BERNHARD GIGER

BILDER, AN DIE ICH MICH GERN ERINNERE — FILME VON URS EGGER UND ALAIN KLARER

CH-FENSTER

Zwei Männer, unterwegs in einem alten BMW durch eine verschneite und vernebelte Landschaft, nehmen an einer Tankstelle eine junge Frau mit, die zuvor Streit hatte mit ihrem Freund. Sie tut so, als ob ihr dies gar nicht so wichtig wäre. Sie ist eine dieser Frauen, die gern gegen den Wind spucken. Sie möchte eigentlich in den Süden, die Fahrt geht aber weiter durch Schnee und Nebel. Immer länger dauert sie und immer näher kommt die Nacht. Die Frau wird unsicher, sie weiss nicht recht, was sie von den beiden Männern halten soll. Der eine, der Fahrer, ist ein Schwätzer, ein höflicher zwar, aber seine Höflichkeit bekommt mit der Zeit etwas Bedrohliches. Der andere, jüngere, beklagt sich ständig darüber, dass immer nur er die Dreckarbeit machen müsse. Er ist erkältet, wirft vorwurfsvolle Blicke gegen den Fahrer und den neuen Fahrgast und macht ein Sieben-Tage-Regenwetter-Gesicht. Die Männer erzählen, dass sie häufig unterwegs seien, von Kongress zu Kongress, Geschäfte. Die drei kommen in der Dämmerung zu einem Chalet, Kilometer entfernt vom nächsten Dorf. Die Männer bereiten umständlich ein Abendessen zu, die Stimmung während dem Essen ist alles andere als ausgelassen. Später möchte die junge Frau ihr Zimmer sehen. Sie träumt, sie werde von ihren Gastgebern verfolgt. Sie erwacht, hört beängstigende Geräusche und entdeckt dann die Männer vor riesigen Koffern. Der eine schleift eine Säge. Das Gruseln treibt die Frau aus dem Haus. Die beiden Männer sind wieder allein, die Geschäftsherren-Show ist aus, sie zerbrechen sich die Köpfe, wie sie möglichst rasch und möglichst günstig ihre Ware, Sägen und andere Werkzeuge, losbringen könnten. Sie haben kaum noch genug Geld, um wieder tanken zu können, um wieder durch Schnee und Nebel zu fahren: Eiskalte Vögel von Urs Egger.

Eine Tankstelle in einem verschneiten Tal, abseits der grossen Verkehrswege, der Autobahnen. Gleich neben der Strasse eine Eisenbahnlinie, weit hinter der Tankstelle eine Fabrik. Dann und wann nur fährt ein Auto vorbei, noch seltener hält eines an der Tankstelle. Sie heisst Horizonville. Der Tankwart — er hat das dreissigste Jahr hinter sich — der überhaupt nicht so aussieht, wie man sich einen Tankwart vorstellt, hat viel Zeit zum Nachdenken. An eine Tanksäule gelehnt, geniesst er die letzten Sonnenstrahlen des kurzen Wintertages, in seinem Büro spricht er auf ein Tonband. Im Fernsehen wird ein Fussballspiel übertragen. Manchmal geht er nach hinten in die Garage und spricht mit dem italienischen Mechaniker. Eine junge Frau steigt aus dem Auto ihres Freundes und erkundigt sich beim Tankwart nach dem Weg zum nächsten Bahnhof. In der Nacht kommt sie zurück. Auch ihr Freund kommt noch einmal zur Tankstelle. Sie will aber nicht mit ihm gehen, sie will das Abenteuer, den Tankwart. Als wäre er einer dieser harten Burschen in amerikanischen Gangsterfilmen, überwältigt der Tankwart den Freund. Er sperrt ihn dann gefesselt in ein Auto in der Garage und stellt ihm den Fernseher vor den Kopf, da das Programm zu Ende ist, muss der Gefangene in ein flimmerndes Bild starren. Später beobachten die junge Frau und der Tankwart einen Nachtzug, der gegenüber der Tankstelle anhält, angeleuchtet von den Scheinwerfern parkierter Autos tanzen und singen sie dann miteinander — als wären sie gerade aus einem Film von Vincente Minnelli gekommen. Am nächsten Morgen fahren sie in einem Volvo weg. An einer Autobahntankstelle zahlen sie nicht. Darum werden sie von einem Kamerateam der Fernsehsendung L’Oeil ouvert verfolgt. Die junge Frau streicht Rasierschaum an die Scheiben. Der italienische Mechaniker sieht die Verfolgung im Fernsehen: Horizonville von Alain Klarer.

Zwei Filme, Erstlinge, kurz hintereinander im gleichen Land entstanden, die sich ähnlich sind, ohne dass der eine Filmemacher das Projekt des anderen kannte. Zwei Filme auch, die abweichen von den grossen Entwicklungslinien im Schweizer Film, deren Verwandte man eher im Ausland, in der Bundesrepublik, in Frankreich vielleicht und Amerika, suchen muss. Da kann man sich schon fragen, wie zufällig diese Ähnlichkeiten sind, da muss man sich schon fragen, warum zwei Filmemacher unabhängig voneinander in ihren Erstlingen Geschichten erzählen, wie sie in der Schweiz in den letzten Jahren nicht erzählt wurden.

Sicher, Horizonville und Eiskalte Vögel sind keine Zwillinge. So erkennt man etwa in Klarers Figuren bald solche, die 1968 und die bitteren Jahre danach miterlebt oder dann wenigstens mitverfolgt haben, während bei Eggers Figuren jeder Hinweis auf die Ereignisse und Entwicklungen der letzten zehn Jahre fehlt. Anders gesagt, Eggers Film entstand zufällig «zehn Jahre danach», Klarers Film nicht. Klarers Figuren sind darum auch besser zu verstehen als die von Egger, die einem, was nun aber nicht abwertend gemeint ist, irgendwie fremd bleiben. Bei Egger überkommt einem ein feines Gruseln, weil die Figuren und überhaupt der ganze Film ein bisschen unheimlich sind, bei Klarer läufts einem manchmal kalt den Rücken runter, weil man das alles schon so genau kennt, dass man gar nicht mehr richtig daran gedacht hat.

Aber zusammen gehören sie trotzdem, die Figuren aus den beiden Filmen. Vor allem die Männer. Sie sind Resignierte, sie haben sich verlaufen und lügen sich ungekonnt durchs Leben, sie irren — die beiden Werkzeughändler bei Egger— ziellos umher, sind — der Tankwart bei Klarer — an einem Ort am Ende der Welt hängengeblieben. (Wie fremd dem Tankwart dieser Ort ist, wird dadurch noch verstärkt, dass er die Sprache der Gegend, Französisch, mit einem deutschen Akzent spricht.) Sie sind müde, verletzt — der Tankwart hat das eine Handgelenk eingebunden — und krank — der erkältete Beifahrer im BMW sieht nicht aus, als ob er’s noch lange schaffen würde. Sie sind ungeschickt: in einer Szene in Eiskalte Vögel versuchen die beiden Männer, einen gefrorenen Vogel zu zersägen, der dann aber über den Tisch saust, eine Scheibe zerschlägt und von der Nacht geschluckt wird. Sie leben in der Kälte. Daraus vermögen sie auch nicht die Frauen zu locken, die bei ihnen nicht viel mehr suchen als ein Abenteuer, das sie von den Gedanken an ihren langweiligen Alltag ablenkt. Die Frauen suchen nicht Partner, zur Partnerschaft wären weder sie noch die Männer fähig, sondern solche, die auch einmal, und sei es nur für einen Tag oder eine Nacht, etwas anderes erleben möchten — die auch einmal erleben möchten, was man sonst nur im Kino sieht.

Der Tankwart, die Werkzeughändler und die beiden Frauen — das sind Figuren, denen man in Schweizer Spielfilmen noch nicht begegnet ist. Sie haben nichts mehr gemeinsam mit den sanften Anarchisten und verzweifelten Einzelgängern der Westschweizer Spielfilme, nichts mehr mit den kleinen und grossen Rebellen der Deutschschweizer Spielfilme. Einer, der ihnen vielleicht nahestand, ist Georg Radanowiczs Alfred R. Erinnert hingegen wird man in beiden Filmen an Wim Wenders (das hat bei Klarer nicht nur mit der Besetzung des Tankwarts durch Hanns Zischler zu tun), bei Egger ein bisschen an Polanski, bei Klarer ein bisschen an Godard. Und dass die beiden Filmemacher amerikanische Filme (das Hollywoodkino der vierziger und fünfziger Jahre) kennen und sich in diesen wohl fühlten, bekommt man auch bald zu spüren.

Der Schweizer Film, der nun nicht mehr ganz so neue, verstand sich lange Zeit als «anderes Kino». Die Filme sträubten sich gegen die üblichen, längst abgebrauchten und darum auch so langweiligen Formen des Kinos. Das hat sich geändert, denn das «andere Kino» wurde nicht, was man sich von Ihm erhoffte, es hat die Verwüstung der Kinolandschaft durch kaltblütige Spekulanten nicht aufhalten, die Betrachtungsweise des Zuschauers nicht verändern können. Was es jedoch immerhin erreicht hat, ist, dass heute über Aufgaben und Möglichkeiten des Kinos ernsthaft diskutiert wird, ja, dass die Verwüstung der Kinolandschaft überhaupt erst zum Diskussionsthema wurde.

Gegen den Versuch nun von Filmemachern (Kurt Gloor, Peter von Gunten, Peter Ammann, Rolf Lyssy), Erkenntnisse und Erfahrungen des «anderen Kinos» zu verarbeiten in Filmen, die sich wieder bekannter Erzählmuster bedienen, gegen die Annäherung an ein System also, das man früher ablehnte, ist eigentlich nicht viel einzuwenden. Für einen Film, der mindestens eine halbe Million Franken kostet, ist die Auswertung in unabhängigen Spielstellen und Vereinslokalen ungenügend. Und dass die Filmemacher das Publikum dort suchen wollen, wo es nun mal ist und von wo es — auch das eine Erfahrung des «anderen Kinos» — nur schwer wegzubringen ist, kann man ihnen auch nicht vorwerfen. Wie rasch aus der Annäherung die totale Anpassung werden kann, wissen die Schweizer Filmemacher ja auch. (Wer z. B. die frühen Filme von Michel Soutter, Haschisch oder James ou pas kennt, und diese Filme auch gernhat, dem wird es in Repérages kaum richtig wohl sein.)

Auffallend an den neuen Schweizer Kinofilmen ist aber, wie ungeschickt sie sich manchmal der bekannten Erzählmuster bedienen. (Eine überraschende Ausnahme ist da Rolf Lyssys Die Schweizermacher, überraschend darum, weil Lyssy das schwierigste aller klassischen Genres wählte, die Komödie.) Man weiss nicht recht, ob sie sie benutzen, weil sie meinen, die Geschichte nur so erzählen zu können, oder weil sie glauben, damit beim Publikum besser anzukommen. In den Filmen von Urs Egger und Alain Klarer weiss man es: eine Musicalszene ist für Alain Klarer eben «die schönste Art, eine Liebesnacht anzudeuten» (Markus Sieber, Zoom/Filmberater 2/78), eine Autofahrt durch Schneelandschaften ist für Urs Egger der deutlichste Ausdruck der Hoffnungslosigkeit und der Einsamkeit. Während die Musicalszene und die Autofahrt Teil sind der Geschichten, die Klarer und Egger erzählen, den Geschichten ohne sie also irgendwie etwas fehlen würde, scheinen z.B. die vielen Autofahrten in Peter von Guntens Kleine frieren auch im Sommer mehr Dekoration, oder böse gesagt, Füller zu sein. Man würde sie, wenn sie nicht im Film wären, nicht vermissen, und das, was der Film aussagen will, würde sich ohne sie nicht verändern.

Urs Egger und Alain Klarer haben die Geschichte des Schweizer Films in den letzten fünfzehn Jahren nicht mitgeschrieben. Ihr Verhältnis zum Kino ist darum auch nicht so verkrampft wie jenes der Filmemacher, die aus dem «anderen Kino» kommen. Wenn sie bekannte Muster brauchen, tun sie das nicht mit ängstlicher Distanz und hemmendem Misstrauen, nein, sie stehen ganz offen dazu, dass sie im Kino — bei amerikanischen Filmen ganz besonders — nicht immer nur an den Imperialismus der amerikanischen Filmindustrie denken, sondern dass sie dort schon Bilder gesehen haben, die ihre Gefühle herausforderten, Bilder, an die sie sich gern erinnern. In Eiskalte Vögel und Horizonville habe ich auch Bilder gesehen, an die ich mich gern erinnere.

Eiskalte Vögel. Produktion: Schweiz 1978, Urs Egger und Susanna Walker; Regie: Urs Egger; Buch: Urs Egger, Frank Wyman, Markus Jakob; Kamera: David Sanderson; Ton: Luc Yersin; Licht: Max Isler; Darsteller: Eduard Linkers, Balthasar Burkhard, Esther Christinat, u. a; 16mm, s/w, 38 Min.

Horizonville. Produktion: Schweiz 1978, Alain Klarer; Regie: Alain Klarer; Buch: Paule Muret, Alain Klarer; Kamera: Carlo Varini; Ton: Luc Yersin; Montage: Laurent Uhler; Musik: Jean-Marie Senia; Darsteller: Myriam Mezieres, Hanns Zischler, Simon Edelstein, Dore de Rosa, u. a.; 16 mm, Farbe, 40 Min

Bernhard Giger
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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