BERNHARD GIGER

LANA TURNER IST ZUSAMMENGEBROCHEN — SIRKS AMERIKABILDER

ESSAY

Der Traum Amerika: Als Jugendlicher, so erzählte Douglas Sirk, sei er oft mit seiner Grossmutter ins Kino gegangen. Er sei so vernarrt gewesen in die Filme, die dort liefen, dass er eines Tages selber ein Drehbuch geschrieben habe, in dem er von der Entdeckung Amerikas durch Columbus erzählte.

Es gab eine Zeit — schon lange bevor ich aus Europa fortging — in der ich verliebt in die Phantasmagorie Amerika war; so wie Brecht es war in vielen seiner Stücke, so wie viele von uns damals jungen es waren. Wir lasen diese aufregenden Bücher von diesen Giganten — wie es in jenen Jahren uns schien — von Hemingway, Faulkner — die Bücher von Thomas Wolfe, die Bücher von Scott Fitzgerald, von Dreyser, von Sinclair Lewis und Upton Sinclair. Man könnte noch lange die Aufzählung fortsetzen. Welch eine grosse Generation von Kritikern eines grossen Landes im Aufbruch. Welche weite epische Landschaft. Allerdings kam es dann anders, kam die Enttäuschung. (Douglas Sirk, Filmkritik H/73).

Die letzen Bilder des letzten amerikanischen Films: Mahalia Jackson leitet das Begräbnis von Annie Johnson ein. Sie singt, als ob sie alle Leidenden erlösen möchte, nicht nur die ihrer eigenen Rasse, nein, alle Menschen, als ob sie alle überzeugen möchte, zu glauben, an Gott vielleicht oder einfach an ein anderes, besseres Leben, in dem die Menschen so miteinander verkehren, dass daraus auch etwas entstehen kann. Mahalia Jackson wird in diesem einzigen Film von Douglas Sirk, in dem ich überhaupt keine Hoffnung mehr gefunden habe, keine echte Zärtlichkeit, höchstens hilflose Versuche, zueinander zu finden, Versuche jedoch, die dann in Schmerz und Verzweiflung enden — Mahalia Jackson wird in diesem Film zum Fremdkörper, zur letzten Verkünderin eines aufrichtigen Glaubens. Die Welt aber kann auch 9ie nicht mehr in Ordnung bringen.

Draussen vor der Kirche, nachdem der weisse Sarg in eine Kutsche verladen wurde, stürzt Sarah Jane durch die Trauergäste und die Polizeisperre zur Kutsche. Sie will noch einmal mit ihrer Mutter sprechen, sie fühlt sich schuldig an ihrem Tod. Lora Meredith hält sie zurück. Was da vor Annie Johnsons Sarg sich abspielt, könnte, wenn man von diesem Film nur den Schluss sehen würde, echt wirken. Wer aber gesehen hat, was vorher alles passiert ist, der weiss, dass nach den Tränen und der Trauer nichts mehr sein wird, oder, dass nachher alles sein wird wie es vorher war. Die falschen Gefühle, die falschen Hoffnungen, die Illusionen werden sich wieder vor die Trauer schieben. Auf den Nachttischen von Lora und Sarah Jane wird vielleicht eine Photographie von Annie stehen, in einem Silberrahmen.

In der schwarzen Limousine dann sitzen hinten Lora, ihre Tochter Susie und Sarah Jane. Diese legt den Kopf auf die Schulter von Lora. Alle drei versuchen zu lächeln, auch Steve Archer, der vorne sitzt und zuerst sorgenvoll nach hinten schaut, lächelt. Aus diesem Lächeln wird nichts werden — wieder zu Hause, wird bei Lora das Telefon läuten und ein Agent wird sie, obschon sie noch an ihre Tochter und an Steve, den sie heiraten möchte, denkt, überreden, einen Film zu machen mit einer grossen tragischen Rolle, die auf sie geschrieben worden sei. Einen Film über die Liebe, die, nach unzähligen Bedrohungen, schliesslich doch noch zur Vollendung kommt.

Diese letzten Bilder sind beinahe nur noch schwarz-weiss — was auch an der vielgespielten Kopie liegen könnte, die ich gesehen habe, wobei dies hier einmal kein Nachteil wäre — schwarz-weiss, schwarze Kleider, weisse Gesichter. Bilder, die an Bilder erinnern, die fünf Jahre später durch die Presse gingen und die Andy Warhol dann vielfach kopierte: Jackie Kennedy bei den Trauerfeiern für ihren erschossenen Mann. Bilder mit Weltuntergangsstimmung. Bilder vom ausgeträumten Traum Amerika. Sirk: «Es wurde Zeit, an Abschied zu denken.»

Zwei typische Amerikabilder: Jane Wyman, Waiden von Henry David Thoreau lesend, in All That Heaven Allows; und Dorothy Malone am Schluss von Written on the Wind, am Pult ihres Vaters sitzend, einen Modell-Bohrturm streichelnd.

Jane Wyman spielt Cary Scott, eine Witwe in einer kleinen Stadt, mit zwei Kindern, Kay und Ned, einem grossen Haus und einem Farbfernseher, der ihr, damit sie sich nicht so allein fühlt, von den Kindern zu Weihnachten geschenkt wird. Die Kinder bemühen sich, das damals übliche amerikanische Lebens-Programm einzuhalten: Karriere, Sicherheiten schaffen. Ned mischt ganz spezielle Cocktails, dafür ist er in der Stadt bekannt. Kay wird einen Mann heiraten, der in Friedenszeiten genug Geld anschafft, Geld für Autos, Kühlschränke, Farbfernseher und Cocktail-Parties, und der, wenn die Nation bedroht wäre, ein überzeugter und mutiger Soldat würde.

Sirk, rücksichtsvoll einerseits seinem Gastgeber gegenüber, eingeengt andererseits von den damaligen Produktionsbedingungen Hollywoods, will und kann nicht zu weit gehen — würde aber jemand die Kinder von Cary Scott nach ihren Meinungen zu Amerika und der Welt fragen, so wären sie sicher überzeugt davon, dass Amerika der Welt vormache, was Freiheit bedeutet, mehr noch, dass die Welt von Amerika lernen müsse, in Freiheit zu leben. Sie würden auch bald den Feind der Freiheit erwähnen, den einen grossen Feind im Osten.

Und eine Fortsetzung des Films achtzehn Jahre später würde die Kinder vor dem Fernseher zeigen, jener ersten Rede Nixons folgend, in der er, auf der einen Seite die amerikanische Flagge, auf der anderen ein Familienphoto, jeden Zusammenhang zwischen ihm und Watergate unter das Pult wischte. Dazu würde Ned seine Cocktails mischen.

Das Haus, in dem Cary Scott wohnt, ist ein Palast aus dem Katalog. Seine Vorbilder, so Sirk, seien die «Home & Garden-Magazine der mittleren fünfziger Jahre, vollgestopft mit glanzfarbigen Bildern» gewesen. Kaum eine Ecke in diesem Haus, die nicht mit irgendeinem Möbel belegt ist, die Menschen gehen nicht durch Räume, sondern zwischen Möbeln durch, die ihnen den Weg versperren. Wohnen, sich zu Hause fühlen, sichs gemütlich machen, kann man in diesem Haus nicht.

Cary Scott, selbst wenn sie es wollte, könnte kein einziges Möbel aus der Wohnung entfernen. Sie müsste dann ihren Kindern, ihrer Freundin, die täglich einmal mit dem neusten Klatsch hereinstürzt, der Freundin der Freundin, die sie zufälligerweise beim Bäcker trifft, und so weiter der ganzen Stadt erklären, warum sie das gemacht hat. So ist das in dieser kleinen Stadt, die Leute schauen sich auf die Finger, und weil sonst so überhaupt nichts passiert, machen sie das peinlich genau.

Bei Freunden von Ron Kirby, dem von Rock Hudson dargestellten Gärtner, der ihr Leben durcheinanderbringt und damit den Kindern und den Freundinnen Gesprächsstoff liefert, findet Cary Scott «Waiden». Sie schlägt das Buch auf, liest einige Sätze und findet das Gelesene wunderschön. Cary Scott wird von einer grossen Sehnsucht erfasst. Die Natur ruft.

Dorothy Malone spielt Marylee Hadley, die Tochter des Ölgiganten Jasper Hadley. Sie hat, was in Amerika damals als erstrebenswert galt, sie hat Geld und Erfolg bei den Männern. Sie kann machen, was sie will — solange sie nicht die Regeln ihrer Klasse bricht. Da fangen die Probleme an. Marylee liebt Mitch Wayne, den besten Freund ihres Bruders Kyle. Mitch aber liebt sie, was er ihr auf einer Fahrt in ihrem roten Sportwagen zwischen Bohrtürmen durch erklärt, mehr wie ein Bruder seine Schwester liebt. Marylee beschafft sich darum, weil sie einerseits Lust dazu hat, und weil sie damit andererseits Mitch zu sich locken will, irgendwelche Männer, einen Tankwart, einen Säufer in einer Bar. Aber auch das hilft nichts, sie bleibt bei Mitch erfolglos. Sie beginnt zu trinken und ihre Umwelt zu zerstören. Der Vater stribt, den Bruder hetzt sie gegen Mitch auf, indem sie ihm ein geheimes Verhältnis zwischen seiner Frau Lucy und seinem Freund andeutet. Darauf schlägt Kyle seine schwangere Frau zusammen, will Mitch erschiessen und kommt dabei, halb gewollt, halb ungewollt, selber ums Leben. Marylee könnte nun ihre Zerstörung fortsetzen, als einzige Zeugin der Schiesserei könnte sie Mitch belasten. Sie tut es nicht, die Liebe zu ihm ist stärker. Mitch und Lucy verlassen dennoch das Haus. Marylee sitzt da und streichelt den kleinen Bohrturm. Sie wird wieder von der grossen Sehnsucht erfasst. Sie hat nun zwar noch mehr Geld, das Öl fliesst jetzt für sie, die Liebe aber, die nicht möglich war, ist noch immer unerfüllt, ist unmöglicher denn je.

Beide Frauen, die Witwe in der Kleinstadt und die Tochter des Ölgiganten, möchten ausbrechen. Der Ausbruch aber misslingt, zu sehr sind sie schon von ihrer Umgebung geprägt, zu sehr sind sie in ihre gefangen. (Das Happy-End von All That Heaven Allows deutet zwar eine Änderung an, dass Jane Wyman dem «Naturburschen» Rock Hudson folgen wird, bleibt aber offen. Das Happy-End dieses Film ist ebenso «falsch» wie die anderer Filme von Sirk. Ähnlich wie in Imitation of Life wird auch hier, durch das, was vorher beschrieben wurde, der gute Schluss fragwürdig. Man sollte die Wirkung eines solchen falschen Happy-End’s damals in den fünfziger Jahren nicht überbewerten, viele amerikanische Zuschauer waren nicht fähig oder nicht bereit, den guten Schluss als Lüge zu sehen. Rückblickend lässt sich darin aber einer der vielen Versuche Sirks erkennen, dem damaligen unfreien Produktionssystem zu trotzen.)

Was bleibt bei den beiden Frauen, ist die Sehnsucht. Und je stärker diese wird, desto schmerzlicher wird die Gefangenschaft. Also leiden sie und verzweifeln langsam. Diese leidenden Figuren trifft man immer wieder in den Filmen von Sirk, in den frühen deutschen ebenso wie in den früheren und späteren amerikanischen.

Es sind typische Figuren des Melodramas.

Von allen Figuren, die die verschiedenen filmischen Genres bevölkern, sind die des Melodrams am wenigsten Herr ihres Geschicks oder, was auf dasselbe hinausläuft, am meisten den Launen des Schicksals ausgesetzt. Das Melodram lässt seine Helden mit Hilfe aller möglichen Mittel (physischer Schäden, Trennung, Missverständnisse, die sich auf dem fruchtbaren Boden sozialer Konventionen entwickeln) eine wechselnde und unvorhersehbare Folge von Glück und Unglück durchlaufen. Die beste Melodramenfigur ist die, die während der Ereignisabfolge, die das Drehbuch ihr auferlegt, am intensivsten und auf die verschiedenste Weise glücklich und unglücklich erscheint. (Jacques Lourcelles).

Solche Figuren trifft man jedoch nicht nur bei Sirk, er ist nicht der einzige Regisseur, der sich dem Melodrama widmete. Er tat dies im Unterschied zu anderen vielleicht nur intensiver, konsequenter. Anfangs der siebziger Jahre, als seine Filme da und dort (wieder) zu sehen waren, wurde er rasch schubladisiert, «Meister des Melodramas» nannte man ihn. Einer tieferen Auseinandersetzung mit seinem Werk aber half die nicht unrichtige, jedoch ungenaue Bezeichnung wenig. Denn einerseits wurde das filmische Melodrama bis heute kaum befriedigend definiert, zu viele, auf den ersten Blick recht verschieden Filme können auch ein Melodrama sein. Das trifft vor allem auf die Produktion Hollywoods zu. Mit der Bezeichnung Melodrama wurde wenig gesagt über die Eigenständigkeit der Filme von Sirk. Andererseits wurde die Bezeichnung Melodrama zum modischen Ausdruck für ein Kino, das die Dekadenz zum faszinierenden Erlebnis macht. Die Unmöglichkeit der Liebe wurde zum Augen- und Ohrenschmaus für jene, die sich längst damit abgefunden hatten — böse gesagt, die auch irgendwie stolz darauf waren — Vertreter einer kaputten Gesellschaft zu sein. Es ist gewiss kein Zufall, dass Sirks Filme — Filme über «Amerika am Rande des Untergangs» (Jon Halliday über All That Heaven Allows) — gerade in den frühen siebziger Jahren, in dieser allgemeinen Hoffnungslosigkeit, die sich wie ein Geschwür in die gegenkulturelle Bewegung eingefressen hatte, wiederentdeckt und gefeiert wurden.

Sirk ist also nicht so sehr darum ein bedeutender Regisseur, weil er Melodramen machte und auch nicht, weil er, sowohl bei der Ufa wie in Hollywood, die filmtechnischen Möglichkeiten richtig auszunutzen wusste, weil er die Schauspieler ins richtige Licht zu rücken wusste und weil er wusste, wie die Gefühle der Zuschauer herauszufordern sind ohne dass sie missbraucht werden — Sirks Bedeutung liegt vielmehr in seiner langen und tiefen Auseinandersetzung mit Amerika. Wenn er aus seiner Jugend erzählt, von seiner Arbeit bei der Ufa, von den Büchern, die er damals gelesen, von den Filmen, die er gesehen hat, so taucht immer wieder Amerika, dieser Traum vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten, auf. Sirk musste, so scheint es wenigstens, nach Amerika. Dass die Erfüllung dieser Sehnsucht schliesslich auch so etwas wie eine Rettung wurde, dass das Land seiner Träume schliesslich das Land auch der Freiheit wurde, hat seine Erwartungen, als er auf dem letzten holländischen Dampfer war, der 1939 von Rotterdam aus die neue Welt erreichte, sicher noch erhöht. Das Amerika aber, das er dann kennenlernte, war nicht jenes seiner Träume, das Produktionssystem, das er in Hollywood kennenlernte, erinnerte ihn bald an jene Welt, aus der er geflüchtet war. In Hollywood lernte Sirk eine Unfreiheit kennen, die sich zwar anders auswirkte als jene in Deutschland, die aber auf ihre Art genauso erschreckend war.

Sirk reagierte auf diese Unfreiheit, jedenfalls in seinen Filmen, nicht mit Hass, er wurde nicht — wie etwa Billy Wilder in Double Indemnity, Sunset Boulevard und The Big Carnival — zum zynischen Kritiker Amerikas und seiner «Traumfabrik». Nein, er ist den Menschen mit viel Zärtlichkeit begegnet. Rainer Werner Fassbinder beschreibt ihn als einen, «der die Menschen liebt und sie nicht verachtet wie wir». Sirks Figuren können noch so unsympathisch sein, was sie tun kann noch so unverständlich sein, niemals aber geht das so weit, dass man sie zu hassen beginnt. Es gibt bei Sirk darum auch keine klaren Unterschiede zwischen Guten und Bösen — seine Figuren sind meistens beides. Und vor allem sind sie nicht schlechter und nicht besser als die Zuschauer unten im dunklen Saal. Sie sind, so abgedroschen das auch tönen mag, Spiegelbilder der Zuschauer.

Sirk hat auf dieses seinen Erwartungen widersprechendes Amerika reagiert, indem er sich ganz genau umzusehen begann. Er wurde zum ruhigen, geduldigen Beobachter der amerikanischen Menschen und der amerikanischen Landschaft. Darin liegt denn auch die Stärke seiner Filme, in diesem beinahe dokumentarischen Abbild Amerikas.

... das Beste, was wir dem amerikanischen Film verdanken, besteht in der dokumentarischen Wiedergabe des amerikanischen Lebens, des Alltags und der Routine des amerikanischen Wirtschafts- und Verwaltungsapparats, der Wolkenkratzerstädte und der Middle-West Farms, der amerikanischen Polizei und der Gangsterwelt. (Arnold Hauser, Im Zeichen des Films).

Das amerikanische Werk von Douglas Sirk lässt sich, etwas vereinfacht gesagt, in drei Gruppen einteilen. Zur ersten Gruppe gehören die frühen, teilweise unabhängigen Produktionen wie Hitler’s Madman, Summer Storm, Scandal in Paris, Lured, Sleep, My Love, Slightly French, Shockproof und The First Legion. Zur zweiten gehören die ersten Universal-Filme (für die Sirk dann bis zu seinem Weggang von Hollywood arbeitete), kleine, nicht sehr teure Filme, Komödien wie Weekend with Father, Has Anybody Seen My Gal?, No Room for the Groom und Take Me to Town. In der dritten Gruppe schliesslich sind jene Filme, von denen einige zu den wichtigsten gehören, die in den fünfziger Jahren in Amerika gedreht wurden, darum, weil sie uns ein Bild der damaligen amerikanischen Gesellschaft vermitteln, das manches erklärt, was dann in den sechziger und siebziger Jahren in Amerika passierte. Unter diesen Filmen sind All I Desire (der zwar am Anfang des Jahrhunderts spielt), Magnificent Obsession, All That Heaven Allows, There’s Always Tomorrow, Written on the Wind, The Tarnished Angels (der, entstanden nach Faulkners Pylon, in den zwanziger Jahren spielt) und Imitation of Life. Nicht thematisch, aber zeitlich gehören auch Captain Lightfoot und A Time to Love and a Time to Die zu dieser Gruppe.

In Hollywood sollte Sirk vorerst für Warner Brothers ein Remake von Zu neuen Ufern machen. Da aber die Studios beschlossen hatten, alle Geschäfte mit der Ufa, von der die Rechte für den Film hätten gekauft werden müssen, abzubrechen, kam es nicht zu diesem Film. Anstatt darauf als Writer, was ihm angeboten wurde, bei Warner Brothers zu bleiben, versuchte Sirk etwas damals noch ziemlich Unübliches, er wollte unabhängig von den grossen Studios Filme realisieren. Dies gelang ihm auch. Heute erwähnt er diese Filme besonders gern, denn es sind Filme, bei denen er «noch eine freiere Hand» hatte, bei denen er nocht nicht von den ungeheuren Zwängen des Studiosystems eingeengt wurde. «Es waren u. a. die Filme Summer Storm, Scandal in Paris, The First Legion und bis zu einem gewissen Grad auch Lured. Alle diese Filme spielten, mit Ausnahme des zeitlich letzten der Gruppe: First Legion, in europäischem Milieu; was zugleich ein gewisses Ausweichen vor der Schilderung amerikanischer Zustände anzeigte.» (Sirk, Filmkritik).

Unter diesen Filmen fällt ganz besonders Summer Storm auf, entstanden nach Anton Tschechows Die Jagdpartie. Summer Storm ist Sirks grosser Liebesfilm, einer der schönsten Liebesfilme überhaupt. Erzählt wird darin von einem armen, aber überaus schönen Mädchen, das zuerst einem Richter und dann einem alten Grafen den Kopf verdreht. Die eigentliche Geschichte spielt in einem kleinen Ort in der Provinz, im Russland vor der Revolution.

Nach der Revolution leben die beiden einstmals in nobelster Gesellschaft verkehrenden Männer in völliger Armut. Sie gehören nun zu jenen, die sie früher als Spielzeug benutzt, auf die sie verächtlich hinuntergeschaut haben. Diese Veränderung hat die beiden zu Fremden gemacht, sie begreifen kaum mehr richtig, was um sie herum vor sich geht. Die stolzen Herren sind unsicher geworden, auf der Strasse spricht der Graf einen Mann mit «Herrn» an, korrigiert sich dann sofort und sagt «Genosse». Sie sind auch einsam geworden. Und in dieser Einsamkeit erinnern sie sich, besonders der Richter, an die Zeit, als ihre Welt noch in Ordnung war, als ihre Welt noch die Welt war. Die Erinnerung — im Film eine lange Rückblende — verspielt vorerst, wird zur Qual. Sirk beschreibt hier eine untergehende Klasse, die ihren vornehmen Schein zwar noch zu wahren weiss, innerlich aber längt zerfressen ist.

Der Richter verliebt sich in das arme Mädchen und verliert dadurch seine Braut. Die Beziehung zum Mädchen ist für ihn mehr ein Abenteuer, eine Abwechslung in diesem langweiligen Provinznest, ein Genuss wie Champagner oder Kaviar. Für das Mädchen hingegen ist es die langersehnte Möglichkeit, der Armut und dem naiven Ehemann, den es gar nicht liebt, zu entkommen. Es interessiert sich darum auch immer mehr für den Grafen, der, im Unterschied zum Richter, seinen letzten Frühling gekommen sieht und das Mädchen verwöhnt. Jetzt erst steht der Richter zu seinen Gefühlen und fordert das Mädchen auf, mit ihm zu kommen. Als dieses ablehnt, erschiesst er es. Der Mord wird dem hilflosen Ehemann angelastet. Der Richter schweigt.

In George Sanders (er hat auch in A Scandal in Paris und Lured gespielt) hat Sirk einen Schauspieler gefunden, der diesen Liebenden, der, weil die Regeln seiner Klasse ihm dies verbieten, nicht zur Liebe kommt, ergreifend darstellt. Sein herrisches, selbstsicheres Verhalten wird immer wieder gestört von seinen Gefühlen, seiner Sehnsucht nach Liebe und dann von dem der Liebe so nahen Schmerz.

In den ersten Jahren lebten Sirk und seine Frau in Amerika auf einer Farm, zuerst im San Fernando Vally und dann in der Nähe der Kleinstadt Pomona. Sirk: «Was ich... für eine Serie von späteren Filmen hier lernte war nicht umsonst. Es war eine genaue Kenntnis dieser kleinstädtischen, amerikanischen Gesellschaft. Ein ständiger, intimer Verkehr mit ihren Repräsentanten, ein Vertrautwerden mit ihren Vorurteilen, ihrem Familienleben, ihren Hoffnungen und Nostalgien.» (Filmkritik).

1950 drehte Sirk den ersten Film für Universal International. Die Universal, das älteste der grossen Studios in Hollywood, hatte sich auf die Produktion von kleinen Filmen spezialisiert, von Filmen, die nicht in erster Linie für die Kinos in den grossen Städten bestimmt waren und auf dem Land dann vom Erfolg in den Städten zerrten, sondern die von Anfang an als Filme für alle Kinos im Land herum geplant wurden. Solche Filme drehte auch Sirk. Sie gehören sicher nicht zu den Highlights des amerikanischen Kinos, aber Sirk konnte in ihnen erstmals seine Erfahrungen und Beobachtungen aus der Zeit auf der Farm verarbeiten. Was er selber einmal als «typisch amerikanisch» bezeichnete, die Lebensgewohnheiten in kleinen Orten, kleinen Städten, konnte er nun in diese wie er sie auch einmal nannte, «typisch amerikanischen Filme» einbringen.

Für den Europäer war Amerika häufig nur New York, Los Angeles, San Francisco und Chicago, die Millionenstädte. Darum blieb ihm oft auch das echte amerikanische Leben und Denken verborgen, dieser Pioniergeist, der sich die Jahre hindurch und mit dem wachsenden Wohlstand mehr und mehr in eine Selbstzufriedenheit, eine Selbstherrlichkeit gar verwandelte, die dann jede Veränderung verunmöglichte. Die Entwicklung seit den frühen Tagen hat den Pionieren recht gegeben, sie haben es zu etwas gebracht. Warum also sollte sich nun in ihrem Leben und in ihrer Umgebung irgendetwas ändern?

Obwohl Sirk manchmal recht dürftige Drehbücher in die Hand bekam, sind in diesen ersten Universal-Filmen, die sich, ohne allzu böse zu werden, mit den Schwächen der Amerikaner beschäftigen, immer wieder Momente zu finden, in denen Sirk deutlicher wird, als man dies von einem solchen Film erwartet. In Has Anybody Seen My Gal? etwa läufts einem schon kalt den Rücken herunter, wenn die Familie, bei der sich Charles Coburn eingemietet hat, zufällig zu viel Geld kommt. Die Mittelstandsbürger sind ihrem Traum, Millonäre zu werden, plötzlich nähergekommen. Geld spielt auch in No Room for the Groom eine wichtige Rolle. Tony Curtis muss Piper Laurie heimlich in Las Vegas heiraten, weil ihre Mutter möchte, dass sie einen Geschäftsmann mit grosser Zukunft — er fabriziert Zement — heiratet. Eines nachts ist Curtis, verzweifelt und völlig betrunken, allein in der Wohnung eines Freundes. Durch das Fenster sieht man eine verlassene Strasse der kleinen Stadt. Curtis lässt seinem Hass auf die Menschen der Stadt, auf die Mutter seiner Braut, auf den Geschäftsmann mit der grossen Zukunft freien Lauf. Die Strasse aber bleibt ruhig und im Hintergrund leuchtet die Neonschrift der Zementfirma.

Diese Kleinstadtfilme entwickelten sich dann zu einem richtigen Zyklus, der mit Take Me to Town beginnt einer Westernkomödie über eine Tingeltangeltänzerin, die in einem kleinen Ort Pfarrersfrau wird und durch ihre Unternehmungslustigkeit den Bau einer Kirche ermöglicht —, sich fortsetzt mit All I Desire — der Geschichte einer erfolglosen Schauspielerin, die zurück in ihre kleine Stadt zu ihrer Familie und ihrer grossen Liebe kommt und dort auf Misstrauen, Neid und Hass stösst, auf alte Wunden, die noch immer nicht geheilt sind — und dann zum Höhepunkt kommt mit All That Heaven Allows und There’s Always Tomorrow — der Geschichte des Roboter bauenden Spielzeugfabrikanten Clifford Groves. Was Sirk über ihn sagt, lässt sich über andere Kleinstadtmenschen in seinen Filmen auch sagen:

Einen Ausweg aus seiner nichtssagenden Existenz sieht Groves in Norma Miller, einer Jugendfreundin, die zu kurzem Besuch kommt. Aber es ist schon zu spät für ihn. Sein Erfolg, die Gesellschaft und ihre Regeln, seine Familie und die bald schon erwachsenen Kinder verstellen ihm den Weg in die Freiheit. (Filmkritik).

Dde Fortsetzung dieser Kleinstadtfilme sind dann Written on the Wind und Imitation of Life, in dem die kleine Stadt zu grossen geworden ist, in dem die kleinen verdrängten Probleme zur Katastrophe werden. In Written on the Wind sind die Mittelstandsbürger endlich geworden, wonach sie immer strebten, zu Millionären. Mit Reichtum und Erfolg lässt sich aber das, was sie vorher unglücklich machte, auch nicht aus der Welt schaffen. Vorher haben sie die Liebe zugunsten der Karriere zurückgestellt, jedes Abweichen vom programmierten Alltag galt als Verrat am amerikanischen Erfolgsrezept. Jetzt aber, wo sie das Programm erfüllt haben, finden sie keinen Ausweg mehr zur Liebe: Jane Wyman in All That Heaven Allows darf nicht ausbrechen, Dorothy Malone in Written on the Wind kann nicht.

The Tarnished Angels ist Sirks drittletzter Film in Amerika Als er noch in Deutschland lebte, war William Faulkner, der Autor der Vorlage des Films, für ihn ein «Gigant», Vertreter einer «grossen Generation von Kritikern eines grossen Landes im Aufbruch». Die Geschichte spielt in den zwanziger Jahren, ihr Held ist Robert Shumann, ein Flieger, der nach dem Krieg, weil er ja schliesslich von etwas leben muss und weil er sich eigentlich nur im Flugzeug richtig wohl fühlt, Showflieger wurde. Er stürzt ab. Vor seinem letzten Flug gesteht es Laverne seine Liebe und verspricht ihr, seinen Beruf aufzugeben.

Sirk ist mit diesem Film noch einmal zurückgegangen zu jenem Amerika, nach dem er sich in Europa so sehr sehnte. The Tarnished Angels ist eine Erinnerung an seinen Traum Amerika. Und diese Erinnerung wird zu einem Gedicht über den Tod, über einen Kriegshelden, der kein Held mehr sein will und darum zum Verlierer wird. In der Redaktionsstube der «Lake City Star Tribüne» erzählt der Reporter Burke Devlin — mit «alkoholgeschwärtem Hirn und schmerzendem Herz» — von ihm: «Und als er jenen letzten Mast umkurvte, da war etwas mit ihm geschehen, an das er nicht mehr geglaubt hatte: er war wieder ein Mensch.»

Devlins Rede nützte auch nicht mehr viel. Das mörderische Rennen um die Wedemarken ging weiter. Es gab wieder Helden und wieder Verlierer. Von den zweiten jedoch wurde kaum gesprochen. Ihr Absturz war eine Sensation, eine Schlagzeile, die man rasch wieder vergass — mehr nicht.

Frank O’Hara:

Lana Turner ist zusammengebrochen!

Ich trottete so daher und plötzlich

fing es an zu regnen und zu schneien

und du sagtest es würde hageln

aber Hagel schlägt dir auf den Kopf

hart, also schneite und regnete es

tatsächlich und ich war so in Eile

dich zu treffen doch der Verkehr

benahm sich genauso wie der Himmel

und plötzlich sehe ich eine Schlagzeile

LANA TURNER IST ZUSAMMENGEBROCHEN!

es gibt keinen Schnee in Hollywood

es gibt keinen Regen in Kalifornien

ich bin auf einer Menge Parties gewesen

und hab mich völlig danebenbenommen

aber ich brach niemals wirklich zusammen

oh Lana Turner wir lieben dich steh auf

Douglas Sirk war knapp zwanzig Jahre lang in Amerika. Er war zu einer Zeit in Hollywood, als es dort alles andere als gemütlich war. Das harte Studiosystem, die Vorschriften von «Hays Office», die Beunruhigung, die das aufkommende Fernsehen auslöste und der militante Antikommunismus, der sich damals in Amerika breitmachte, haben die Arbeit dort — nicht nur für Sirk — erschwert. Sirk musste viel einstecken, musste über manche Enttäuschung hinwegkommen. Er hat sich von den bitteren Erfahrungen aber nicht überrumpeln lassen, er blieb ruhiger und geduldiger Beobachter bis zum letzten Film. Darum auch gehören einige seiner in Hollywood realisierten Filme zu den besten Dokumenten über das Amerika der fünfziger Jahre — über Amerika vor der Kuba-Krise, vor den Morden an John und Robert Kennedy und an Martin Luther King, vor der grossen Krise Hollywoods, vor Vietnam und den Aufständen der Jugendlichen, vor Richard Nixon und Watergate.

Literatur

75 AUSGEWÄHLTE BIBLIOGRAPHIE

(Einige Aufsätze sind in verschiedenen Zeitschriften und Dokumentationen erschienen. In der Bibliographie wird nur die erste Publikation angegeben.)

Jean-Luc Godard; Des larmes et de la vitesse; über A Time to Love and a Time to Die; Cahiers du Cinema, Nr. 94, April 1959.

Cahier du Cinéma, Nr. 189, April 1967; mit Beiträgen u. a. von: Jean-Louis Comolli; L’aveugle et le miroir. Serge Daney und Jean-Louis Noames; Entretien avec D. S.

Fernsehen + Film, Heft 2, Februar 1971; mit Beiträgen von:

Rainer Werner Fassbinder; Imitation of Life, Ober sechs Filme von D. S.

Wolfgang Limmer; Das Leid der gefallenen Götter, Ober die hermetische Welt des Melodramas.

Frieda Gräfe; Wie das Leben spielt, Der Film-Kongress in Toulouse: Die schönsten Melodramen der Welt: Filmkritik, Oktober 1971.

Jon Halliday; Sirk on Sirk (mit ausführlicher Filmographie); Secker und Warburg, London 1971.

Screen, Volume 12, Number 2, London Sommer 1971 (Herausgegeben von The Society for Education for Film and Television); mit Beiträgen u. a. von:

Jon Halliday; Notes on Sirk’s German Films.

Thomas Elsaesser j Documents on Sirk: with a Postscript.

Fred Camper; The American Period - The Films of D. S., und Ober The Tarnished Angels.

Paul Willemen; Distanciation and D. S.

Dave Grosz; The First Legion: Vision and perception in Sirk.

monogram, Nr. 4, London 1972; mit Beiträgen u. a. von:

Thomas Elsaesser; Tales of Sound and Fury (American Melodrama).

Oavd Morse; Every Articie on the Cinema ought to talk about Griffith (American Melodrama).

Peter Lloyd; Some Affairs to Remember (American Melodrama).

Jon Halliday; Ober All That Heaven Allows.

Positif, Nr. 137 und 142, April 1972 und September 1972; mit Beiträgen u. a. von:

Jean-Loup Bourget; Situation de Sirk (137), L’Apocalypse selon D. S. (142).

Eithne et Jean-Loup Bourget; Note sur Sirk et le théâtre (142).

Edinburgh Film Festival, Dokumentation zu einer Retrospektive Edinburgh 1972; mit Beiträgen u. a. von:

Tim Hunter; Über Summer Storm.

Fred Camper; Über A Time to Love and a Time to Die.

Mike Prokosh; Über Imitation of Life.

Jacques Lourcelles; Douglas Sirk; Matulu, Paris, Oktober, November, Weihnachten 1972.

Heinz-Gerd Rasner und Reinhard Wulf; Begegnung mit D. 3. Filmkritik, November 1973.

Wolfgang Limmer; Das Happy-End - ein Notausgang, Gespräch mit D. S.; Süddeutsche Zeitung, Nr. 266, 17./18. November 1973.

Thomas Brandlmeier; «Mutter braucht kein Wasser, sie braucht Geld», Eine Analyse des Werks von D. S.; Film-Korrespondenz Nr. 2/3/4, Februar, März, April 1974.

The University of Connecticut Film Society; D. S., The Complete American Period, Dokumentation zu einer Retrospektive, September-Dezember 1974; mit Beiträgen von:

Andrew Sarris; D. S. (Vergl. hierzu auch: Andrew Sarris; The American Cinema, Directors and Directions 1929-1968 D. S., Seite 109; New York 1968).

Jeanine Basinger; How to deal with Sirk scoffers.

Roger McNiven; Recurrent imagery in Sirk’s Melodramas.

Dazu zu jedem amerikanischen Film kurze Besprechungen.

Martin Schaub; «Geben Sie acht, Sirk, ich besitze Sie», Die denkwürdige Wiederentdeckung des Hollywood-Regisseurs D. S.; Tages Anzeiger-Magazin, Nr. 12, 23. März 1974.

Remy Pithon; D. S. et le Cinema Suisse un apport de D. S. au Cinema Suisse: Accord Final; Travelling, Nr. 49, Frühling 1977.

Brigitte Jeremias; Das Gespenst der Vergangenheit bannen, D. S. - Die Geschichte einer Emigration; Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nummer 275, 26. November 1977.

Bright Lights, Volume 2, Number 2, Los Angeles 1977; mit Beiträgen u. a. von:

Jean-Loup Bourget; Sirk and the Critics.

Robert E. Smith; Love Affairs that Always Fade.

Jeanine Baisinger; The Lure of the Gilded Cage.

Stephen Handzo; Intimations of Lifelessness: Sirk’s Ironie Tear-jerker.

Jean-Loup Bourget; God is Dead, or Through a Giass Darkly.

Movie, Nr. 25, London Winter 1977/78; mit Beiträgen von:

Richard Dyer; Lana, Four Films of Lana Turner.

Laura Mulvey; Notes on Sirk and Melodrama.

Bernhard Giger
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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