spanischen Bürgerkrieg von Richard Dindo, Wer einmal lügt oder Viktor und die Erziehung von June Kovach, Cerchiamo per subito operai von Villi Hermann, Ein Streik ist keine Sonntagsschule und Zur Wohnungsfrage 1972 von Hans und Nina Stürm und Die grünen Kinder von Kurt Gloor.

So sehr wir die Förderung dieser ausnahmslos auch im Ausland ausgezeichneten Filme begrüssen, so bestimmt müssen wir es ablehnen, wenn sie von Ihnen als Beweismittel dafür in Anspruch genommen werden, «dass eine Qualitätsprämie auch für die tendenziöse Verfilmung eines sozialkritischen Stoffes in Frage kommt, wenn dessen inhaltliche und formale Bewältigung unter keinen anderen schwerwiegenden Schwächen leidet.» Nimmt man Sie beim Wort, dann leiden die genannten Filme samt und sonders an einer «schwerwiegenden Schäche», wobei unklar bleibt, ob diese in der Wahl eines «sozialkritischen Stoffes» oder in dessen «tendenziöser Verfilmung» liegt. Pauschal behaupten Sie: «Diese Dokumentarfilme nehmen ebenfalls Stellung zu Ereignissen der Vergangenheit oder Problemen der Gegenwart, werfen brisante Fragen auf, vertreten unbequeme oder einseitige bis agitatorische Meinungen und polemisieren gegen die Gesellschaftsordnung, insbesondere gegen die freie Marktwirtschaft.» Die Früchte der Arbeit von Seiler bezeichnen Sie im speziellen als «einen Film über die Arbeiterbewegung mit unverhohlen prokommunistischen Sympathien». Alle diese Qualifikationen werden von Ihnen weder begründet noch belegt. Wie wenig objektiv und ausgewogen sie sind, geht daraus hervor, dass kein anderer als der amtierende Bundespräsident Willi Ritschard den Film Die Früchte der Arbeit in einem Brief vom 7. Juni 1977 an den Autor Alexander J. Seiler als «Aufruf zum nüchternen und kraftvollen Pragmatismus in unserer Arbeit» bezeichnet und dem «wirklich hervorragenden Werk viel Erfolg» gewünscht hat.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrte Herren Bundesräte, wir protestieren dagegen, dass in Ihrem Entscheid die Werke international bekannter Kollegen mit pauschalen Etiketten diskriminierender Natur versehen werden — wir protestieren aber vor allem dagegen, dass Sie diese Werke dazu verwenden, einen Unterschied zwischen «tendenziösen» und anderen, sozusagen «normalen» Filmen zu konstruieren. Diesen Unterschied gibt es nicht, vielmehr ist aus der Geschichte des deutschen Films unter dem Nationalsozialismus bekannt, welch tendenziöses Propaganda- und Indoktrinationsinstrument gerade der scheinbar «unpolitische» Unterhaltungsfilm darstellt. Die Annäherung, wenn nicht Gleichsetzung von «sozialkritisch» und «tendenziös» in Ihrem Entscheid stärkt denn auch jene politischen Kräfte, die unter Kultur nicht schöpferisch-kritische Auseinandersetzung, sondern unreflektiertes staatsfrommes Mitlaufen verstehen.

In einer Zeit, in der das unabhängige Kulturschaffen und ausgesetzt ist müsste von unserer Landesregierung eine Haltung erwartet werden können, welche diese Pressionen nicht noch unterstützt, sondern sich für die Eigenständigkeit und Vielfalt des Kulturschaffens einsetzt. Eine lebendige Demokratie wird sich ein kritisches Kulturschaffen nicht nur leisten können, sie ist darauf angewiesen und muss es garantieren und fördern. Wir hoffen daher, dass der Bundesrat die schwerwiegenden kulturpolitischen Konsequenzen, die sich aus der Begründung seines Entscheides im Fall Dindo/Meienberg ergeben müssten, bei nächster Gelegenheit klarstellt und korrigiert.

Zürich, 6. März, 1978

Verband Schweizerischer Filmgestalter
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(Stand: 2020)
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