JÖRG HUBER

DER MYTHOS DER FREIHEIT — HANS-ULRICH SCHLUMPFS KLEINE FREIHEIT

CH-FENSTER

Glutrot schlagen die Flammen in den düstern Himmel über den Herdern. Schaufelbagger ebnen den Boden aus. Ein älterer Mann siebt einen letzten Rest fruchtbarer Erde in einen Kübel und zieht mit seinem Handkarren ab, einsam, schleppenden Schrittes. 150 Schrebergärten wurden dem Erdboden gleichgemacht, um Platz zu schaffen für einen Engros-Markt.

«Wir haben unsere Heimat verloren», klagt ein altes Ehepaar das 25 Jahre lang in den Herdern seine Kleine Freiheit genoss. Die Maschinerie der Wirtschaftsmächte und des Staatsapparates rollte über die Menschen hinweg. Die Vereinsspitzen nahmen ihre Aufgabe als Interessevertreter nicht wahr, und die Volksabstimmung ging in der üblichen Lautlosigkeit und politischen Abstinenz der scheinbar nicht betroffenen Öffentlichkeit über die Bühne. Mit einer epischen Bildfolge von pathetischer Kraft schildert Hans-Ulrich Schlumpf die Tragödie in den Herdern bei Zürich. 150 bunte, individuell gestaltete Häuschen standen da, von wildem Buschwerk und reicher Pflanzenwelt umrankt, als Ausdruck ursprünglicher, persönlicher Kreativität unzähliger Menschen, als Refugium in einer kaputten Welt, als ausgegrenztes und zerbrechliches Idyll aber auch, als Ort der politischen Apathie und rückwärtsgewandter Abkehr.

Auf die Ambivalenz dieses Horts des Glücks richtet Schlumpf sein Kameraauge — seine Kritik trifft aber nicht den Mythos der menschlichen Freiheit, sondern die Gesellschaft, die diesen Mythos zur Illusion macht. Was die Gesellschaft am Rande ausstösst, als ineffizient und unbrauchbar, wird Humus für das Wachstum einer neuen Realität. Indem Schlumpf das Versprechen aufnimmt, das in diesen Randzonen begraben liegt, trifft er die Gesellschaft voll ins Zentrum. Die aus den Herdern Vertriebenen ergreifen die Gelegenheit, die Schlumpf ihnen gibt, und stellen ihre Situation dar. Der Exodus aus dem Paradies macht klar, dass sie nicht nur Helden sind und tragische Opfer, sondern auch resignierte Flüchtlinge, in gewisser Hinsicht auch Schuldige.

Die Verantwortung ist heute nur vordergründig zu personalisieren. Schlumpf doziert nicht lehrhaft Weisheiten des Darüber- oder Aussenstehenden. Er löst auch nicht gesellschaftliche Widersprüche in Schwarz-Weiss-Gegensätze auf, um die Welt leichter erklärbar zu machen. Er bietet keine Identifikationsschablonen an, um die Emotionen, die angestaute Wut abzuladen. Vielmehr zeichnet er mit tastender Sensibilität den gesellschaftlichen Prozess nach, der sich in unserem Alltag abspielt, indem er einfach mit der Kamera dabei ist. Durch diese Präsenz des Mediums Film wird die Zerstörung eines Mythos, der Freizeit als Freiheit, zum historischen Ereignis. Die Filmchronik löst das Geschehen aus dem Kontinuum unbewusster Zeit und macht es zitierbar, d.h. begreifbar. Schlumpf schreibt zum Unterschied von Spiel und Dokumentarfilm: «Die besten Spielfilme nutzen die Mythen, um menschliche Wirklichkeit zu dokumentieren oder machen die Mythen selbst zum Gegenstand ihrer Reflexion. Ein schwieriger Weg: Die Unterscheidung zwischen Dokumentarfilm und Spielfilm wird dann sinnlos. Filme sind Filme.» In der Herdern-Sequenz dreht Schlumpf einen Film in diesem Sinn. Die Menschen erholen sich, basteln, pflegen den Garten, bemalen ihre Hütten. Sie entfalten eine kreative Kraft, um sich gleichzeitig darin abzuschirmen. Die fröhliche 1. August-Feier weist überdeutlich auf die widersprüchliche Qualität der Situation. Die Kamerafahrt in die Freiheit der Familiengarten-Besitzer wird zur ethnologischen Skizze kleinbürgerlichen Bewusstseins. Deshalb muss Schlumpf weder wortreich die Geschichte der Gartenkultur, noch die Funktion der Liegenschaftsverwaltung ausbreiten. Die Welt «von draussen» bricht folgerichtig — was nicht unabwendbar heisst — in diesen heilen Bezirk ein: Die Funktion der gesellschaftlichen Machtunterschiede wird deutlich, indem Schrumpf mit der Kamera das Leben in den Herdern dokumentiert: In den Gesten der Vertriebenen artikuliert sich ein Pathos des Leidens an der Wirklichkeit, wie es, um eine Trivialformulierung zu gebrauchen, nur das Leben ausdrückt.

Der Film hiess zuerst Hobby. Das Thema blieb die der Freizeitbeschäftigung innewohnende Dialektik von Freiheit und Regression. Der Grundmelodie der Herdernsequenz werden nun als ergänzende Parallelen und Kontrapunkte drei Einzel- bezw. Doppelporträts beigefügt. Franz Sailer (geb. 1912) ist Brunnenmeister der Stadt Uster, gelernter Monteur und Spezialist auf elektronische Steuerungen. In seiner Freizeit baut er Modell-Dampflokomotiven. Seine Devise: «Es ist für mich nützlicher, ein Hobby zu betreiben, als zu politisieren». Und Alex Bruggmann (geb. 1935), Hilfsarbeiter und Hobby-Schnitzer, pflichtet ihm bei: «Mit der Politik habe ich nichts zu tun. Das überlass ich den andern». Die Gebrüder Giezendanner (geb. 1941/46), Werkzeugmechaniker, widmen ihre Freizeit dem Modell-Kunstflug. Bei ihnen wurde das Hobby zum ausschliesslichen Lebensinhalt. Es sind dies drei Porträts, drei Altersstufen und auch drei Arten, nicht nur die Freizeit zu verbringen, sondern ihre Funktion zu begreifen. Tenor bei allen jedoch ist die Abkehr von einer gesellschaftlichen Öffentlichkeit, d.h. von einer politischen Auseinandersetzung. Damit verbunden ist der Verlust der Fähigkeit, sich mit dem eigenen Schicksal, mit der eigenen Biografie und Realität auseinanderzusetzen: «Was früher war, das ist vorbei. Du musst vergessen können als Mensch. Was soll ich mit meinem Scheisse-Lebenslauf? Wir sind einfach so stille Bürger und schlagen uns durchs Leben und fini!» (Bruggmann) Diese wesentliche Qualität der Hobby-Tätigkeit blieb bis heute gleich, ihre Erscheinungsformen jedoch haben sich gewandelt, was Schlumpfs Beobachtungen deutlich machen.

Die Entwicklung des Hobbys zeigt sich, wenn Giezendanner seine Pokale, Fetische des Ruhms, poliert, und Bruggmann Totempfähle schnitzt und sagt: «Ich bin doch ein Indianer! Wenn die Indianer nicht mehr leben, dann bin ich der Indianer. Einer muss es ja machen!» Das sind Mythen, die der Alltag gebiert, denen Schlumpf nachspürt, die er schon bei Armand Schulthess aufsuchte, die er in der «art brut» erkennt, oder auch im Volkstheater: In diesem Sinn ist Schlumpf als Filmemacher Ethnologe.

Im Porträt ist die Kamera statisch, da sie nicht einen Prozess in seiner Dynamik verfolgt, sondern einen Querschnitt legt und Vergangenheit wie Zukunft nur zitiert. Schlumpf versucht, mit unterschiedlichem Erfolg, nicht nur die Leute sprechen zu lassen, sondern auch die Bilder. D.h. Bilder vom Arbeitsplatz, aus der Wohnung, dem Bastelraum bringen Gegenstände, Gesten, ein Milieu, Realitätsabschnitte zum Klingen. Die Worte der Interviewten werden eingebettet, sind nicht mehr nur Statements ohne Hintergrund, sondern bilden eine Stimme einer Symphonie des Alltags. Schlumpf erkannte das Defizit an bewusster Biografie bei den Menschen und setzt deshalb in deren Milieu an, kreist mit der Kamera um die Figuren herum, um sie möglichst wenig direkt anzugehen — im Unterschied etwa zu gängigen TV-Arbeiten, die Menschen zu Objekten machen und sie wie Zitronen ausquetschen. Die statische Form (Querschnitt) unterscheidet sich von der dynamischen (Längsschnitt) in den Herdern Bildern: Hier «laufen» die Bilder und erhalten ihre Bedeutung im filmischen Fluss. In den Porträts stehen die Bilder und ergeben in einer Mosaik-Zusammensetzung einen Ausdruck. Es sind verschiedene Erzählhaltungen, verschiedene Zeitperspektiven, doch beides sind Formen, wie Schlumpf sagt, des «Elementarfilms».

Sicher braucht Schlumpf auch die Metaebene — etwa in seinen erklärenden Kommentaren, sicher gibt er dem Film auch eine von aussen übergestülpte Struktur in der Unterteilung in Kapitel. Doch was der Film aussagt, sagt er mit medienspezifischen Mitteln — literarische Elemente sind ihm fremd. In der Reduktion auf die elementaren Formen des Firns manifestiert sich der bewusste Wille zur Interpretation der Welt mittels eines ästhetischen Mediums. Der technische Apparat als Instrument erhält Bedeutung sowohl als Mittel der Beobachtung, der Auswahl und der Vermittlung. Der Begriff Elementarfilm will also nicht metaphysische «Wesenhaftigkeit», Unmittelbarkeit des Lebensausdrucks suggerieren. Der Autor als Vermittler, wie als Zeuge, ist von zentraler Bedeutung.

Und hier entstehen in Kleine Freiheit kleine Unklarheiten. So frage ich mich, wo Schlumpf eigentlich steht, nicht ideologisch, sondern als Vermittler. Er verwendet die Kamera weniger als Seziermesser, sondern als Stetoskop: Schlumpf harrt bei Bruggmann etwa länger aus, geht streckenweise dichter an die Personen heran, teilweise ist er fasziniert, vergisst sich, verliert anderswo wieder das Interesse. Teilweise ergreift er engagiert Partei, beginnt Sympathie zu verteilen und löst sich dann wieder ab und geht in Distanz, durch Ironie z.B. wie in der Sequenz, wo Sailer und sein Freund mit dem Alphorn aus dem Keller steigen. Es wird deutlich, dass die sogenannt reinen (elementaren) Filmmittel wie Schwenk, Fahrten, Schnitte, Montage, etc. Wertungen enthalten, zu denen der Vermittler als historisches Subjekt, als Zeuge stehen muss, auch wenn der Filmemacher hinter die Aussagekraft des Bilddokuments zurücktritt. Warum werden die Herdern mit den drei Porträts verflochten? Entstehen dadurch nicht zwei Filme? Schlumpf lauscht auf die Stimme des Volks und greift dann plötzlich zu: Was beunruhigt, was nötigt ihn? Ich frage mich, warum er nicht in der beobachtenden Haltung bleibt, um Spuren des Alltags zu folgen. Indem er einzelne Figuren herausgreift und porträtiert, entsteht automatisch die Gefahr, dass ein Rahmen aufgesetzt werden muss. Gerahmte Menschen stellen sich aber hin, posieren, geben Antwort auf Fragen, auch wenn sie einfach «plaudern», ganz «natürlich». Schlumpf gelingt es wohl, das Umfeld der Porträtierten situativ einzufangen, doch es sind statische Ausschnitte, und mich stören die «Nahtstellen». Wenn mir jemand in einer Mitteilung spezielle Punkte hervorhebt, interessiert mich, was dazwischenliegt. In der Auswahl durch die Montage erfolgt der autoritäre (Zu)schnitt, im Dienste einer Beweisführung, eines zwanghaften Bedürfnisses auf- und vorzuzeigen. Wir aber müssten doch wieder lernen, Vorgänge zu beobachten... In der Porträt-Form liegt zusätzlich die Tendenz zur Individualisierung und Personalisierung einer umfassenden Problematik, die der Filmemacher durch einen Zugriff freisetzen will. In den Bildern der Herdern ist die Wirklichkeit dagegen Schauplatz, auf dem sich die Problematik abspielt. Anders gesagt: Die Zustände schwingen in den Bildern der Herdern in unmittelbarer Nähe mit, während sie in den Porträts aus einer Innigkeit losgerissen, einer Absicht unterstellt werden. Wenn Bruggmann zu Schlumpf sagt: «Aber das weisst du ja besser...», sagt er etwas, das der Mann, der die Erde siebt, nie sagen würde. Die 1. August-Feier gerinnt im Pokal Giezendanners oder in den Masken Bruggmanns zum Zitat: Das Bedürfnis Schlumpfs, in den Porträts zu benennen, zu zitieren, spricht vielleicht von seiner (unbewussten?) Angst, dass die Widersprüchlichkeit gesellschaftlicher Realität in der beobachtenden Betrachtung zum Stillleben erstarrt.

Die Bedeutung von Schlumpfs Film wird mir klar, in den eingangs beschriebenen Bildern der Zerstörung: In diesen Aufnahmen einer Katastrophe leuchtet die Geschichte menschlicher Unterdrückung auf. Ich denke hierbei an Schlumpfs oben zitierte Definition des Films als Film und an die gesellschaftliche Qualität des Mythos: Auf dem Weg zur Erfüllung der menschlichen Hoffnungen bilden Katastrophen einen Umschlag auf eine weiter entwickelte Ebene neuer Möglichkeiten — wenn man sie dokumentiert und für die Geschichte festhält und damit aus ihnen lernen kann.»

Kleine Freiheit. P: Nemo Film AG, Zürich; R. und B: Hans-Ulrich Schlumpf; K: Pio Corradi; Ton: Florian Eidenbenz, Hans Künzi; Schnitt: Fee Liechti; D: Alex und Trudi Bruggmann, Martin Dörig, Dora Ducceschi, Hans Erne, Bruno und Emil Giezendanner, Alfred und Marie Grogg, Walter Grob, Eduard Rohner, Franz Sailer, Hans Schäppi, Kaspar Zimmermann; 16 mm, Farbe, 103 Min.

Jörg Huber
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(Stand: 2020)
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