MARTIN SCHAUB

ITALIENISCHE ABENTEUER

CH-FENSTER

Vorbemerkung: Wir verstehen uns nicht als «Trendsetter», möchten nur möglichst aktuell sein. So wollten wir auch Filme sehen, die zwar fertig, aber noch nicht öffentlich sind. Gaudenz Meili und sein Verleiher wünschten nicht, dass schon vor dem Kinostart von «Kneuss» geschrieben werde; sie scheinen Kritik zu fürchten. Peter Ammann hingegen nimmt uns für das, was wir sind: an der Sache interessierte Kommentatoren, nicht Richter.

Mitte Mai sind zwei Spielfilmerstlinge von Schweizer Autoren fertig geworden, die wenig miteinander zu schaffen haben. Und doch, scheint mir, kann man Bernhard Webers Hotel Locarno und Peter Ammanns L’Affaire suisse auch im Zusammenhang sehen, als Versuche, mit den Italienern zusammenzuarbeiten. Bernhard Weber hat einfach seinen ersten Film in Rom gemacht ohne Sorge um die Nationalität seines Produkts. L’Affaire suisse hingegen ist eine erste regelrechte schweizerisch-italienische Koproduktion (50/50 Prozent) mit all ihren ökonomischen Spielregeln.

Hält man Hotel Locarno und L’Affaire suisse einmal gegen Filme, die in der Schweiz mit einheimischen Schauspielern, Technikern und Labors gemacht werden, wird man sich des hohen Standards der Filmarbeit in der Schweiz bewusst, auch etwa bei Peter von Guntens Kleine frieren auch im Sommer, dessen Schwächen auf einer ganz anderen Ebene liegen, sagen wir einmal auf der Ebene der Story.

Gerade da vermögen — auf verschiedene Weise — Weber und Ammann eher zu überzeugen.

Eine hübsche Geschichte, die von Bernhard Weber, klein, überschaubar und zur Phantasie in der Inszenierung einladend: Da kommt einer nach Rom, bezieht ein Hotel und lernt Besitzer und Benutzer langsam kennen; in jedem Zimmer ein «Schicksal» oder eine neue kleine Geschichte. Später kreuzt derselbe junge Mann wieder auf, dieses Mal als Reiseleiter mit einer Gruppe perfekter Schweizer Spiesser im Schlepptau. Der harte Schweizer Franken verdrängt die weiche (und oft nicht vorhandene) italienische Lira; der Nord-Süd-Konflikt spielt da sogar noch herein.

Peter Ammanns Geschichte ist in ihrer Grundanlage nicht neu. Ein Kriminalinspektor riecht Unrat in einer klassierten Affäre und stellt auf einen undefinierbaren Verdacht hin Nachforschungen an. Allein — denn seine Vorgesetzten machen nicht mit — steht er plötzlich vor einer ganzen Verschwörung, der er nicht Herr werden kann. Schlimmer noch: Weil er «an den Schlaf der Welt gerührt hat», bringt er das Unheil erst recht in Gang. Die Geschichte Ammans ist nicht nur bewährt, sie ist auch aktuell. Es geht um existierende Wirtschaftskriminalität, um italienisch-schweizerische Finanzmanipulatonen, um schwache Strohmänner und unantastbare Hintermänner. Die Ferienwohnungen, die da in den Walliser Alpen gebaut werden, sind die Materialisierung legalen Betrugs.

Bernhard Weber hat seine hübsche kleine Geschichte nicht allein verpatzt. Irgendwie scheint er versucht zu haben, seine nur normale Unerfahrenheit mit dem Beizug bereits repartierter Freunde und Bekannter zu überbrücken. Da operierte er wie ein kleinmütiger Provinzler, und er fiel auf jene Szene herein, die doch ganz offensichtlich die schwächste ist im italienischen Film, auf eine gewisse 16-mm-Szene Roms, die es seit zehn Jahren gibt und kaum Fortschritte macht. Wenn zu einer rudimentären Schauspielerführung und zum offensichtlichen Mangel an Talent vieler Darsteller (vor allem auch des Hauptdarstellers) noch eine so prekäre Filmtechnik kommt, dann ist eine Sache entschieden. Im Schnellgang hat der 26jährige Bernhard Weber ein Filmautor werden wollen. Anstatt sich jahrelang in der Schweiz abzuplacken, hat er den leichten Erfolg gesucht in einem Land, in dem man Filme macht. Die Rechnung ist nicht aufgegangen. Was allerdings nicht viel schadet: Ein wenig scheint ja die hübsche Geschichte noch durch; Weber ist jung, niemand hat von ihm etwas Aussergewöhnliches erwartet; dass er Talent hat, ist möglich; und er hat sein «eigenes» Geld verspielt. Lauter Privatsachen.

Weil Peter Ammann keine Privatsachen verhandelt, sondern öffentliche, wiegen die Schwächen von L’Affaire suisse schwerer, ja sie sind ärgerlich.

Nach jahrelanger vergeblicher Geldsuche für einen aufwendigen Dokumentarfilm hatte Ammann die Flucht nach vorn angetreten; für einen Spielfilm mit einer starken Geschichte sollte man doch die Mittel finden. Mitte 1977 stand Peter Ammann mit einem Buch und mit schätzungsweise 600 000 Franken «kulturellem» Geld da und suchte die andere Hälfte. Er hat sie nicht gefunden in der Schweiz, aber in Italien. Welcher Filmemacher, der schon Jahre darauf brennt, endlich weiterarbeiten zu können, wäre da nicht darauf eingegangen?

Peter Ammann hat sich notgedrungen auf jenen leeren, lieblosen und arroganten Professionalismus der italienischen Filmindustrie eingelassen, mit dem höchstens die ältestgedienten italienischen Regieroutiniers zu Rande kommen, auf jene desinteressierten Kameraleute, Beleuchter, Ausstatter, Synchronspezialisten usw., die es zum Glück in der schweizerischen Filmlandschaft (noch) nicht gibt. Die machen einen Film ganz automatisch, wenn man sie nicht mit Kraft aus ihren Automatismen herausdrängt. Und welcher Regisseur eines Erstlings hätte diese Kraft? Beim Betrachten von L’Affaire suisse wächst der Verdacht von Szene zu Szene, da habe ein Autor sein wichtiges und gewichtiges Buch einer Bande von eiskalten Profis überlassen, die «wissen, wie man’s macht». Nur vereinzelte Passagen lassen vermuten, dass sich der Autor des Buches auch einen Film ganz genau vorgestellt hat. Ammann scheint des Öfteren mehr oder weniger hilflos zugeschaut zu haben, was ihm da die Routiniers hinpfuschten. Die Ausstatterin von L’Affaire suisse beispielsweise hätte ich am ersten Tag entlassen. Aber: Konnte Ammann überhaupt jemanden heimschicken? Ich zweifle sehr daran.

Mir scheint L’Affaire suisse auf der Ebene der Fabrikation eher eine «affaire italienne» zu sein. Peter Ammann hätte für seinen ersten Spielfilm weder Jean Sorel noch Brigitte Fossey oder Franco Fabrizi gebraucht, sondern viel, viel Zeit und Schauspieler mit viel Zeit, fast unbeschränktes Rohmaterial, drei Wochen Synchronstudio usf. Denn er scheint nicht der Filmautor zu sein, der sich rasch für das Beste entscheiden kann. Die konventionellen Füller in diesem Film — Flaschen und Gläser z. B. — sprechen da eine deutliche Sprache.

Die einzige Chance dieses Firns besteht in der Stärke, dem politischen Gewicht der Geschichte, die den Zuschauer «grosszügig» machen könnte gegenüber dem schwächlichen und unschönen filmischen Körper Man täusche sich aber nicht: das Publikum ist eher gewohnt an routinierte Stillosigkeit, nicht an unbeholfene. Routine verkauft sich — leider — noch immer besser.

Hotel Locarno. P: Locarno Film, Bernhard Weber; R und B; B. Weber; K: Massimo Di Venanzo; Musik: Renato Zero; Schnitt: Enzo Meniconi; D: Robert Barak, Milena Vukotic, Saverio Marconi, Ofella Meyer, West Buchanam u.v.a.m. 16/35 mm, Farbe, 89 Minuten, Uraufführung: Mai 1978, Marone du Film, Cannes.

L’affaire suisse. P: Peter Ammann und Saba Cinematografica, Bruno Paolinelli; B: F. de Agostini, John L. Huxley, B. Bengloan, Ammann; R: Peter Ammann; Kamera: Aldo Di Marcantonio; D: Jean Sorel, Brigitte Fossey, Franco Fabrizi, Guido Alberti, Silvano Tranquilli, Michel Viala u.v.a.m. 35 mm, Farbe, 100 Minuten.

Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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