HANS W. GRIEDER

AUFPASSEN MACHT SCHULE

CH-FENSTER

Aufpassen macht Schule ist ein Film über die zunehmende Repression, der politisch engagierte Lehrer ausgesetzt sind. Das De-facto-Berufsverbot, mit dem in jüngster Zeit verschiedene Lehrer wegen Dienstverweigerung, der Teilnahme an Demonstrationen oder der Zugehörigkeit zu einer linken Organisation belegt wurden, hat weithin Aufsehen erregt. Wer die Verhältnisse kennt, weiss, dass gleichzeitig und von der Öffentlichkeit kaum bemerkt die Schulen einer weniger spektakulären, aber deshalb nicht harmloseren inneren Disziplinierung unterzogen werden. Was hier vor allem jüngeren Lehrern an Anpassung und Selbstverleugnung abverlangt wird, erinnert an Zeiten, die man für endgültig vergangen hielt. Der Spielraum ist klein geworden, und es braucht so schon Mut und Ausdauer, jenen schmalen und steinigen Grat zu begehen, der zwischen Resignation und Zukunftsglauben zu wenig ruhmreichen Gipfeln führt. Im Gegensatz zum Bürgertum, das Veränderungen im Schulsystem immer schon hellhörig registrierte, hat die Linke, auf das Basis-Überbau-Schema fixiert, lange Zeit schwere Unterlassungssünden begangen. Nur zögernd wollte man anerkennen, dass sich Klassenverhältnisse nicht nur ökonomisch, sondern auch über den Bildungsprozess reproduzieren und dass in diesem Zusammenhang der Schule eine Schlüsselstellung zukommt. Hier hat man inzwischen umgelernt.

Aufpassen macht Schule ist in enger Zusammenarbeit zwischen dem Zürcher Filmkollektiv und Lehrern, die dem Demokratischen Manifest nahestehen, entstanden, Lehrer haben den Film etwa zur Hälfte auch selber durch Spenden finanziert. Hier hat kein Filmemacher ein Thema gesucht, sondern umgekehrt ein an die Öffentlichkeit drängendes Thema den Film. So ist kein Film über Lehrer entstanden, sondern die Betroffenen haben den Film selber mitgestaltet. Von einer Arbeitsgemeinschaft produziert und auf eine Zielgruppe ausgerichtet, erfüllt dieser Film einen klar formulierten politischen Auftrag: Er soll die Öffentlichkeit über die Situation an unseren Schulen aufklären und unter Lehrern eine Diskussion in Gang bringen.

Aufpassen macht Schule muss auf dem Hintergrund dieser Voraussetzungen diskutiert werden: Nicht als ein Autorenfilm und Kunstprodukt (was er dann allerdings doch auch ist), sondern als ein Instrument zur politischen Bewusstwerdung.

Genau an diesem Punkt beginnen für mich die Schwierigkeiten: Ich habe den Film ohne Publikum gesehen und kann so nicht wissen, wie er sich im Kontext diskutierender Zuschauer bewährt; ich kann ihn nur isoliert als «Text» lesen und zu beurteilen versuchen. Mein «Ich» steht dabei für eine Position, die ich gemeinsam mit Freunden gewonnen habe, die entweder Lehrer sind oder, wie ich selbst, aktiv Schulpolitik betreiben. Wenn im folgenden Einwände vorgebracht werden, dann, hoffe ich, wird das als Kritik auf der Basis einer grundsätzlichen Übereinstimmung aufgefasst. Ich weiss, es ist leicht, im Nachhinein und von aussen kommend alles besser zu wissen. So möchte ich Denkanstösse geben und nicht als sich überlegen dünkender Kunstrichter amten.

Filmstil und demokratische Wirklichkeit

Wenn ich schon mit dem nächsten Satz meinem Vorsatz untreu werde und in die Rolle des traditionellen Filmkritikers zurückfalle, dann hat das damit zu tun, dass Aufpassen macht Schule ein filmisch ambitioniertes Werk ist. Auffallendstes Gestaltungsmittel sind dabei drei lange Kamerafahrten durch Herbst- und Winterlandschaften zu einer Komposition für fünf Bläser von Roland Moser. Diese Fahrten gliedern den Film in Blöcke und bilden meditative Ruhepunkte zwischen den dominierenden Sprechsequenzen. Diese eigenwilligen, für konventionelle Sehweisen’ und Hörgewohnheiten offenbar irritierenden Passagen scheinen mir geglückt: Sie durchbrechen in ihrer (gewollten) Beziehungslosigkeit eindrucksvoll die sonst leicht ermüdende Rezeption der semantisch determinierten Partien. Dass der Film hier, wo er sich ästhetisch verselbständigt, eine kühnere Sprache spricht als in den politischen Aussagen, könnte man als Rückzug auf Innerlichkeit und damit als ein Zeichen der Zeit deuten.

Mühe bereitet haben mir nicht diese klar als Kontrapunkt gesetzten Kamerafahrten, sondern die manchmal künstlich wirkende Stilisierung der Sprechteile: Menschen, in die Kamera sprechend, vor wechselndem, stets sorgfältig ausgewähltem Hintergrund, der Dekor bleibt, weil er funktionslos ist. Und dann die Schluss-Sequenz mit dem Klassenfoto und der Off-Stimme des Lehrers, der wörtlich seinen ersten Satz vom Anfang des Films wiederholt: Klassizistisches Formspiel, Anfang und Ende zum Ring schliessend — wo man doch Probleme offenlegen wollte.

Hier und anderswo wird spürbar, dass die kollektive, die Betroffenen miteinbeziehende Produktionsweise noch Pionierarbeit zu leisten hat. Man sieht oft förmlich die Nahtstelle, welche stoffliefernde Lehrer und gestaltende Filmer zusammenhält. Vieles wirkt so zu geplant, zu arrangiert und auch ein wenig aufgesetzt — auf Kosten der Lebendigkeit und der Authentizität.

Ich weiss, der Vergleich ist unfair, aber er drängt sich mir auf. In den China-Filmen von Joris Ivens, die ich in derselben Woche gesehen habe, wirkt kein einziges Bild gestellt, drängt die Kamera nie sich in den Vordergrund: Die Wirklichkeit selber scheint zum Betrachter zu sprechen. Doch solche Unmittelbarkeit wird niemanden geschenkt; sie ist das Resultat einer geduldigen Annäherung, die Leben nicht arrangiert, sondern aufschliesst.

Was man hier in Zürich verpasst hat, zeigt am deutlichsten die Eingangspassage des Films. Die Kamera zeigt das Schulhaus, in dem der Kronzeuge des Films unterrichtet. Dazu im Off der Kommentar: «Mit Christian Labhart und seiner Klasse wollten wir im Zürcher Limmatschulhaus Aufnahmen zu unserem Film drehen. Der Präsident der Schulpflege, Kantonsrat und Sozialdemokrat, riskierte es nicht, uns die Drehbewilligung zu erteilen. Wir werden an die Präsidentenkonferenz verwiesen, die unser Gesuch ablehnt. (...) Wenig später erhält ein Fernsehteam die gleiche Bewilligung telefonisch.» Nun ist dieser Vorfall gewiss typisch und macht etwas von jener Repression sichtbar, die der Film zeigen will. Zugleich aber, so scheint mir, hat man hier vorschnell aus der Not eine Tugend gemacht. In übertreibender Dämonisierung fährt die Kamera die abweisende Front des Schulhauses hoch, als stünde man vor den Mauern des Kremls oder des Pentagons, wo doch eine Schulhausfassade nichts verbirgt, es sei denn die Banalität des bürgerlichen Alltags.

Diese Eingangs-Sequenz will dem Betrachter nahelegen: Seht, die Schulbehörden sind genau so böse, wie wir das schon immer gesagt haben; hier habt ihr den Beweis dafür. Und so opfert man den dringend erwünschten Blick in die Schulrealität dem matten Triumph einer selffulfilling prophecy. Ich meine, hier hätte man mit grösserer Hartnäckigkeit weitersuchen müssen. Unser Lehrer von Alexander J. Seiler zeigt, dass man in einem Zürcher Schulzimmer nicht nur eine Sequenz, sondern einen ganzen Film drehen kann. Und es wäre eben sehr wichtig gewesen einmal zu sehen, wie ein fortschrittlicher Lehrer heutzutage unterrichtet; was für Möglichkeiten er hat und wo er innerhalb der Volksschule an Grenzen stösst. Das hat man — leider — verpasst.

Auch sonst leidet Aufpassen macht Schule darunter, dass man zentrale Bereiche der Schulwirklichkeit nie, oder nur flüchtig zu Gesicht bekommt. Auch bei späteren Gelegenheiten hat man versäumt, eine Unterrichtsstunde zu zeigen. So bleibt offen, ob linke Lehrer zwingend auch fortschrittlich unterrichten und ob die Repression mehr den ausserschulischen Aktivitäten oder eher der Unterrichtsführung gilt. Der Film nimmt unreflektiert Deckungsgleichheit an.

Weiter werden wichtige Organisationsformen wie die Lehrergewerkschaft und die vor allem für jüngere Lehrer hilfreichen Arbeitsgruppen nur eben gestreift. Und die eigentlichen Urheber, oder doch Vollstrecker der Repression kommen überhaupt nie ins Bild. Der mehrfach erwähnte Bericht einer Visitatorin ist dafür ein magerer Ersatz. Wer mit dem Schulwesen nicht vertraut ist, kann daraus nicht erkennen, wie die Behördenkontrolle konkret funktioniert und von was für Menschen sie ausgeübt wird.

Nun sind solche Mängel gewiss leichter kritisiert als behoben: Auch mir ist bewusst, dass man einen Schulpräsidenten oder Herrn Gilgen persönlich nicht so ohne weiteres vor eine linke Kamera bringt. (Wobei, selbst wenn es gelänge, erst die Spitze des Eisberges erfasst wäre). Filmschaffende in der Schweiz müssten deshalb grundsätzlich abklären, ob die Wirklichkeit unserer Demokratie, in der Macht sich mit Biederkeit tarnt, der Kamera überhaupt zugänglich ist. Wenn im argentinischen Dokumentarfilm La hora de los hornos auf einer riesigen Freitreppe eine halbe Hundertschaft ordenbehangener Generale posiert, dann ist die Arroganz der Macht in einem einzigen Bild überaus eindrucksvoll eingefangen. Wer bei uns nach ähnlich treffenden Chiffern sucht, muss resignieren, und es stellt sich so die Alternative, entweder auf den Film als politisches Kampfmittel zu verzichten oder neue filmische Methoden zu entwickeln, die unserer wenig spektakulären Wirklichkeit adäquat sind. Anderenfalls wird man beim falschen Pathos (wie beim Bild von der abweisenden Schulhausfront) oder bei filmisch dürren Formen wie dem Kamera-Statement stehen bleiben.

Linke Wehleidigkeit

Aufpassen macht Schule besteht zum überwiegenden Teil aus Statements, von Lehrern direkt in die Kamera gesprochen: Wirklichkeit kommt indirekt, in der Form des Berichts zur Darstellung. Selbst Kinder, denen das überhaupt nicht liegt, stellen auf diese gebrochene Weise sich selber dar. Aber nicht die Tatsache, dass wir es hier mit einem Sprechfilm zu tun haben, scheint mir problematisch, sondern dass es sich um einen Monologfilm handelt, der die Figur des Lehrers fast durchwegs in einer Situation totaler Vereinzelung zeigt. Zehn Lehrer darüber monologisierend, wie schlecht es ihnen geht und welche Angst sie quälen: Das gibt dem Film etwas eminent Wehleidiges.

Nun liegt es mir fern, de Schwierigkeiten zu verharmlosen, denen Lehrer tatsächlich ausgesetzt sind. Aber ich halte es für politisch falsch, sie in ihrer stets schon resignationsgefährdeten Haltung noch zu bestärken. Stattdessen hätte der Film den Lehrern eine Perspektive geben müssen. Man hätte z. B. ganz konkret darüber informieren können, was für Gewerkschaften und Arbeitsgruppen existieren; wie man gemeinsam alternative Unterrichtsprogramme erarbeitet und in die Volksschule einzuschmuggeln versucht; wie man Wahlverfahren übersteht und wie man sich taktisch klug der Behördenwillkür erwehrt. Kurz, statt Selbstmitleid zu wecken, hätte man zu jener List und Stärke ermuntern sollen, die Brecht dem Elefanten, Sinnbild widerständiger Solidarität, zuschreibt. Von ihm heisst es unter anderem:

Der Elefant vereint List mit Stärke. Überall ist er sowohl beliebt als auch gefürchtet. Er hat eine dicke Haut, darin zerbrechen die Messer; aber sein Gemüt ist zart. Er kann traurig werden. Er kann zornig werden. Er ist ein guter Freund, wie er ein guter Feind ist. Er liebt Kinder und andere kleine Tiere. Er ist grau und fällt nur durch seine Masse auf.

Nun kann man natürlich argumentieren, der Film zeige den Lehrer genau in jener Isolierung, die sein Problem sei. Ich bezweifle zwar, dass dies die Absicht war. Aber wenn dem so gewesen wäre, dann hätte man genauer analysieren und einen Ausweg zeigen müssen. Ich meine, die Ängste, die im Film beschworen werden, hängen nicht nur mit der gegenwärtigen Repressionsphase zusammen, sondern sind auch strukturell bedingt. Ich erinnere daran, dass die meisten Lehrer, bevor sie zum ersten Mal vor einer Klasse stehen, nie etwas anderes als Schüler waren. Dass sie noch als Lehrer wie Schüler kontrolliert werden und stets mit Kindern, kaum mit Erwachsenen konfrontiert sind. Schliesslich, dass sie in ihrem Schulzimmer allein sind, auf einer künstlichen Insel, vom übrigen Leben abgetrennt, von keinem Team getragen oder kritisiert. Was Wunders, dass so Isolationsängste aufkommen.

Aber gerade weil dem so ist, brauchen Lehrer die Ermutigung, aus der Schulwelt auszubrechen. Die «Entschulung der Schule», wie sie Mich gefordert hat, mag Utopie bleiben; aber etwas davon muss jeder Lehrer zu leisten versuchen. Und allein geht das nicht. Nur grössere Solidarität wird ihnen jenen Gruppenrückhalt geben, der dem Druck von Behörden und karrierebesessener Eltern zu widerstehen vermag. Ich hoffe, Aufpassen macht Schule wirke trotz allem in diese Richtung; Selbstmitleid ist ein Affekt, den sich politisch bewusste Menschen verbieten müssen.

Aufpassen macht Schule. Produktion: Filmkollektiv. Regie und Buch: Mathias Knauer, Benno Thoma, Urs Graf, Hans Stürm, Martin Wirthenson, Felix Singer, Helen Stehli, Konstanze Binder, Silvia Höner; Kamera: Hans Stürm; Fotos: Rob Gnant; Musik: Roland Moser. 16 mm, Farbe, 75 Minuten.

Hans W. Grieder
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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