WOLFRAM KNORR

DAS PRINZIP LEIDEN — IMITATION OF LIFE

ESSAY

Am Strand, einem wahren Rummelplatz der Müssiggänger, Sonnensüchtigen, Neugierigen, Schmarotzer und kreischenden Kinderscharen, lernen sie sich kennen: die blonde, schlanke Lora Meredith (Lana Turner) und die gutmütige, dicke Schwarze Annie Johnson (Juanita Moore). Weil vorher Lora deren Tochter Sarah Jane, ein hellhäutiges Mädchen kennenlernte, das mit ihrer eigenen kleinen Tochter Susie spielte, kann sie jetzt, bei der Begegnung mit der schwarzen Mutter, ihre Überraschung kaum vergeben: das süsse, kleine Mädchen — Tochter einer Schwarzen? Nicht zu fassen!

Mit dieser entscheidenden Szene beginnt der Film Imitation of Life (1958), das letzte Werk des grossen Meisters des Melodrams: Douglas Sirk. Es ist eines seiner interessantesten Werke geworden, da hier alle Elemente des Melodrams eine sowohl stilistische wie auch inhaltliche Synthese bilden: eine sozialkritische Problematik wird zum Prinzip des Leidens, denn Sirk sah die Welt immer unter diesem Blickwinkel. Er akzentuierte die Leidenssituation in der Übertriebenheit und Ausschliesslichkeit der Gefühle und in der Mühe, den Zuschauer zur Identifikation mit der Leidenssituation zu führen. Gut für das antike Drama die Sentenz «durch Leiden lernen», so führt hier das Leiden nicht zur Erkenntnis; vielmehr umgekehrt: die individuellen und gesellschaftlichen Gegebenheiten sind starr, und in der Erkenntnis dieser Unveränderbarkeit — es ist schliesslich fast immer von Schicksal die Rede — leiden die Protagonisten. Das Leiden hat eine rein passive Funktion.

Manchmal, vor allem noch in Deutschland, hat Sirk versucht, das melodramatische Leiden zu «adeln», indem der Masochismus zum Wohle eines anderen betrieben wird —-man opfert sich. Es sind in erster Linie Frauen, die zu solch entsagungsvollen Taten prädestiniert scheinen. In La Habanera zum Beispiel muss sich Zarah Leader zwischen dem südländisch Dunklen und dem nordisch Hellen entscheiden, in Zu neuen Ufern geht sie für ihren Geliebten sogar ins Straflager.

Erst aber in seinen amerikanischen Filmen gelingt ihm durch seine absolute Künstlichkeit, durch gleitende Schnittfolgen, ausgeklügelte Beleuchtungseffekte und mit grossflächigen grellen Farben eine synthetische Kinowelt, die gleichwohl exakt amerikanische Verhaltensweisen widerspiegelt. In diesen Filmen leiden seine Helden nicht mehr an irgendwelchen dunklen Triebmächten, sondern an konkret aufgezeigten gesellschaftlichen Zwängen. Es ist vor allem der «American Way of Life» mit seinen Imperativen vom Schöneren und Besseren, der diese Menschen kaputt macht, vereinsamt und sie in imitierte Gefühle und Gebärden flüchten lässt.

In Imitation of Life sind es zwei einsame Frauen mit ihren Töchtern, die das Schicksal zusammenführt. Lora ist die ruinierte Schauspielerin, die es zurück zum Glamour drängt; nicht unbedingt, um reich zu werden, sondern vielmehr um begehrt, umschwärmt, von allen geliebt zu werden. Sie weiss, dass das amerikanische Paradies ein Garten Eden der Karrieren ist. Die Farbige Annie Johnson andererseits, die — nach der entscheidenden Begegnung am Strand — bei Lora als Köchin und Dienstmädchen zu arbeiten beginnt, träumt von der grossen Harmonie zwischen Schwarz und Weiss, und sei es auf Kosten des sozialen Unterschieds.

Ist der Film in der ersten Hälfte ein Film über Lana Turner, das Porträt einer Frau, deren Selbst in dem Sumpf der Posen, des Glitzers und Glamours, der synästhetischen Inszenierung versickert, so verlagert sich die zweite Hälfte auf Sarah Jane, die mit aller Gewalt ihre schwarze Herkunft zu verleugnen versucht. Sarah Jane wird zum Spiegelbild Lana Turners.

Als 18jährige — Lana hat längst Karriere am Broadway gemacht — wird ihr ihre Situation als Tochter einer schwarzen Dienstmagd bewusst; sie verleugnet ihre Mutter, tingelt in Nachtclubs, um einen Platz an der amerikanischen Sonne zu bekommen, der bekanntlich ein Platz für Weisse ist. Sie leidet unter dem Identitätsverlust, den die schwarz-weisse Farbenmethaphorik, die zum unreflektierten Jedermannswissen der abendländischen Gesellschaft gehört, auflöst. Das Stereotyp «Schwarz oder Weiss» hat sie geschluckt, lässt sie als Person nicht mehr zur Geltung kommen. Indem sie sich dagegen wehrt und eine «Weisse» sein möchte, wird sie, wie das Stereotyp «Weiss» es haben will: sie lebt nur von der Nachahmung.

Die vier Frauen und der junge Mann (John Gavin), der Lana Turner liebt, auf den sie aber verzichtet, weil ihr ihre Karriere wichtiger ist — alle fünf Personen sind Menschen, die wie Blinde aneinander vorbeitappen: Lana will den Erfolg, der Freund sie; Sarah Jane die Anerkennung und damit eine Identität; ihre Mutter will die Tochter zurückhaben, weil sie die Versuche, eine Weisse werden zu wollen als Sünde ansieht, und Susie, die Tochter Lanas, fühlt sich von ihrer Mutter vernachlässigt, was diese wiederum nicht verstehen kann. Dieses verzweifelte Freischwimmen im bonbonsüssen Sirup des «American Way of Life» ist der verquälte Versuch von Eingeschlossenen, der eigenen Existenz einen irisierenden Glanz zu verleihen. Im Film äussert sich das als ein dramatisches Aneinandervorbeimarschieren und -reden, eine Macht-und Hilflosigkeit, die gefühlvoll aufzeigt, dass diese Menschen sich im buntgedruckten Arkadien nur verlaufen.

Deshalb suchen sie sich einzubergen in Mythisches und Hehres: Annie Johnson träumt von einer ganz grossen Beerdigung (die sie am Ende auch bekommt), um der Nachwelt eine grosse Bedeutung vorzumachen, und Lana Turner nimmt die Schwarze nicht deshalb auf, weil sie den Rassismus Unsinn findet, sondern weil sie diese Geste der Nächstenliebe für Hochdramatisch hält. Sirks Figuren wollen nicht Rechenschaft ablegen, sondern abwandern in die heile Welt des Kitsches, ins Dorado der Selbsttäuschung: Lana, endlich auf der Höhe des Ruhms, umgibt sich in ihrem Haus mit gestrandeten Kulturtrümmern; Gold und Silber, Brokat und Seide, Glanzleder und Goldrahmen — die Furcht vor der Entleerung der Sinngehalte wird durch Übermöblierung beruhigt, im Pseudoidyll wird sich eingeigelt. Sarah Jane spürt das und spielt denn auch einmal gehässig die «Dienerin», während ein italienischer Regisseur bei Lana zu Besuch ist.

Die falschen Gefühle der Frauen dunkeln ihren Geist ein. Sie täuschen vor, dass Wahrheit sei, was die Wirklichkeit ihrer Trivialmythen glauben macht; als sei ihre Hinterwelt — trotz reichem, kaltem Glanz — Vorderwelt. Das eindimensionale Bewusstsein wird stabilisiert. Die Imitation ist die Existenzgrundlage. Folglich — und hier ist Sirk in Imitation of Life am konsequentesten — werden die Menschen durch die Bauten und Dekorationen, das schiere Material definiert. Kultur gerinnt zu «Auftritten» auf flauschigem Teppich, in modischen Sesseln und vor schimmernden Vitrinen. Das Whisky-Glas wird zur Versuchung, der grellrote Lippenstift zur Schönheit, das Deodorant zur Intimität, die Frisur zum Charme. Schönheit ersetzt den in Wirklichkeit verpönten Genuss. Das versagte Glück am Dasein flüchtet sich in ein Glück am Schein.

Das Material wird aktiv und ist mit einer Intensität in die Handlung eingeschlossen, dass man sich am Hitchcocks Kalkül mit Sachen erinnert fühlt. Spiegel oder Spiegelungen, Fenster und Türen sind intensive Signale, für Einsamkeit ebenso wie für Hoffnung, für Narzissmus wie für die Suche nach dem Nächsten; Fenster, Spiegel und Türen trennen und verbinden zugleich.

Freilich, bei aller Perfektion, Sirks Filme — und Imitation of Life besonders — sind und bleiben Melodramen, die dialektische Spannungen zwischen Wahrheit und Wirklichkeit ins «grosse Leiden» wegideologisieren. Die menschlichen Frustrationen werden letztlich nicht ausgestanden, sondern hinwegprojiziert. Die Gefühle sind nicht selten Nippes, die einen nüchternen Blick vernebeln, und seine «Happy Ends» (die Sirk als «Notausgänge» bezeichnete) sind oft so gewaltig, dass man die kritischen Momente der Filme leicht wieder vergisst. Nur in Imitation of Life vergisst man sie tatsächlich nicht, weil selbst das Happy End — die Beerdigung der schwarzen Annie Johnson — als resignatives, hilfloses Prinzip Leiden durchschaubar wird.

Wolfram Knorr
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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