WERNER JEHLE

PASSIONS-DARSTELLUNGEN — ZWEI PORTRÄTS VON RICHARD DINDO

CH-FENSTER

Zu den interessantesten Beispielen des neuen Schweizer Films zählen die Künstlerporträts Ich denke an Fredi M. Murers Bernhard Luginbühl (1966), an Georg Radanowicz’ 22 Fragen an Max Bill (1969), an Richard Dindos Naive Maler in der Ostschweiz (1973), an Hans-Ulrich Schlumpfs Armand Schulthess (1974) und Jürg Hasslers Josephson (1977). Es sind dies alles Werke, die weit über das hinausgehen, was man etwa am Fernsehen periodisch angeboten bekommt: einsame malende Genies, gefangen in einem Ghetto des Schönen; begleitet von einer seichten musikalischen Brühe aus Bach, Modern Jazz Quartet und Luciano Berio. Murer, Radanowicz, Dindo, Schlumpf und Hassler interessieren sich gleichermassen für das Werk ihrer Künstler wie für den Prozess, der zu diesem Werk führt. Sie stellen das Schaffen eines Künstlers in die Umwelt des Künstlers, sehen es auch als Reaktion auf soziale und im weitesten Sinne politische Verhältnisse. Die Filmemacher selbst treten hinter den Künstler zurück, stellen ihm ihr Werkzeug zur Verfügung. Keiner von den erwähnten Filmen will originell sein. Kaum einer arbeitet mit Attraktionen, die ausserhalb des Themas liegen, mit Bildreimen und illustrierenden Tonfolgen.

Nun hat sich ein weiteres Mal Richard Dindo eingeschrieben in diese Tradition des neuen Schweizer Films. Er behandelt unter der Überschrift Zwei Porträts das Werk eines «Gebrauchsgraphikers» (Clément Moreau) und eines «Fotoreporters» (Hans Staub). Beide, fast einstündigen Dokumentationen (47 und 50 Minuten) sind in sich abgeschlossen.

Moreau

Clément Moreau ist 1903 in Koblenz geboren, verbrachte Jahre im Erziehungsheim, flüchtete 1918 und machte mit bei der revolutionären Arbeiterbewegung. Hier fand er auch seine Lehrer: Käthe Kollwitz und John Heartfield, engagierte Künstler, die ihre Graphik, ihre Fotomontagen systematisch in den Dienst der vom Leben Zukurzgekommenen stellten. Moreau sieht sich denn heute noch als Gebrauchsgraphiker, nie als Künstler. Er wurde zwar von der direkten Sprache des deutschen Expressionismus berührt, doch was ihm stets wichtiger war als die Verfeinerung seiner individuellen Möglichkeiten, ist die Verständlichkeit und Reproduzierbarkeit von Bildern. Moreau konnte 1933 vor der Gestapo aus Deutschland fliehen, wählte die Schweiz zum vorübergehenden Exil, arbeitete hier illegal und musste dann weiter, nach Argentinien, wo er dreissig Jahre lang blieb, bis er auch da von der Militärdiktatur vertrieben wurde. Seit 1962 ist er wieder in der Schweiz, beschäftigt als Theaterzeichner am Zürcher Schauspielhaus, als Lehrer an der Kunstgewerbeschule St. Gallen und als Therapeut am Burghölzli (psychiatrische Klinik).

Diese bewegte Biographie Moreaus ist stets fassbar in Bilddokumenten. Der Graphiker erzählt und zeigt, wie er mit dem Zeichenstift oder dem Linolschnitt-Messer reagiert hat auf die Ereignisse der Zeit. Das Leben im Erziehungsheim, die Bedrohung der Existenz in der Nazizeit, die heimliche Arbeit in der Zürcher Genossenschaftsdruckerei zwischen 1933 und 1935, das Leben in Südamerika haben zu Graphiken geführt, die betroffen machen. Es wird dabei klar, dass Moreaus Schicksal kein privates ist, dass Moreaus Lebensweg die Passion, der Leidensweg zahlloser politisch Verfolgter ist, Moreaus Schnitte gleichen sich nicht von ungefähr den Holzschnitt-und Kupferstich-Folgen der Passion Christi an, wie sie aus der Dürer-Zeit überliefert sind. Dürer verkaufte seine Blätter auf dem Markt. Moreau will Bilder machen, «die in Bauernstuben hängen». Dürer vervielfältigt seine Graphiken in den fortschrittlichsten Reproduktionstechniken seiner Zeit (Holzschnitt, Kupferstich). Moreau bevorzugt den Linolschnitt, der sich fünfzigtausendfach drucken lässt, ohne. nachzulassen in der Qualität.

Dindo und der Kunsthistoriker Guido Magnaguagno stellen einen Gestalter vor, der seine Arbeit in den Dienst der politischen Aufklärung stellt. Sie lassen Moreau sprechen. Einmal führt Moreau sein Werkzeug vor, demonstriert wie er arbeitet und worauf es ihm dabei ankommt: auf knappe, leicht verständliche Formen.

Staub

Im zweiten Porträt über den heute 83-jährigen Fotoreporter Hans Staub stellt der Filmemacher wie im Falle des Gebrauchsgraphikers Moreau, dem Dargestellten die Apparatur zur Verfügung und bleibt selbst im Hintergrund. Staub ist ein anderes Temperament als Moreau. Staub ist bedächtiger, schweigsamer als der gewandte, manchmal schalkische Graphiker. Das hat denn auch sofort Auswirkungen auf den Rhythmus des Films, auf die filmische Atmosphäre: — ein Indiz übrigens für die Zurückhaltung des Filmemachers. Staub hat in den dreissiger Jahren für die Zürcher Illustrierte unter Arnold Kubier gearbeitet und bekam da Gelegenheit, Reportagen zu machen, die weit über das Niveau dessen hinausgehen, was man an Illustriertenreportagen gewohnt ist. Staub erfasst Menschen als soziale Wesen. Er kommt mit seinen Reportagen hinter die gesellschaftlichen Widersprüche seiner Zeit. Die Vergantung eines Bauernhofs im Entlebuch (1934) wird durch Staubs Objektiv zum erschreckenden Ereignis, zum entsetzlichen Gericht des Stärkeren über den Schwächeren. Feiste Beamte und selbstgerechte Nachbarn, die wie Hyänen über das Hab und Gut eines Mitmenschen herfallen, sind zusammengesehen mit den hilflosen Kindern derer, die gerade Fallit gemacht haben. Pathos gibt es nicht, — nur Menschlichkeit, Mitgefühl und ohnmächtige Zeugenschaft. Staub geht sogar immer wieder in Distanz. In seiner Vorliebe für Totalen und Halbtotalen steckt das Verlangen, möglichst umfassend zu informieren, Ereignisse in ihrer Ganzheit, psychologische Momente im sozialen Kontext zu zeigen. Hans Staub hat vor ungefähr vierzig Jahren eine Bauernfamilie fotografiert, deren Hof im gestauten Sihlsee unterging. Heute besucht Dindo zusammen mit dem Fotoreporter einen Spross jener Sippe. Es scheint, als wäre die Beziehung zwischen Reporter und «Reportiertem» nie abgerissen. Man spürt durch diese Sequenz hindurch Staubs Gewissenhaftigkeit und Engagement für den Menschen in bedrohlichen Situationen.

Staubs Schaffen wird als Reflex auf die ökonomischen und politischen Verhältnisse einer Epoche gesehen. Streikende Fabrikarbeiter, Arbeitslose vermitteln die soziale Stimmung während der Krisenzeit um 1930. Als Staub 1938 im vorarlbergischen Bludenz den Ablauf der Wahlen in Österreich photographieren wollte, wurde er überrascht von der Meldung, deutsche Truppen seien einmarschiert. Er reiste sofort nach Innsbruck und machte deprimierende Bilder vom Einmarsch der Nazis und damit vom Ende einer Demokratie. 1941 wurde die Zürcher Illustrierte ohne Publikumsbefragung aufgelöst. Staub musste für Familienhefte arbeiten und geriet so in Vergessenheit. — Massenmedien, Illustrierte und Zeitungen werden wie Waren behandelt, und diejenigen, die sie herstellen, haben keine Verfügungsgewalt. Mit der Verschiebung eines Mannes wie Staub gerät die photographische Analyse gesellschaftlicher Zustände ins Off. — Dies wird transparent durch ein Interview mit jenem Redaktor, der den Reportagestil Staubs gefördert hat: Arnold Kubier.

Sowohl im Porträt Staub als auch in jenem von Moreau kündet sich ein neuer Typus «Künstlerfilm» an, ein Typus, der gleichzeitig historische und psychologische Sensibilität entwickelt vis-à-vis der dargestellten Persönlichkeit. Da werden Gestalter gezeigt, die mit ihrer Arbeit reagieren auf ihre Umwelt: — jeder mit seinen Mitteln, jeder seinem Temperament entsprechend. Der Film demonstriert das: zwei Temperamente, zwei filmische Tempi, zwei Medien, zwei Arbeitssphären. Hier Druckerei, Arbeitstisch, Radio, — da Aussen-raum, Strasse, Bauernhof. — Es kommt dazu, dass sowohl Moreaus Graphiken als auch Staubs Photographien mit Respekt vorgestellt werden. Das will heissen: ganzformatig, ohne Kamerabewegungen, ohne subjektive Schwenks und Zooms, ohne illustrative Musik. (Hans Eislers «Wiegenlied einer proletarischen Mutter», zu Moreaus Porträt nehme ich nicht als illustrativ, sondern als zusätzliche Information, als Lied eines anderen Emigranten und Opfers des Dritten Reiches).

Zwei Porträts; Hans Staub, Fotoreporter/Clement Moreau, Gebrauchsgrafiker. Produktion: Filmkollektiv; Regie und Buch: Richard Dindo; Mitarbeit: Guido Magnaguagno; Kamera: Otmar Schmid, Heleen de Wit; Ton: Alain Klarer; Schnitt: Elisabeth Waelchli. 16 mm, sw. (Staub), Farbe (Moreau), 47 und 50 Minuten.

Werner Jehle
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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