CORINNE SCHELBERT

GEWÖHNLICHE AUSSENSEITER — KLEINE FRIEREN AUCH IM SOMMER VON PETER VON GUNTEN

CH-FENSTER

Peter von Gunten hat nach eigenen Aussagen lange und gründlich für seinen Film, der sich mit jugendlichen Aussenseitern befasst, recherchiert. Er hat nicht eine wahre Geschichte über ein paar Jugendliche, die zunehmend in Isolation geraten und sich in ein Netz von Drogenabhängigkeit und Kriminalität verstricken, quasi-dokumentarisch in eine Filmstory umgewandelt, sondern sein Wissen und seine Erfahrungen in einen Spielfilm mit erfunden Figuren, die jedoch typisch für eine gewisse Randgruppe sein sollen, eingebracht. Er hat versucht, die Lebenssituation einiger Jugendlicher so einfühlsam und wirklichkeitsnah zu zeigen, dass sich die Frage nach Schuld und Versagen ihrer Umwelt von selbst stellt. Ohne direkt jemanden anzuklagen wird deutlich, dass von Guntens Einstellung zu dieser Randgruppe eine wohlwollende, diejenige zur Gesellschaft, die sie an den Rand abdrängt, eine kritische ist. Es wird die Geschichte von vier Jugendlichen, zwei Buben und zwei Mädchen, erzählt, die aus verschiedenen Motiven zusammenkommen, später zusammenbleiben müssen und schliesslich zusammen untergehen. Max ist ein Fixer und darum vor allem ein Freund von Gérard, der ihm den Stoff beschafft. Seine Freundin Juliette, die als einzige arbeitet, bleibt in der Gruppe, weil sie Max liebt und aus dem Milieu herausholen möchte. Patricia ist aus dem Gefängnis, wo sie wegen eines kleinen Raubüberfalls einsass, ausgerissen und findet bei den Dreien Unterschlupf. Da das von Juliette verdiente Geld nicht ausreicht, beschaffen sich die Buben Geld durch Einbrüche, das sie dann für Autos und Ferien rasch wieder ausgeben. Gérard überredet den eher willenlosen Max den ganz grossen «Deal» zu machen. Sie kaufen mit teilweise geborgtem Geld eine grosse Menge Heroin, das sich dann als Fälschung erweist. Um die Schulden zurückzubezahlen, begehen sie erneut einen Einbruch und werden bald darauf von der Polizei gefasst. Patricia kann flüchten, Max und Gérard kommen ins Gefängnis, Juliette wird, da sie schwanger ist, aus der Untersuchungshaft entlassen. Hier hört der Film auf. Dass die Zukunft für alle Vier schlecht aussieht, muss nicht gesagt werden.

Es ist von Guntens Missgeschick, dass sein Film zu einem Zeitpunkt kommt, in welchem das Problem Drogen und Jugendliche so komplex geworden ist, die gegenseitigen Missverständnisse zwischen Establishment und Aussenseitern so angewachsen sind, ja sogar die Begriffsstruktur für die Zuordnung einzelner Gruppen und Phänomene sich in solch heilloser Verwirrung befindet, dass eine wohlwollende Haltung gegenüber den Betroffenen zwangsläufig kontraproduktiv werden muss. Denn diese Haltung wird von einer breiten Schicht der Gesellschaft geteilt, die, solange man nicht zu spezifisch wird, keine Mühe hat, in vagen Begriffen die Schuld am gesellschaftlichen Scheitern mancher Jugendlicher auf sich zu nehmen.

Es ist eine Gesellschaft, in der einer mühelos das Wort «Gesellschaft» mit kritischem Unterton in den Mund nehmen kann (wobei er die eigene Person immer ausnimmt), ohne sich dabei etwas zu vergeben. Der Filmemacher plädiert für ein Verständnis, das er ohnehin bekommt, wenn man, wie er es getan hat, keine direkten Anklagen erhebt, die Handlung sozial in einen luftleeren Raum stellt, in welchem die Autorität in Form von Arbeitgeber, Polizei, etc. nur als Schattengestalten figuriert und die Geschichte, in der die Personen niemals gefährlich zu Fleisch und Blut werden, gleichsam als Lehrstück aufzieht. Seine Art der Vermittlung — vier «typische» Figuren bewegen sich durch einen Film und geraten in für sie «typische» Situationen — ermöglicht eine Distanzierung, die man beim heutigen Stand der Dinge auf keinen Fall hätte zulassen sollen. Eine wohlwollende Haltung ist letztlich eine unverbindliche Haltung.

Die Methode, ein so weitgreifendes gesellschaftliches Phänomen in Einzelschicksale aufzuschlüsseln, die die Probleme nur streifen aber nicht zur Eskalation bringen, ist, so scheint mir, nur noch als Einstieg zu einer Problemdiskussion (so wie dies beispielsweise beim Fernsehen in der Sendung Telearena geschieht) vertretbar. Für einen Film, der in sich etwas zum Ausdruck, zu einer Aussage bringen soll, eignet sie sich nicht. Da es Peter von Gunten nicht gelungen ist, seinen Figuren Leben einzuhauchen, bleiben sie Stereotype, die weder berühren noch anklagen.

Von Gunten zeigt vier Jugendlichen, deren vordringlichstes Problem die Kontaktarmut, sowohl gegenüber der Aussenwelt wie auch untereinander ist, eine Kontaktarmut, die jedoch weder aus ihrer sparsam angetönten Biographie noch aus ihrem Charakter zwingend wird. Wir müssen die Tatsache, dass sie von der Gesellschaft ausgeschlossen sind, einfach hinnehmen. Sie leben zusammen, gehen zusammen auf Reisen, sie haben vage Vorstellungen von Beruf und Zukunft, sie schlafen zusammen (Juliette und Max scheinen sich sogar sehr gern zu haben), sie gehen in eine Bar, wo das Drogenmilieu verkehrt, sie «haschen» vielleicht sogar ein bisschen, kurz, sie tun nichts, was nicht Tausende von Jugendliche ihres Alters auch tun, mit dem Unterschied nur, dass sie es, von wenigen Augenblicken abgesehen, ausgesprochen freudlos tun. In der zweiten Hälfte des Films wird dann das Drogenproblem hineingeworfen. Man erfährt, dass Max ein Fixer ist, obgleich nichts in seinem vorgängigen Verhalten darauf schliessen Hess. Und sobald dies ausgesprochen ist, macht er auch ein paar Gesten, die den Fixer skizzieren sollen. Die Sucht bleibt in diesem Film, obwohl sie doch das treibende Moment für die sich bald überstürzende Handlung sein sollte, Episode. Max wirkt wie ein Alibi-Süchtiger, der dem Film den richtigen Touch von Aktualität geben soll. Genese, Pathologie und Eskalation der Sucht wird auch in ihren rudimentärsten Erscheinungen nicht einmal angedeutet und bleibt ein unerklärtes Phänomen. Auch Maxens Abhängigkeit von Gérard, der gleichzeitig Freund und Stofflieferant ist, bekommt nie die Dimension, die sie zweifellos im Geschehen haben müsste. Am Ende verlangt von Gunten von uns zu glauben, dass Gérard, der immerhin schon Handelserfahrung hat, für zehntausend Franken Heroin kauft, ohne die Ware zu überprüfen und erst zuhause (!) merkt, dass man ihm Waschpulver angehängt hat. Ein Dealer, der nicht einmal an der Ware riecht, geschweige denn probiert, ist eine Ungenauigkeit, die zusammen mit einigen anderen, von Gunten in den Verdacht bringt, dass er nicht genau weiss, wovon er spricht, trotz langer Recherchen.

Überdies hat von Gunten bedenkenlos das Problem von kontaktgestörten Jugendlichen mit dem von Drogenbenutzern (auch von weichen Drogen) zusammengeworfen, so dass der Eindruck entstehen muss, Leute, die sich im Drogenmilieu bewegen, hätten mehr als andere Kontaktschwierigkeiten. Eine Implikation, die zu einer Zeit, in der die Gesellschaft eine heuchlerisch verständnisvolle Position gegenüber Drogenabhängigen einnimmt, ohne gleichzeitig die Gesetze, die sie zu Aussenseitern und letztlich Kriminellen stempelt, in Frage zu stellen, eigentlich nicht gemacht werden dürfte. Die Mehrheit der Jugendlichen wird ja zu Aussenseitern, weil sie Drogen nehmen, und die wenigsten nehmen Drogen, weil sie Aussenseiter der Gesellschaft sind. Wenn man, wie von Gunten, letzteres zeigen will, dann müsste man diesem Aussenseitertum auf den Grund gehen, müsste aufzeigen, was denn diese Jugendlichen, die im Film ja ganz normal wirken, zu Aussenseitern, Isolierten der Gesellschaft gemacht hat. Da die Gesellschaft, mit der die Protagonisten in Konflikt geraten sind, nie als Widersacher in Erscheinung tritt, bleiben auch die Ursprünge des Konflikts ungeklärt.

Von Gunten hat einen Spielfilm gemacht, ohne, so scheint es, dessen Regeln immer ganz zu beherrschen. Viel zu lange, unmotivierte Autofahrten sollen ein Gefühl von Action, von Spannung erzeugen, das nicht da ist. Die vier Schauspieler verfallen öfters in den Hörspiel-Ton, der die «Szene» in ein künstliches Medienklima rückt. Hört man einmal ein gefühltes Wort — wenn Max z. B. sagt: «Aber das liegt doch gar nicht drin!», nachdem er erfahren hat, dass Juliette schwanger ist — atmet man auf, weil man hier eine Ahnung der tragisch-komischen Missverständnisse, der realen Verlorenheit einer jungen Generation bekommt. Die Musik der Rumpelstilz mit ihrem gefälligen, unoriginellen Sound gibt dem Film noch eine weitere Dimension der Unverbindlichkeit. Der Film hat, im eigentlichen wie im übertragenen Sinn, keine Tiefenschärfe, er bleibt, in seinem vagen Wohlwollen, ein oberflächlicher Tour d’Horizon über das Drogen- und Aussenseiterproblem.

Kleine frieren auch im Sommer, Schweiz 1978, 16 mm, aufgeblasen auf 35 mm, Farbe, 100 Minuten. P: CINOV Bern; R: Peter von Gunten; B: Peter von Gunten, Herbet Meier; K: Fritz E. Maeder; T: Hans Künzi; L: Max Isier; D: Verena Reichhardt (Juliette), Lorenz Hugener (Max), Esther Christinat (Patricia), Heinz Sommer (Gérard), Silvia Jost, Hans-Jürg Iseli, Roger Jendly, Alex Freihart, Mathias Gnadinger, Janet Haufler, Monika Koch, Guido von Salis, Babette Wiesmann, u. a. Uraufführung: April 1978.

Corinne Schelbert
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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