MATIAS ANTOLIN

DER BESTE SPANISCHE FILM ALLER ZEITEN

ESSAY

Die aktuelle autoritäre Regierung (und eine solche haben wir; früher mit Franco war es eine Diktatur, heute mit seinen «Erben» ist es eine Vor-Vor-Demokratie) hält die Zügel der Kultur fest in der Hand, so dass diese nur die Ideologie der herrschenden Minderheit wiederspiegelt. Trotzdem ist es offensichtlich, dass heute ein frischer Wind weht und dass junge Filmemacher mit neuer Kraft auftauchen und optimistische Zukunftsperspektiven formulieren. Dieser Film will, seit die franquistische Gicht verschwunden ist, den demokratischen Tagesaufbruch in Angriff nehmen. Er nimmt nicht mehr Zuflucht bei der Ästhetik der Unterdrückung, um eine unterdrückte Gesellschaft widerzuspiegeln: Bis jetzt orientierte sich nämlich der geistige Massstab der Produzenten an äusserst einfachen Schemen, ohne eigene Ethik und Ästhetik. Typisierte und abgenutzte Modelle wurden reproduziert bis zum Überdruss, und es entstanden Filme, die Sex, Politik und Gewalt wahllos mischten. Ob platte Lustspiele oder ungehobelte Pseudopornos, man drehte sich immer um das Gespenst des Bürgerkriegs. Die ethisch-politisch-existentielle Komplexität des heutigen Menschen wurde mit seiltänzerischer Gewandtheit nur am Rande berührt. Ein weiteres Problem ist, dass die franquistische Zensur uns eine andere fast vergessen Hess: die ökonomische. Diese hat heute eine ebenso grosse Wirkung, wie früher die politische und ideologische Zensur. Um Filme zu machen, braucht es Kapital, dieses jedoch wendet sich schwerlich gegen seine eigenen Interessen. Das Kapital ist die Macht, und es hat die kulturellen Aktivitäten immer als verdächtig betrachtet. Diese Art von ökonomischer Zensur wird solange bestehen, wie wir uns in einer kapitalistischen Gesellschaftsstruktur befinden.

Zahlreiche Missstände des Filmwesens haben also ihre Ursachen im Verhalten der Produzenten, doch diese geben den Ball weiter an die Verwaltung — und dies nicht ohne Grund. Eine Unterstützung des Films ist notwendig, ja dringend, aber nicht allein im Rahmen von ‘el capital del cine’, sondern finden Film als kulturelle Tätigkeit. Es ist eine Filmpolitik nötig, die sich sowohl an der industriellen wie kulturellen Komponente des Filmschaffens orientiert. Doch die Verwaltung, resp. das Kulturministerium, hat keine Kriterien für eine längerfristige Kulturpolitik, die jetzt gerade, zurzeit, da der spanische Film eine der schwierigsten und wichtigsten Zeiten durchläuft, unbedingt notwendig wäre. Im Gegenteil: Das Ministerium glänzt mit Unterlassungssünden und ergreift Massnahmen, die einer freien Produktion zuwiderlaufen.

Zwei solche einschneidenden Massnahmen, die durch ein königliches Dekret vom 11. November 1977 erlassen wurden, seien hier erwähnt: Erstens wurden sämtliche Beschränkungen der Einfuhrbestimmungen für ausländische Filme aufgehoben. So überfluten heute die Multis den Markt. Zweitens führte man die sog. ‘cuota’ ein, d.h. in der Programmzusammenstellung der Kinos muss auf zwei importierte Filme ein spanischer berücksichtigt werden. Die ‘cuota’ ist eine Massnahme, die es den schlauen Filmhändlern ermöglicht, tausend Tricks einzubauen. Der «entkapitalisierte» spanische Film ist praktisch zum Stillstand gekommen, ohne Kredit und Vertrauen. Und alle erwarten, dass die Situation sich irgendwie ändert...

Filmverleih und Kinowirtschaft

Die Gruppe der Kinobesitzer ist an der Front des Filmhandels ausschlaggebend, mehr noch als die Verleiher. Ihr unmittelbares Ziel ist es, mit allen Mitteln zu verhindern, dass sie die Kontrolle über die Kasse verlieren. Bemerkenswert ist, dass 1 835 Kinos im Zeitraum von sechs Jahren ihre Pforten geschlossen haben. Jedes Jahr verschwinden 300 ländliche Kinos. Das andere Problem ist die ‘cuota’, gegen die sich die Kinobesitzer vehement wehren. Der Präsident des Kinobesitzervereins sagt:

Sie wollen jedem Kino 120 Tage spanischen Film aufdrängen. Was wir erwidern, ist, dass ohne Kontingentierung uns niemand verpflichten kann, diese Quote zu erfüllen. Wir haben Studien gemacht, und diese ergeben, dass unsere Filmindustrie jährlich 175 Filme produzieren müsste, um diesen Anforderungen zu genügen. Dies ist verrückt!

Ein anderes riesiges Problem ergibt sich daraus, dass die Kinobesitzer versuchen, die «Kassenkontrolle» zu bremsen. Wenn die Vermutung stimmt, dass kein Kinobesitzer seine Kasse und seine Steuererklärung verfälscht, versteht man die Antipathie gegen ein vernünftiges Kontrollsystem nicht. Kommt dazu, dass der grosse Teil der Kinobesitzer die ‘cuota’ nicht erfüllt. Damit bestrafen sie sich selbst, aber viele ziehen es vor, Geldstrafen zu zahlen, anstatt dem Gesetz Genüge zu tun, denn der Gewinn ist grösser als die mögliche Geldstrafe. Alles ist macchiavellistisch. Um für Abhilfe zu sorgen, müssen zunächst solide gesetzliche Grundlagen für alle im Film involvierten Berufsgruppen gefunden werden. Diese Aufgabe ist ziemlich komplex, und sie kann nur von den Betroffenen seihst erarbeitet werden, und niemals von einer Verwaltung, die von Film und Kino nichts versteht. Denn am heutigen Durcheinander ist die staatliche Verwaltung nicht unschuldig, die durch verschiedene Verfügungen und Gesetze das fremde Kapital unterstützt, zum Schaden der einheimischen Industrie: Produktion, Verleih und Kinoketten werden durch Multis kontrolliert.

Die Gesetzgebung

Das Gesetzesdekret über die Abschaffung der Zensur ist die Folge einer gewissen Freiheit des formalen Ausdrucks. Ich glaube, dass es wirklich wichtig ist, das erreicht zu haben. Nun gibt es aber trotz der formellen Aufhebung der Zensur noch immer Filme, die keinen Zutritt zu unseren Leinwänden haben: In der «Internationalen Woche des Films» in Barcelona im Oktober dieses Jahres wurde durch einen Untersuchungsrichter Pasolinis Salò konfisziert.

Die grosse Crux aller Gesetze oder Pseudogesetze des spanischen Films ist, dass sie von zufällig ausgesuchten Leuten aufgesetzt worden sind, die dem Berufsbereich Film fremd und deswegen absolut keine gültigen Gesprächspartner sind. So ist die Basis falsch und der Zement schwach, und kein Gesetzesdekret hat je überzeugt. Die endlose Litanei von Dekreten, Gegendekreten, Reglementen etc. ist schuld, dass der spanische Film sich steuerlos vorwärtsbewegte. Und nie erschien das angekündigte, erwünschte, erflehte, erbettelte Filmgesetz, das alles neu regeln sollte. Endlich hatte der Tod des Diktators den Horizont etwas erhellt. Doch dann hat die Verwaltung einmal mehr hinter dem Rücken der Betroffenen einen Gesetzesentwurf erarbeitet, der jedoch noch nicht in Kraft getreten ist, und der heftigen Reaktionen und Diskussionen auslöste. Momentan bildet sich der «1. Demokratische Kongress des spanischen Films», der Anfang nächstes Jahr alle fortschrittlichen Kräfte in Madrid vereinigen wird, unter anderem mit dem Zweck, dieses neue Gesetz zu verhindern. Dieser Kongress trägt in sich den Samen einer Hoffnung, jener nämlich, dass unser Film sich von der schädlichen Politik erholen kann, die ihn in diesem Jahr (1978) beinahe zur grössten Katastrophe seiner Geschichte gebracht hätte. Und dies ausgerechnet in einer Zeit grosser künstlerischer Erfolge auf den internationalen Festivals!

Die Kritik

Spanien vereint mit seiner kulturellen Rachitis einen latenten «Analphafilmismus». Und die Kritiker, die sich befähigt fühlen, Zertifikate über gutes oder schlechtes Benehmen auszustellen, scheinen diesen Zustand der offensichtlich «allgemeinen Unbildung» nicht zu kennen. Sie vergessen, dass es ihre Aufgabe ist, zu informieren ohne zu verbilden. Zum andern schreiben sie für Leute, die Bilder nicht lesen können. Wir leben im Zeitalter des Bildes, aber nur wenige sind befähigt, Sinn und Bedeutung der Bilder, die sie täglich wahrnehmen, zu bewerten. Es drängt sich auf, dass die Unterrichtssysteme von frühem Alter an die Kenntnis von speziellen Begriffen und Ideen einführen, damit der Schüler fähig wird, «in Bildern zu lesen». Das würde ihn weniger wehrlos machen gegenüber der Invasion der audiovisuellen Massenmedien.

Der Kritiker und Regisseur Victor Erice (El espiritu de la colmena) tritt für die Notwendigkeit, Verantwortlichkeit und ästhetische Bedeutung einer nationalen Kritik ein. Er greift aber eine Kritik an, die geurteilt hat, ohne die Filme in ihren realen Zusammenhang zu stellen. Er beklagt sich über die strukturelle Unbeweglichkeit einer Gesellschaft, die zwar einer Filmtradition entbehrt, aber eine mit ruhmvoller Gelehrsamkeit verkleidete Kritik besitzt. Es ist eine Kritik ohne nationalen Gärstoff, eine Kritik, die mit ihrer latenten Loslösung von der sie umgebenden Wirklichkeit unfruchtbare Charakterzüge annimmt.

Man hat uns einen Film und eine Kritik verboten, die uns erlaubt hätten, den Widerschein unserer Realität, unserer Eigentümlichkeit, unserer Überempfindlichkeit und unserer Umgebung zu betrachten. Wir leben in einem Staat, der die Entwicklung der eigenen Kultur nicht förderte, wir sind ein Anhängsel fremder Kulturen. All das hat zur Verzerrung der kulturellen Physiognomie dieses Landes beigetragen. Man hat das Nebensächliche gefördert und das Wichtige vergessen.

Matias Antolin, Redaktor an der in Madrid erscheinenden Filmmonatszeitschrift «Cinema 2002»

Der Aufsatz, der von Anna Speich übersetzt und von der Redaktion überarbeitet wurde, erscheint hier gekürzt.

Matias Antolin
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(Stand: 2020)
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