MARTIN SCHAUB

PIPE HEBT AB — DREHBUCHAUSZUG UND INTERVIEW

CH-FENSTER

Von der Szene in Les petites fugues, in der Pipe zum ersten Mal, nach einer untauglichen Fahrlektion, fahrt, von Pipe’s «Himmelfahrt» reden alle, die den Film gesehen haben. Fahren heisst da nicht bloss, sich schneller als zu Fuss von hier nach dort bewegen. Fahren heisst, etwas hinter und unter sich lassen. Ein Auszug aus der ersten Version des Drehbuchs (Frühling 1975) zeigt, wie genau die Vision Yves Yersins und Claude Murets zwei Jahre vor Drehbeginn war; der Text liest sich streckenweise wie ein Protokoll des fertigen Films. Der zweite Text gibt einen Begriff von Yersins Hartnäckigkeit bei der filmischen «Nachrekonstruktion» der Vision. Die Helikopterfahrt ist möglicherweise die aufwendigste Einstellung, die je in der Schweiz gedreht worden ist. Und wir reden nicht nur vom Geld.

5. Sequenz, zwölfte Szene, erste und zweite Einstellung

512.1

Im Wald. Pipe ist wiederum über sein Moped gebeugt, bereit zur Abfahrt. Nach langen Augenblicken des Zögerns startet er. Dieser Versuch ist endlich gut: er rollt!. ..

NB: Pipe startet weit von uns entfernt. Er wird von vorn gefilmt, mit dem Teleobjektiv, in der Perspektive der Bäume, die den Waldweg säumen, den er nimmt. Je näher er der Kamera kommt, desto mehr schliesst sich stufenlos und natürlich das Bild auf sein Gesicht. Der Anfang der Einstellung erlaubt uns, beim Start dabei zu sein, der zunächst ungeschickt, problematisch, gespannt ist. Wir sehen darauf den Lauf des Mopeds präziser werden, sicherer. Die Geschwindigkeit des Fahrzeugs wird kontinuierlich grösser. Die Beine des Knechts, zuerst geknickt und verkrampft, beugen sich wie ein Fahrgestell, das eingezogen wird. Die Fasse finden, einer nach dem anderen, die Pedale, der Körper findet seinen Sitz, richtet sich auf, entspannt sich. Schliesslich verlässt ihn auf dem sich entspannenden Gesicht die Furcht, und wir sehen Freude heraufkommen, die übermässige Freude. Am Schluss der Einstellung (Grossaufnahme) sind die Augen Pipe’s wie magnetisiert von dem Weg, der unter seinen Rädern rast...

512.2

... (Vision Pipe’s) Der Weg, die Blätter, die Büsche fliegen mit grosser Geschwindigkeit vorbei. Dann plötzlich, einen Moment lang, haben wir den flüchtigen Eindruck, wir machten einen kleinen Sprung in die Luft. Wir fahren noch immer. Dann plötzlich ist kein Zweifel mehr möglich: wir verlassen den Boden, wir fliegen!

Wir sind schon auf der Höhe der Büsche. Der Weg taucht unter uns. Und wir steigen noch immer. Wir sind auf der Höhe der kleinen Bäume. Und der Weg dort unten zwischen den Blättern wird ganz schmal, ganz klein. Nun biegen wir ab, schaukeln zur Seite; wir fahren auf die grossen Bäume zu. Aber wir heben uns schnell. Wenn wir ins Grün eindringen, ganz eng an den Blättern, verschwinden die Wipfel der Bäume bereits unter uns. Nun endlich entdecken wir den Wald, der sich wie ein grünlicher Teppich rundherum ausbreitet.

Wir hören auf zu steigen. Der Flug wird ruhiger, weicher: wir schweben leise. Das Wogen der Bäume rutscht unter unseren Füssen weg. Schnurgerade Einschnitte der Wege und Pfade, hellgrüne Krater der Waldlichtungen. Wir drehen sanft ab. Rechts ist ein Bauernhof wie ein Spielzeug hingestellt in einer Wiese, wie verloren zwischen Bäumen ...

NB: Der Rhythmus und der Ablauf der beiden Einstellungen müssen beim Drehen und Montieren sorgfältig studiert werden. Die Szene muss den Eindruck der perfekten Kontinuität hervorrufen, vom Moment des Starts bis zum Moment des Flugs. Die Art, mit der Pipe sein Moped dem Erdengewicht (im übertragenen Sinne) entreisst, muss sich spürbar mit dem tatsächlichen Abheben verbinden.

Die Beschreibung, die wir hier geben, kann nur hinweisenden Charakter haben. Diese Szene soll nicht symbolisch sein, nur traumhaft.

Technisch soll die Einstellung mit einem Helikopter verwirklicht werden. Der Ton dieser Szene wird wahrscheinlich sehr einfach sein. Er wird mit dem Lärm des beschleunigenden Mopeds beginnen, dann wird der Lärm der vollkommenen Ruhe Platz machen (während des Flugs).

Yves Yersin, 27. Februar 1979: «Ich bin nicht zufrieden»

«Ich wollte in eine Vision zusammenfassen, was ich selber empfunden habe, als ich das erste Mal mit meinem Scooter fuhr. Es war der Versuch, in einem einzigen Bild zu artikulieren, was einem - ob man nun 18 oder 66 Jahre alt ist -passiert in dieser Situation. Ich erinnere mich, dass es für mich der Übergang von dem Zustand eines Dickhäuters, eines auf den Boden geschraubten Wesens in den Zustand eines Wesens war, das sich bewegen kann, wie es will. Das ist sehr nahe an dem Traum, fliegen zu können. Die Verwandtschaft eines 18-jährigen mit Pipe ist sehr einfach. Bis zur Volljährigkeit ist man ja so abhängig von den anderen wie Pipe. Für mich war, und für Pipe ist das Fahren die Inbesitznahme einer ganz neuen, ganz anderen Möglichkeit. Das Bild war deshalb so wichtig, weil die geographische Autonomie die Vorstellung einer viel weiter gefassten Autonomie auslöst.

Ich habe nicht die komplizierteste Lösung für die Sache gewählt. Ich habe auch daran gedacht, von aussen zu zeigen, wie Pipe abhebt, in den Himmel fährt mit seinem Moped. Aber das wäre dem Zuschauer als ein zu ausserordentlicher Trick erschienen. Wichtig war, dass das, was geschieht, relativ einfach aussieht.

Natürlich war die Herstellung dann nicht einfach. Und zunächst war sie einmal teuer, obwohl wir uns erschöpfende Versuche versagten. Und dann war das alles einfach gefährlich. Eine Kamera von rund 100 Kilo Gewicht in einen 35 Meter

tiefen und nur wenige Meter breiten Waldeinschnitt hinuntersenken und parallel zum Waldsträsschen bewegen, das ist auch verboten. Die Piloten mussten einiges tun, um im Rahmen der Legalität zu bleiben. Die Versicherungen wollten die Sache nicht übernehmen, wenn wir nicht dafür sorgten, dass die hängende Kamera bei Gefahr mit einem Knopfdruck ausgeklinkt werden konnte.

Bevor wir auf das existierende komplizierte Helikopter-Kamerasystem zurückgriffen, haben wir eigene Versuche gemacht. Wir haben einen Kamerakäfig zusammengeschweisst und eine Fernsteuerung für Schwenks und Schärfeeinstellung konstruiert sowie eine Video-Sucherkontrolle. Die Versuche waren unbefriedigend. Es hätte weiterer Entwicklungen bedurft und wäre am Ende vielleicht noch teurer gekommen.

Auch das existierende Kamerasystem war nicht für unsere Bedürfnisse geschaffen. Wir mussten genau die Strasse lang fahren. Normalerweise hängt aber die Kamerakapsel des Systems seitlich am Helikopter; der Einschnitt war aber so schmal, dass diese Anordnung unmöglich war; die Propeller hätten sich im Geäst verfangen. Wir mussten senkrecht unter dem Flugzeug arbeiten. Damit keine Pendelbewegungen entstanden, mussten wir die Kamerakapsel zuerst gesichert parallel auf einem Strassenfahrzeug mitführen. Dann musste der Helikopter steigen, und zwar - wie ich im Drehbuch schrieb - in zwei ‹Anläufen›. Der Chefoperateur weigerte sich, die Einstellung zu drehen, und schlug vor, alles vom freien Feld aus mit dem Teleobjektiv zu filmen. Aber da fallen die Distanzen zusammen: das wäre nie die Vision Pipe’s geworden.

Zum Glück machen die Helikopterpiloten immer gerne etwas Neues. Wir haben mit zwei Firmen gearbeitet Mit der ersten machten wir die Versuche mit unserer Eigenkonstruktion, mit der anderen jene mit dem System. Die zweite Firma musste uns garantieren, dass sie die Sache für einen Pauschalpreis unter allen Umständen machen würde. Die Gesellschaft hatte einen Geschäftsführer, der beweisen wollte, dass sie echte Profis seien, mehr als die anderen. Und wir machten den Vertrag. Die Gesellschaft hat praktisch bis zum Schluss mitgemacht, aber eigentlich hat sie es nie geschafft. Ich bin nicht zufrieden mit der Einstellung. Die Bewegung, die im Drehbuch als eine Art Spiel beschrieben ist, wurde nicht verwirklicht. Man hätte sich als Zuschauer beim ersten kleinen Sprung fragen müssen, ob man fliege oder nicht Nur ein wenig hätte die Kamera abheben sollen; man hätte sich gesagt, nein, die Kamera ist etwas unruhig, wir fliegen doch nicht; und nach einem Moment hätte es sich wieder bewegt, und man hätte sich gesagt, nein, nein, das beginnt wieder, das ist wirklich wahr, wir fliegen. Diese Bewegung war unmöglich, diese Unentschlossenheit, diese Zweideutigkeit

Wir haben für diese Einstellung zehn Tage gedreht während eines ganzen Monats, denn es gab da auch noch viele Pannen, so viele, wie überhaupt möglich. Folgendes Material haben wir gebraucht, miteinander und nacheinander: Zwei Helikopter, zwei VW-Busse, einen Mehari, einen Hubstapler der SBB, ein Elektromobil aus Zermatt, zwei Traktoren, um den Hubstapler aus dem Sumpf zu ziehen, einen Lastwagen der SBB, einen Jeep, drei Polizeimotorräder, einen Deux-Chevaux, zwei Personenwagen und das Kamerasystem. Und folgendes Personal war beteiligt: Zwei Piloten, zwei Helikoptermechaniker, ein Flugassistent, ein Geschäftsführer, zwei Hubstaplermechaniker, ein Chefoperateur für das Kamerasystem, seine Frau und Assistentin sowie ihre zwei Kinder, der Kameramann von Les petites fugues, der Aufnahmeleiter, ein Maschinist, ein Filmemacher, drei Polizisten und der Bauer, dem die Wiese vor dem Wald gehört, die wir mit unseren Maschinen aufwühlten, wofür wir ihm zweimal zweihundert Franken Entschädigung zahlten.»

Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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