JÖRG HUBER

DIE ERSTARRTE BEWEGUNG

CH-FENSTER

Fahren und Bleiben. Man möchte weg, irgendwohin, alles zurücklassen, neu anfangen - aber man bleibt, wo man ist, harrt aus, gewöhnt sich ... selbst an den Wunsch zu gehen und die Tatsache, dass man bleibt. Die erstarrte Bewegung ist weder eine neuartige noch eine typisch schweizerische Erscheinung. Wir widmen diese Nummer von CINEMA dem Thema, weil einige neue Schweizer Filme auf das Dilemma von Sehnsucht nach der Ferne und dem Verharren in der Enge eingehen - und weil wir alle in dieser erstarrten Bewegung gefangen sind.

Ich notiere hier einige persönliche Gedanken, einseitig und doch widersprüchlich, apodiktisch, aber ohne Machtanspruch.

Die Staubsauger

Die Schweiz bietet keine Wirklichkeit. Die Institutionen des öffentlichen Lebens übernehmen die Funktion allgegenwärtiger Staubsauger: Sie saugen die Wirklichkeit auf. In der sterilen Sauberkeit des ausgewogenen Lebens ist alles wegradiert, was Brüche und Lücken aufweist, was Widerspruch enthält und unmittelbare Betroffenheit auslösen könnte. Was sich nicht nach Tradition und Konvention ausrichtet, erscheint als absurd und verrückt.

«Sicherheit und Wohlstand», «Verständigung und Kompromiss», «Pluralismus und Neutralität» - wir kennen die Positionslichter des sicheren Hafens, in dem man gegen die Wogen der bewegten See geschützt ist, auf einem faulenden Tümpel dahintreibend. Meine persönliche Wirklichkeit und mein gesellschaftlicher Alltag ergeben keine sinnvolle Ganzheit mehr. Ich erfahre das Aufbrechen in disparate Teile und gleichzeitig die Tatsache, dass alles in der Schweiz ja gut geht. Als «Kopfarbeiter» wehre ich mich zuerst intellektuell: Der Geist und das Bewusstsein sind provoziert, den Sinn von meiner Person aus wiederherzustellen. Und dann sehe ich, dass dem Denken kein Verhalten entspricht. Die Möglichkeit zu fahren taucht auf, als einziger Ausweg, als Bedrohung aber auch, denn es ist doch recht bequem hier. Ich habe mich mehr angepasst, als erwartet. Ich wurde zum perfekten Diplomaten mir selber gegenüber. Als verbaler Akrobat balanciere ich sicher über die Abgründe persönlicher Träume hinweg. Und es gibt Momente, in denen ich die Sprache und das Schreiben zu hassen beginne.

Ich möchte in einer Weltsprache leben ...

Die schweizerische Sprachlandschaft ist in enge Regionen eingezont. Was als Föderalismus und kulturelle Vielfalt gerühmt wird, empfinde ich zuerst als Begrenzung, meine Mundart -und mich damit - als provinziell. Wohl lernte ich in der Schule Französisch, Englisch und Italienisch, doch nur um günstige berufliche Voraussetzungen zu schaffen: Poliglott ist der Schweizer nur, wenn es nützlich ist. Ich möchte wegfahren in einen anderen Sprachraum, um andere Menschen und mich neu zu erfahren. Und doch bildet die Muttersprache eine weitere Variante von Heimatbindung, die man nicht so leicht durchbricht. Ich lernte in dieser Sprache, meine Umgebung zu entziffern. Vielleicht ist es die Unsicherheit, dass mit dem Verlassen des heimatlichen Sprachgebietes auch ein Verlust an (eigener) Welt verbunden ist. in der Fremde muss man sich selber relativieren. Sprache ist ein geeignetes Mittel, um luftleeren Raum zu füllen, Unsicherheiten zu übertünchen oder sie gar nicht erst aufkommen zu lassen. Wenn es mir schlecht geht, konstruiere ich einen «besonders kritischen» Text, teile die Welt ein. Mit Sprache halte ich das Rationalitätsprinzip und Erziehungsmaximen aufrecht. Man ist tüchtig - in jeder Hinsicht. Die Überredungskunst wird zum Ritual alltäglichen Verhaltens. Regie führt die Angst, sich zu verlieren. In meinem täglichen Sprechen nistet sich ein bequemes sprachliches Heimatgefühl ein. Es ist sowohl schwierig, in der eigenen Sprache wirklich zu sein, wie es auch nicht leicht ist, seine Sprache nicht gebrauchen zu können.

Postkartenlandschaft

Das Leben im luftleeren Raum drängt mich hinaus in die Natur, auf die Suche nach Bewegung, nach sinnlicher Erfahrung. Fährt man los in diesem Land, in welcher Richtung auch immer, muss man spätestens nach drei Stunden den Pass zeigen. Und innerhalb der Grenzen öffnet sich keine Natur. Ein Gefühl des Eingeschlossen- und Ausgestossenseins überkommt mich. Überall Häuser, Fabriken, Lagerhallen, Aussichtspunkte, Bergbahnen, Autobahnen, Eisenbahnen, betonierte Feldwege, kanalisierte Flüsse, Leitungsmaste. Die Landschaft hat ihren natürlichen Rhythmus verloren, alles ist eingeteilt und abgegrenzt Und wo Natur als Natur erscheinen soll, ist sie organisiert zur Erholung und fürs lukrative Tourismusgeschäft Man kann sich drehen, wie man will, der freie Blick ist zerschnitten durch fremde Eingriffe. Der Föhn rückt alles zusammen. Wohl gibt es Berggipfel, die von der Besetzung noch verschont sind - hier werden Bedürfnisse wach, zu fliegen, weg- und darüberzufliegen, nur nicht wieder einzutauchen. Es sind ausgegrenzte Bereiche, die überall wieder hinunterführen. Sie bieten nur Gelegenheit, kurz Luft zu schnappen.

Die Schweiz ist berühmt für ihre Postkartenlandschaft. Hehre Bergeswelt, blaue Seen, bäuerliche Idyllen - von der südlichen Riviera bis zum ewigen Schnee, alles nahe beieinander. Dem Postkartenbild gleich erscheint mir Suchendem Natur nur in Ausschnitten. Die vielgerühmte Vielfalt erfahre ich als Unruhe und Zersplitterung. Diese Landschaft erlaubt kein Erleben in der Bewegung: Fahre ich eine Stunde lang geradeaus, wechselt die mich umgebende Natur kaleidoskopartig immer zu neuen Bildern. Ich habe nicht die Möglichkeit, über längere Strecken mich in die Natur hineinzubegeben, sie in mich aufzunehmen, Phantasie zu entwickeln, mich zu erfahren. Alles ist wie hingestellt, ausgeschnitten. Es bleibt in Distanz, zum unbeteiligten Konsum gesäubert.

Vater-Land

Was macht das Heimweh des Schweizers - früher, im Zusammenhang mit dem Söldnerwesen als «Schweizer Krankheit» bezeichnet -, seine enge Beziehung zur Heimat, aus? Die politische, geographische und kulturelle Abgeschlossenheit und Kleinräumigkeit der Lebensbereiche fördern enge gefühlsmässige Bindungen. Dazu kommt aber das alles überhöhende Gefühl, einzigartig zu sein: neutral, reich und sauber, seit Jahrhunderten und aus eigener Kraft...

Begriffe wie «Heimat» und «Vaterland» dienen als pervertierte Mythen der nationalen und persönlichen Identität. Die Schweiz zu verlassen, kommt einem Verrat gleich.

Ich kenne dieses Heimweh der Väter nicht, und doch bin ich immer wieder zurückgekommen. Auch in mir wirkt eine Art Gefühl von Verrat, als Kehrseite eines diffusen Verantwortungsbewusstseins. Verantwortung ist etwas, das einem überall und immer eingeimpft wurde. Sie soll dem Leben, der Arbeit Sinn geben, verkommt aber sehr schnell zur abstrakten Schablone, auf die man sich gerne beruft, um nicht auf sich selbst zurückgreifen zu müssen. Mein Verantwortungsgefühl wurzelt in der Beziehung zum Vater als Person und Symbol verschiedenster Autoritäten. Ich will dem Vater beweisen, dass ich etwas kann, dass die Kritik an ihm und der Vergangenheit richtig und durchführbar ist. Ich möchte die Mythenmacher überführen, um nicht selbst als Schweizer dem Mythos Schweiz zugerechnet zu werden. Mein Wunsch zu fahren dagegen ist Ausdruck des Versuchs, mich aus der vielschichtigen Abhängigkeit vom Vater zu befreien, aus der Aufgabe, für etwas verantwortlich zu sein und einzustehen, mit dem ich mich nicht identifizieren kann. Es taucht das Bild der vaterlosen Neugeburt auf, des Neubeginns als endgültige Abnabelung. Dieser Absage an vieles, was «Herkunft» beinhaltet, antwortet aber ein Bedürfnis nach Tradition, einer Tradition, die man sich hier jedoch allzu schnell als kontinuierlichen, überschaubaren Weg konstruiert, dem eigenen Verantwortungsbewusstsein zitierbar. Der Überwindung der Vater-Bindung als biographischem Sprung stellt sich so die Angst vor Verlust persönlicher Geschichte entgegen. Man bleibt

Die Offsidefalle

Berufsverbote und Entlassungen, verschiedene Formen der Vor- und Selbstzensur, die mehr oder weniger institutionalisierte Überwachung kritisch denkender Bürger, die Ausbildung von Disziplinierungsagenturen sind handfeste Tatsachen einer politischen Wirklichkeit, Stabilisierungsfaktoren schweizerischer Konkordanzdemokratie. Alles geschieht still und sauber, nach Gesetz. Ich habe oft das Gefühl, ins Leere zu laufen, plötzlich allein und isoliert dazustehen. In dieser Abseitsposition erscheinen Denken und Handeln folgenlos. Reaktionen fallen aus, Überlegungen verflüchtigen sich zu spurenlosen Spekulationen, eine Bewertung fällt immer schwerer. Träume verschwinden, Zeit verrinnt, Wünsche bleiben ungestillt.

Der Versuch, mich wieder zu finden, bedeutet ein Zurückbuchstabieren auf Positionen, die mir bekannt vorkommen: Es sind die bewährten, erprobten Orte der vorsichtigen «realistischen» Taktiker, die den gebeugten Gang, die kleinen Schritte, die vorgegebenen Wege einzuschlagen verlangen, die lähmen. Und ich frage mich, ob in diesem Land überhaupt Bilder noch möglich sind. Bilder, die Träume festhalten, Phantasie freisetzen und Wirklichkeit dem Sog der Saubermänner entziehen. Subversive Bilder.

Jörg Huber
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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