WERNER JEHLE

BILD DES STERBENS — RERAO LEGNAZZIS CHRONIK VON PRUGIASCO

CH-FENSTER

Da kann ein Bauer nicht mitansehen, wie seine Sau geschlachtet wird. Er hat eine Beziehung zu dem Tier, zu allem, was er berührt. Er ist Bergbauer im 167-Seelen-Dorf Prugiasco. Er verrichtet vielfältige Tätigkeiten. Er kennt sich sowohl aus mit Vieh als auch mit seiner Motorsäge und dem Traktor. Zusammen mit seiner Frau hilft er der Kuh beim Kalbern. — Sie arbeitet genauso schwer, stampft die Butter auf der Alp, schuftet am Steilhang beim Heuen, besorgt den Haushalt und schleppt genauso wie der Mann die Hütte vom Dorf zum Maiensäss, vom Maiensäss zur Alp und zurück. — Dreimal im Jahr, Nomaden gleich, wechseln sie alle ihr Heim, die Bauern von Prugiasco im Bleniotal.

Remo Legnazzi, 1946 in Bern geboren, ausgebildet an der Hochschule für Film und Fernsehen in München, schildert während 115 Minuten, wie das zugeht und gibt in beinahe biedermeierlicher Sachlichkeit ein Bild des Sterbens. Am Ende seines Werks verschwindet eine schwarz vermummte Greisin humpelnd hinter einem Schneehaufen. Ein krasses Beispiel der Memento-Mori-Symbolik, die den ganzen Film begleitet.

Gebrechlich sind die Menschen, die das Bergbauern-Hand-werk noch ausüben fast alle: zwanzig Familien von 162 Einwohnern! «Der Bauernstand geht immer mehr zurück», verrät Rosa Mandioni, die selbst noch Bäuerin ist und als Kommentatorin eingesetzt wird «jedes Jahr schliesst ein Betrieb». «In den letzten zwei, drei Jahren wurden mindestens vier Betriebe aufgegeben.» Eine andere, Pia Beretta, klagt: «Die Alten sterben, noch vier, fünf bleiben übrig, dann ist alles aus. Wer von den Jungen ist denn hier noch Bergbauer? Nur ich und meine Schwester haben in Prugiasco Bauern geheiratet, sonst niemand, die letzte bin ich.» Dann fährt die gleiche Bäuerin weiter: «Wenn einer mal ein Bein verstaucht und nicht zum Doktor geht um es auszuheilen, hat er später Arthrose.»

Überall diese Gebrechlichkeit, überall Bedrohung, der Hinweis auf ein Ende. Eine der alten Frauen, Ida Cortesi, ist durch ihre Arthrose so stark behindert, dass sie im Hause selbst den Gang vom Kamin zum Tisch vermeidet. Wie ein mittelalterliches Stundenbuch läuft der Film ab: nach Jahreszeiten sind die Sequenzen geordnet, vom Frühling bis zum Winter, der toten Jahreszeit. Zur wechselnden Witterung wird die entsprechende Tätigkeit der Bauern gezeigt.

Nach Gloors Landschaftsgärtner (1969), Murers Wir Bergler in den Bergen (1975) und Schochers Kinder von Furna (1975) wieder ein Dokument über die Minderheit der Bergbauern. Was macht sie so attraktiv?

Nun, die Bergbauern sind für die Schweiz das, was die Indianer für die USA. Sie dekorieren den Fünfliber wie die Rothäute den Silberdollar und sind trotzdem vernachlässigt, geniessen kein Ansehen, es sei denn als folkloristische Gruppen. Der Blick auf die Berge überhaupt ist von verlogenen Bildern verstellt. Als wären die Alpen allein dazu da, das Auge von Touristen zu entzücken, so scheint es. Dass es ausser Alphornbläsern Menschen gibt im Gebirge, ein «montanländliches Proletariat und Subproletariat» (Pierre Lachat, Der Schweizer Film und seine Berge, in Cinema 1/76, S. 21.), wird verschwiegen in den Plakaten der Kurvereine, auf den Schokoladen und nicht zuletzt auch im Schweizer Kinofilm vom Genre Heidi oder S.O.S. Gletscherpilot.

Den Bergen und ihren Bewohnern ihr wahres Gesicht zurückzugeben musste also gerade den Filmemacher, jedenfalls den, der wieder bewusst mit Bildern umgeht, reizen. Auf der einen Seite die pittoreske Kulisse, — die Schneeberge, die Felsen, die Abgründe und Schluchten, — auf der anderen Seite eine Gemeinschaft von Menschen, die da leben muss und schlecht lebt.

Man sieht sie in Legnazzis Dorf-Chronik «mit Sense, Rechen, Hütte, Sichel und Räf» arbeiten gehen, sieht wie sie das Heu schneiden an den ungangbarsten Hängen. «Früher sah man nicht einen einzigen Halm übrigbleiben», sagt Rosa Mandioni. Jetzt gibts plötzlich ungenutztes Land, Buschwerk wuchert in die Weiden: unheimlich! — Sie sind keine Fleischproduzenten, keine Milchproduzenten. Sie haben ein bisschen Schlachtvieh und Kühe, die Milch geben. Sie sorgen sich um jedes Tier. Die Fleisch- und Milchpreise aber richten sich nach den halbindustriellen Landwirtschaftsbetrieben in den Voralpen und im Flachland.

Legnazzi lässt seine Leute von Prugiasco, die er am Anfang und am Ende seines Filmes in einem grossen Gruppenbild zeigt, über ihre Sorgen selbst sprechen. Sie sagen, sie seien müde. Wenn einer stirbt in einer Familie, werden die Kühe verkauft. Die Jungen arbeiten bereits auswärts. Dario ist der einzige, der dageblieben ist, und er ist bezeichnenderweise noch ledig.

Not war immer da. «Früher emigrierte im Winter fast das halbe Tal, arbeitete als Marronibrater, Kellner, was gerade kam», sagt Franco Jemini, der in der Saison zusammen mit seiner Frau Marronibrater ist in Solothurn, derweil sein Sohn ins Internat geht. Die meisten machten sich einst auf nach Paris. Legnazzi geht den Spuren jener Saisonniers nach, zeigt eine Zusammenkunft von Heimweh-Tessinern in Paris. — Doch auch Marroni braten will heute keiner mehr. Lohnarbeit wird vorgezogen. Mit dem letzten Huttenmacher des Dorfes, auch ein ein alter Mann, «wird auch die Hütte als Arbeitsgerät aus Prugiasco verschwinden.» (Zwischentext). Legnazzi zeigt den Mann noch bei der Arbeit. Melancholie!

Vor einer — manchmal starren — Kamera (Werner Zuber und Urs Kohler) reden die Dorfbewohner ihre Sätze, arbeiten sie. Sie sind aufgenommen wie die zwei Alten in von Guntens Im schönsten Wiesengrunde oder die letzten Heimposamenter bei Yersin. Landschaftsbilder sind im Prugiasco-Film ebenso still gemacht wie Porträts. Niemals schweift das Objektiv ab in die neblige Ferne. Es bleibt im Bereich des Gesichtskreises derer, die dargestellt werden. So können keine abgedroschenen Postkarten-Ansichten entstehen, dafür aber informative Ausschnitte. Strickende Älplerinnen im Dunst beim Kühe-hüten, ein Geländefahrzeug auf einem Bergpfad, der nach dem Regen dampft, eine Totale auf das Dorf Prugiasco bei klarem Wetter.

Prugiasco steht vor der Entvölkerung. Legnazzis Filmstudie kam gerade noch rechtzeitig — so spürt man — um «entscheidende Merkmale einer bestehenden bergbäuerlichen Infrastruktur» überhaupt noch festhalten zu können im Tessin. Soweit Legnazzi in seinem Textbuch zum Film. Verkarstete Alpweiden, unpassierbare Zufahrtswege, zerfallene Alphütten, Zeichen des Absterbens von Bergbauernbetrieben sind in den südlichen Tessiner Tälern schon häufiger als im Bleniotal, im Norden.

Legnazzis Film ist ein Alarm:

Die Auswirkungen für den Bergbauern sind einschneidend... Die Auswirkung für die Gesellschaft sind vielleicht noch schwerwiegender. Jede Industriegesellschaft braucht Freiräume und Erholungszonen. Die Bergbauern sind Pfleger und Erhalter dieser Freiräume. (Textbuch).

Bleibt zu sagen, dass es sich ein reicher Industriestaat wie die Schweiz schon ihres demokratischen Selbstverständnisses wegen nicht leisten dürfte, ausgerechnet in den Alpen, den mythisch aufgeladenen, eine Art Lumpenproletariat sich bilden zu lassen. — Die Dritte Welt beginnt hier, so zeigt das Beispiel Prugiasco. — Um es nicht zu vergessen: Legnazzis Beitrag zur Problematik der Bergbauern ist der bisher sorgfältigste, formal überzeugendste.

Chronik von Prugiasco. P: Cinov Bern; R: Remo Legnazzi; B: Hugo Sigrist; K: Werner Zuber; T: Urs Köhler; M: Remo Legnazzi; 16 mm, Farbe, 120 Minuten.

Werner Jehle
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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