JÖRG HUBER

EIN NETZ, IN DEM DIE OPFER ZAPPELN — ROMAN HÖLLENSTEINS JE KA MI

CH-FENSTER

Roman Hollenstein wollte weder in seinem Filmschaffen, noch in seinen Überlegungen dazu, endgültige Werte setzen. Filmen war für ihn ein «Prozess des Suchens»: Das Medium Film sollte nicht dazu dienen, ein vorgegebenes Thema zu illustrieren. Im Gegenteil; gereizt durch die Realität, genauer: durch Widersprüche und Ungereimtheiten unseres Alltags, machte sich Roman Hollenstein auf den Weg, mit Freunden, Fachleuten und Filmtechnikern. In einer grundsätzlichen Offenheit setzte er sich selbst dem Unerwarteten aus. Das, was dann offiziell als Thema erkannt wird, «entwickelt sich erst im Lauf der Zeit in ausgiebigen Recherchen, Gesprächen und Sammeln von Material in allen möglichen Richtungen (...) Zuerst geht es darum, Erfahrungen zu sammeln und die ganze Tragweite eines Themas kennenzulernen.»

Filmarbeit ergibt sich aus der persönlichen Betroffenheit. Die Person des Autors fliesst nicht primär in der ästhetischen Handschrift ein — als stilistisches Gütezeichen. Der Autor prägt den Film vielmehr durch die Funktion, die dieser einnimmt. Der Wille zur bildlichen Mitteilung motiviert Roman Hollenstein, nicht an der Realität vorbeizugehen, sondern in sie einzutauchen und die Möglichkeit zu schaffen, zu Erfahrung zu gelangen. Aus eben dieser persönlichen Erfahrung organisiert sich dann der Prozess des Filmens und letzlich auch die gültige Form des Films, die immer vorläufig bleiben muss. Die subjektive Art der Mitteilung widerspricht einer ausgewogenen, umfassenden, abschliessenden Form. Dadurch wirkt Hollenstein provokativ.

Film als Prozess dauernder Veränderung, als Prozess des Suchens — in mühseliger Kleinarbeit die Realität unseres sich liberal gebenden und mit entsprechenden Glückverheissungen aufwartenden Gesellschaft zu durchdringen versuchen.

In Je Ka Mi untersucht Roman Hollenstein die verschiedenen Formen organisierter Freizeitbeschäftigung, körperlicher Ertüchtigung und gesunder Erholung. Dass Programme persönlichen Wohlbefindens feilgeboten werden, machte Hollenstein wohl stutzig, und er fragte weiter: warum? wozu? von wem? Und was er belichtete, als er fragte, war die Kehrseite der heute so erstrebten «Fitness»-Medaille: Einerseits verwaltete Opfer, die keuchend sich abmühend oder meditierend entrückt, irgendwelchen Idealen nacheifern. Anderseits ein lockerer, überheblicher Zynismus bei den Organisatoren, die (finanziell) berechnend oder ideell fanatisch die Köder auswerfen.

In idyllischer Abgeschlossenheit, in einem Freikörperkulturlager, zwingen die Propheten und Gläubigen ihren Körper und Geist auf den Weg zum Licht, zu einer neuen Welt: Kraft durch Freude wird straff organisiert — düstere Bilder aus der Vergangenheit, von verordneten Züchtungsversuchen einer Menschenrasse tauchen in Gedanken auf. Das Licht, das hier den gesunden Körper emporträgt, versuchen andere in Büros und Fabrikhallen zu zwingen. Ein glückliches Lächeln auf den Lippen der Arbeiter und Angestellten, ein gesundes, arbeitendes Volk: Alles nur durch fünf Minuten entspannendes Turnen während der Arbeitszeit. Doch auch hier geht es nicht nur um das körperliche Wohl: In Reih und Glied, Arme und Beine rhythmisch schwingend, werden, so erklärt ein Unternehmer verklärt, soziale Schranken abgebaut — fünf Minuten lang sind alle Menschen. Beruhigend versichert der Menschheitsapostel im selben Atemzug, dass die Lockerungs- und Humanisierungsübungen keine Produktionseinbussen zur Folge haben. Für alle diejenigen jedoch, die nicht durch so aufgeschlossenen Arbeitgeber beglückt werden oder den Weg zum Licht nicht finden, stellen verschieden Organisationen und Industrieunternehmen Geräte, Maschinen, ausgesteckte Parcours, aufbauende Ferienprogramme zur Verfügung. Und ein Landesvater segnet sinnig: Die Volksolympiade ist eine Olympiade des Volkes.

Wortlos, mit einem Ausharrungsvermögen und einer schonungslosen Direktheit, die teilweise ans Unerträgliche stossen, legt Roman Hollenstein Anschauungsmaterial vor. Keuchend, kotzend, verbissen, fanatisch quälen sich Tausende über vorgeschriebene Bahnen, Richtung persönliches Glück und Gesundheit, und Hollenstein hält die Kamera dicht dabei. Die Organisation des Materials trägt das Zeichen von Hollensteins Betroffenheit, in der Montage entsteht eine ätzende Satire.

So möchte ich in bewusst provokativer Art jenem fantasievoll-sinnlich gestalteten Film das Wort reden, der Experimente erlaubt, aber auch risikoreicher ist. Mir kommen die Schweizer Filme manchmal allzu sehr wie gut gebaute, standfeste Einfamilienhäuschen mit Gartenzaun rundherum vor...

Roman Hollenstein wendet verschiedene Techniken der Montage an. So lässt er streckenweise Bild und Wort in einen gezielten Gegensatz treten, einen Gegensatz, der in seiner Spannung vom Betrachter aufgelöst werden, d. h. zu einer Erkenntnis führen muss. Zu den schwärmerischen Worten des Organisators des Engadiner Skimarathons etwa, die die einmalige Landschaft preisen, kämpfen sich auf dem Bild die Langläufer durch eine Betonsiedlung zwischen parkierten Autos durch.

Die Montage des Gegensatzes kann auch in der einzelnen Einstellung realisiert werden: Im Vordergrund sind die Anhänger der Freikörperkultur eingepfercht in ein umzäuntes Stück Land, und im Hintergrund ragt eine riesen Fabrikanlage ins Bild: Die Industrie verdunkelt die Sonne, während Glück im Ghetto geübt wird. Als weitere Möglichkeit, den Zuschauer zu provozieren, dient das statische Bild, in das Figuren eintreten oder aus dem sie verschwinden, dem Guckkasten eines Kasperletheaters ähnlich. Eine Einstellung zeigt z.B. eine unberührte Waldlanschaft und von unten schnellt regelmässig ein roter, schwitzender Kopf ins Bild; man errät: der Mann macht Kniebeugen. Der komische Effekt des Bildes überträgt sich auf das Dargestellte, auf den organisierten Stress des Vita-Parcours. Ähnliche Effekte erzielen die Nahaufnahmen von Menschen, die in einem Turnkurs an der Reckstange möglichst lange auszuharren versuchen. Der Kopf schwillt an, die Züge verzerren sich, und langsam sinken die sich verzweifelt Wehrenden immer tiefer und sacken plötzlich ab, verschwinden aus dem Bild, wie Ertrinkende.

Wenn Roman Hollenstein die Bilder zusammengesetzt, entstehen Montagesequenzen, die gezielt in ihrem Aufbau auf das Gefühl des Zuschauers ausgerichtet sind. Langsame Kameraschwenks über die Silhouetten herer Schweizer Berge, untermalt mit dem Gedonner pathetischer Orchestermusik, oder Schwenks und Fahrten über eine von Rauch und Dunst umnebelte Betonwüste stimmen den Betrachter ein. Die folgenden Bilder entwickeln sich aus dieser bewusst hergestellten Gefühlslage heraus.

Je Ka Mi ist von A bis Z zusammengesetzt aus gezielt montierten Gefühlschocks. Gerichtet sind sie auf den Zuschauer, aber nicht um Bekanntes zu bestätigen, sondern nicht mehr Gefühltes, Verdrängtes in Bewegung zu setzen.

Dokumentarfilme sind notwendiger denn je — besonders auch in einer Zeit, in der die Fernsehprogramme dazu neigen, unter dem Deckmantel der ‘Ausgewogenheit ‘ dem Zuschauer wichtige Informationen vorzuenthalten und ihn so zu bevormunden....

Roman Hollenstein übernimmt eine journalistische Aufgabe, er will mit dem Bild informieren. Dabei muss er sich auf zwei Realitätsebenen orientieren. Einerseits auf der Ebene der gelebten Realität, der historischen, sozialen und gesellschaftlichen Wirklichkeit, und anderseits auf der Ebene der Abbildrealität, d.h. der bestehenden, hergestellten und immer wieder neu bestätigten Sehkonventionen. Fernsehen, Werbung, Bildpresse, Erziehung und Gestaltung unserer Umwelt prägen jeden von uns mit einem bestimmten Sehverhalten. Das aufgesplitterte oberflächliche, auf Reize ausgerichtete Verhalten entspricht dem Unvermögen, unsere Umgebung mit dem Auge zu befragen, zu entziffern, letztlich zu erkennen. Das öffentliche Bild, das sich abhebt von individuellen Träumen, Gefühlen und Phatasien, ist das Bild der Öffentlichkeit, einer Öffentlichkeit, die hergestellt wird im Dienste bestimmter Interessen. Es ist eine Öffentlichkeit, die als inszeniertes Arrangement Wirklichkeit verdeckt und dem Menschen verunmöglicht, Erfahrungen zu machen.

Die Bildinformationen aus der ganzen Welt, aus allen Bereichen schaffen einen Zusammenhang, eine Totalität der Information, die gegen erkennendes, praxisorientiertes Wissen abdichtet. Die «Ausgewogenheit» als Geflecht von punktuellen Sensationen verhindert die Dialektik von Privatheit und echter Teilnahme am kollektiven Geschehen. Sie nivelliert den Menschen zum funktionierenden, unselbständigen Teil eines anonymen Ganzen. Roman Hollensteins Versuch, eine Gegenöffentlichkeit zu entwickeln, realisiert sich nicht nur, indem er Verborgenes aufdeckt, sondern auch in der Entwicklung einer geeigneten Bildsprache, die teils bestehende Sehverhalten umfunktioniert — das Arbeiten mit Reizsignalen etwa —, teils neue Möglichkeiten entwirft. Wichtig ist dabei, dass er die Kritik an dem bestehenden Zustand nicht personalisiert, nicht einzelne Gnome verantwortlich macht, um sie abzuschiessen. Glaubwürdig und von allen begreifbar wird die Kritik, damit auch die Gegeninformation, indem Hollenstein einfach in die bestehende Wirklichkeit eintaucht und wie ein Seismograph Erfahrungen aufzeichnet. Das Dargestellte spricht für sich; die Ironie besteht darin, dass es damit gegen sich spricht. Der Filmemacher verändert sich bei diesem Prozess selbst, wie Hollenstein feststellt, indem er die Wirklichkeit nicht durch ein vorbestimmtes Raster filtriert, sondern sich ihr aussetzt. Der Zuschauer erkennt das Gezeigte als seine Wirklichkeit und wird mitgerissen in die Spalte, die Hollenstein in die Oberfläche sprengt. Der Erlebnisbericht trifft seine Ängste, Phantasien, weckt Emotionen, setzt ihn als individuelle Person in Bewegung. Die Schockwirkung erfolgt durch die Tatsache, dass Hollenstein Bekanntes, Alltägliches von einer ungewohnten Seite beleuchtet.

Ich denke, dass es wichtig ist, Bilder zu finden, die nicht nur den Kopf des Zuschauers, sondern in ihrer sinnlich-nahen Art auch seinen Bauch berücksichtigen, die ihn als ganze Person ansprechen...

Je Ka Mi hat mich gereizt, provoziert. Roman Hollensteins «Bauchschuss» hat auch mich getroffen. Ich spürte auf direkteste Art, wieviel Zynismus und Menschenverachtung unser Alltag birgt, wie fortgeschrittene, perfekt organisierte und institutionalisierte Formen die Verwaltung unseres Anspruchs auf Glück und Gesundheit angenommen hat, wie weit die Bereitschaft grosser Kreise geht, in einem, wie auch immer begründeten Fanatismus, sich dieser Fremdbestimmung zu unterwerfen.

Doch schwang in meiner Betroffenheit auch ein ungutes Gefühl mit. Hollensteins Bilder von den «Opfern» gehen teilweise bis an die Grenzen des Aushaltbaren. Der Autor hat sich in extremer Weise dem «Stoff» ausgeliefert. Die Erfahrungen schlagen in einen Zynismus um, der sich im Film als die Haltung des Regisseurs freimacht: Und hier nun fehlt mir etwas. Ich möchte es versuchsweise als die «dialektische Betrachtungsweise» bezeichnen, wobei ich hier weiter als «Bauchredner» spreche und nicht als «Kopffüssler». Roman Hollenstein wollte einen Montagefilm drehen, «der als dichtes Geflecht gestaltet wird». Dieser formale Aspekt hat Konsequenzen in der Aussage. Die Verwaltung des legitimen Anspruchs auf körperliche und psychische Gesundheit wird als undurchdringbares Netz gezeigt, in dem die Opfer zappeln. Es scheint keine Lücke zu geben, kein Entrinnen, keine Alternative. Dieser Raum der Freizeitgestaltung wird als undurchdringbarer Herrschaftszusammenhang geschildert. Die niedergeschlagene Reaktion des Zuschauers muss Resignation sein oder in die Feststellung münden: So nicht! Aber wie? Roman Hollenstein setzt sich letztlich über die Opfer. Er lässt sie und damit auch den Zuschauer allein. Der abschliessende Schwenk im Film auf einen Kühlturm eines Atomkraftwerks erweckt Erinnerungen an braune Zeiten der organisierten Massenvernichtung: Hollenstein kritisiert eine kranke Gesellschaft und meint damit die Welt. Der Zynismus droht, eine praktische Erkenntnis und ein folgerichtiges Handeln zu lähmen.

Es gibt heute verschiedene Gruppen und Organisationen in der allgemeinen Bewegung der Bürgerinitiativen, die versuchen, eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen und in konkreter Quartier- und Stadtarbeit auf eine konkrete Utopie eines gesunden Lebens hinzuwirken. Dieser Arbeit nützt Hollenstein Film nichts, und zwar nicht, weil er falsch oder schlecht wäre, sondern weil er die Gefahr enthält, durch die lineare Radikalität in der Autorenhaltung, die Betroffenen zu isolieren. In unserer Arbeits-, Wohn- und Lebenssituation ist Spontaneität zum grossen Teil verkümmert und schon gar nicht mehr selbstverständlich zu erreichen. Es muss organisiert werden, es müssen Lernfelder geschaffen werden. Hollenstein kritisiert eine bestimmte Form der Freizeitorganisation. Da er den Nährboden aber nicht zeigt, auf dem der Mensch zum Opfer wird, sondern nur die Opfer, entsteht die Tendenz, auf sich selbst zurückgeworfen zu werden, auf die Basis, die eben gerade, wie der Film indirekt zeigt, nicht tragfähig ist. Hollensteins Kritik ist treffsicher geführt. Doch: Hat man den Zwang als Zwang entlarvt, hat man noch nicht viel gewonnen! Das heisst nicht, Hollenstein hätte seinerseits Rezepte liefern müssen — eine dialektische Betrachtung einer Krankheit jedoch hilft zu Gegenmassnahmen, trägt zur Genesung bei. Grossaufnahmen von Symptomen können erschüttern, können aber auch bestehende Resignation und Verzweiflung — der Nährboden der Unterwerfung — verstärken.

Alle Zitate stammen aus dem Text von Roman Hollenstein im Kellerkino-Buch «Dokumentarfilme aus der Schweiz», S. 175 ff.

Je Ka Mi oder Dein Glück stammt ganz von dieser Welt. Produktion: Roman Hollenstein und Filmkollektiv; Regie und Buch: Roman Hollenstein; Schnitt und Fertigstellung: Georg Janett und Rainer Trinkler; weitere Mitarbeiter: Robert Boner, Edwin Horak, Mathias Knauer, Beate Koch, Hans Künzi, Hans Liechti, Berthold Rothschild, Otmar Schmid, Nina Stürm u. a. m. 16 mm, Farbe, ca. 95 Minuten.

Jörg Huber
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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