PETER BICHSEL

ÜBER MEINE UNFÄHIGKEIT, MM ZU LIEBEN — EINE ERBÄRMLICHE BEMERKUNG ZUM FILM BEHINDERTE LIEBE

CH-FENSTER

Ich nehme an, dass es Filmern nicht anders geht als Literaten. Das, nach dem man dauernd gefragt wird - das Anliegen - ist oft nur ein Nebenbei. Schliesslich ist man Filmer und nicht Anliegensvertreter, und um einen Film machen zu können, braucht man eben ein Thema.

Dass Randgruppen als Themen besonders geeignet sind, wusste man schon lange bevor es Filme gegeben hat. Literarische Muster sind genügend vorhanden, und der Schweizer Film hat darin bereits ein wenig seine Routine gefunden - technisch kann es kaum mehr richtig schiefgehen.

So bleibt denn schlussendlich die Suche nach dem geeigneten Thema. Als Marlies Graf vor Jahren von ihrem Projekt erzählte, da war eines sicher, sie hatte ein Thema gefunden: Invalidität und Sexualität, eine Entdeckung, an die man nie gedacht hätte. Man teilte ihr auch mit, dass man sehr interessiert sei, gespannt sei, man gratulierte ihr zu ihrem Mut, erklärte, dass das schwer sein werde, erwartete wieder einmal mehr ein bisschen Einblick in eine fremde Welt und war zum Voraus bereit, den Einblick mit der entsprechenden Sentimentalität entgegenzunehmen, Vorwürfe zu akzeptieren und sie an die Gemeinheit der Natur und die kapitalistische Gesellschaft weiterzuleiten. Die Spannung, das war zu erwarten, lag in der Brisanz des Themas. Eigentlich, das fällt mir hinterher auf, habe ich Marlies Graf angelogen, als ich ihr sagte, dass ich gespannt sei. Dass ich hinterher auch betroffen sein werde, auch das war von mir zu erwarten, und ich wäre es auch pflichtbewusst gewesen.

Nur eben, Betroffenheit ist ein Wort, dessen Wörtlichkeit einem selten einfällt. Ich habe jedenfalls nicht echte Betroffenheit erwartet - ich habe nicht erwartet, dass dieser Film mich, mich persönlich betrifft. Ich habe nicht erwartet, dass es ein Film über mich wird - zum mindesten so sehr ein Film über mich, wie es ein Western ist, mit dem Unterschied, dass meine Identifikation mit dem Westernhelden frei ist - hier im Film von Marlies Graf werde ich darauf verpflichtet: Invalide führen mir meine Invalidität vor. Sie tun dies so selbstverständlich, dass mir nicht einmal der Ausweg des Erbarmens bleibt, Erbarmen mit ihnen wäre ein Missverständnis gegenüber ihrer Forderung, Erbarmen mit mir wäre unter diesen Umständen schäbig.

Was vorerst einmal gedacht war als die Darstellung von Sexualproblemen Invalider, das wird plötzlich zur Darstellung meiner eigenen Liebesunfähigkeit. Was für mich schon längst Sex heisst, heisst für sie - die Invaliden - immer noch Sexualität. Sexualität ist ein menschliches Bedürfnis, Sex ein Klischee. Die Hilflosigkeit gegenüber Invaliden ist meine Invalidität. Da nützt es nichts, die Natur als ungerecht zu erklären - gesellschaftliche Befreiungsmodelle scheitern.

Nichts zu machen - kein Fazit, keine Lehre, keine Moral.

Aber irgendwo bleibt die kleine Ahnung zurück, dass der Traum von der Befreiung vielleicht halt eben doch nicht an der Natur scheitert, sondern an unseren Klischees.

Ich schreibe bereits dummes Zeug über den Film - meine Hilflosigkeit; der Versuch, durch Selbstdarstellung doch noch einigermassen anständig davonzukommen.

Eines scheint mir sicher: Hier macht nicht in erster Linie das Thema betroffen, sondern der Film, die Filmarbeit. Das ist eben nicht mehr ein Film «über», sondern das ist ein Film «von». Er spricht nicht über die Sache, sondern er handelt von der Sache und in der Sache.

Es ist nicht das erste Mal, dass sich Marlies Graf in den Kopf gesetzt hat, einen Film in echter Teamarbeit mit den Betroffenen zu machen. Als man von Schwierigkeiten während der Arbeit hörte, hat man sie belächelt und hielt die Schwierigkeiten für unnötigen Ballast, den sie sich selbst durch ihre Vorstellung von Teamarbeit angehängt hatte. Das Modell von der Teamarbeit ist bekannt, und selbst Linke haben ein sanftes Lächeln übrig für sein Scheitern. In der Regel ist es ja doch so, dass solche Arbeitsmethoden nur aufgesetzt werden auf eine feste Vorstellung.

Behinderte Liebe ist für mich vor allem auch ein Film über die Entstehung eines Films - über die Entstehung eines Spielfilms vielleicht, herkommend vom Selbsterfahrungstheater, mitunter mit eingeübten, «gestellten» Szenen. Auch das ist nicht neu, dass Leute ihr eigenes Leben spielen, dass Rolle und Leben identisch werden - aber hier spielen Leute Rollen, die sie auch im Leben als Rollen zu spielen haben, und sie spielen während des Spielens die Rolle weg, beginnen trotzig zu leben, versuchen das Leben mit Wörtern zu erreichen, vergessen theaterspielend die Rolle und produzieren etwas, das nur sie produzieren können - diesen Film. Aber sie tun es nicht im Sinne von Arbeitstherapie, sondern sie riskieren etwas, das Ziel ist nicht Glück.

Vom tapferen Invaliden, vom fröhlichen Invaliden, vom Kinderlähmungsmädchen, das die Dressurprüfung bei den olympischen Spielen gewinnt, davon habe ich gehört. Nun stelle ich fest, zu meinem Entsetzen, dass ich Invalide überhaupt nicht kenne. Ihre Tapferkeit würde es mir leichtmachen, ihre Fröhlichkeit könnte mich motivieren, und wenn es einen Gott gäbe, dann wäre alles in Ordnung. Ich bin auf Erbarmen getrimmt worden. Eine gute Zahl von andern Filmen über Invalide war so etwas wie ein Wiederholungskurs für mein Erbarmen. Nun kommen Invalide und machen einen Film, und ich stehe mit meinem Erbarmen da wie einer, der seinen Kuchen nicht abbringt, mit dem er etwas Schiefes auf billige Art wieder einrenken wollte.

Ich bin beleidigt und sehe die Beleidigung ein. Ich erinnere mich daran, wie weh es mir tat, als mich in Amerika ein Neger zum ersten Mal bewusst schlecht behandelte. Er tat es, weil ich ein Weisser war, und es stimmt, ich bin einer. Er verlangte von mir nicht, dass ich schwarz werde. Und er erwartete von mir nichts, gar nichts. Er nahm mir jede Chance, die Situation zu besänftigen. Ich kam mir nicht ihm gegenüber schäbig vor, sondern ich fand mich schäbig in der Erinnerung daran, dass es mir schon oft gelungen war, Situationen auf billige Weise zu besänftigen.

So wie ich damals mit meiner Weisse vor seiner Schwärze gestanden bin, so stehe ich in diesem Film mitmeinem Sex vor ihrer Sexualität, und ich erkenne in ihrer Invalidität meine eigene. Das wäre sehr unanständig, wenn ich das zu ihnen sagen würde, aber ich sage es zu mir. Ich kenne - und ich erkenne hier - meine Liebesunfähigkeit. Ich kenne sie, weil sie mir genügend oft bewiesen wurde, und sie wurde mir von Frauen bewiesen, die nicht invalid sind. Ich meine nicht etwa Impotenzängste - ich meine Liebesunfähigkeit. Und es fiel mir recht leicht, davon nicht allzu sehr erschüttert zu sein.

Hätte jemand einen Film über die Sexualität der Invaliden gemacht - wie gesagt, ein solcher Film war zu erwarten -ich hätte - wie gesagt - auch geschrieben, er habe mich betroffen gemacht. Nun haben aber Invalide einen Film über mich gemacht. Ich bin betroffen. Ich kann die Situation nicht besänftigen.

Wir haben uns als geübte Filmkonsumenten daran gewöhnt, dass wir vorschnell von Formalem sprechen, wenn uns das Thema zu heiss wird. Hier kann ich mir die umgekehrte Verdrängung vorstellen: weil es die Form, die Art des Films ist, die betroffen macht - könnte man hier versucht sein, auf das Thema auszuweichen. Das Thema kann ich bewältigen: ich kann einen Schwarzen nicht weiss machen.

Behinderte Liebe hat all das, was wir uns unter «Dokumentarfilm» vorstellen, hinter sich gelassen. Er dokumentiert nicht, sondern er führt mit einem Hauch von Spielfilm Leben vor. Er zeigt die Agierenden bei einer Arbeit, bei der Arbeit, einen Film zu machen. Die wirkliche Wirklichkeit durchkreuzt den Film immer wieder wie eine Diagonale, aber sie ist letztlich nur erahnbar und nicht sichtbar. Man weiss nicht, ob hier mit Film Leben oder mit Leben Film überprüft wird. Man erahnt, dass mit den Agierenden etwas geschieht, dass sie diese Arbeit nicht so verlassen haben, wie sie sie angetreten haben - man erahnt, dass das, was mit ihnen geschient, nicht wertlos ist, aber wertfrei. Sie haben sehr viel investiert in diesen Film: sich selbst, und es ist zu befürchten, dass sie ihre Investition nicht ganz zurückbekommen.

Es wäre zu wünschen - ich spreche als Laie und es fällt mir schwer, einen Film zu beschreiben - es wäre zu wünschen, dass Behinderte Liebe Filmgeschichte macht. Ich fürchte, er wird nicht, denn nur Wiederholbares macht Geschichte. Aber vielleicht wird der Film ein Beitrag zum Thema «Teamarbeit», zum Thema «Selbsterfahrungstheater», vielleicht fordert er auf, auch Dinge darzustellen, deren böser Verursacher nicht unbedingt bekannt ist - ausser er würde sich selbst stellen.

Behinderte Liebe ist - man muss es banal sagen - ein Film über Liebe. Ich bin als Voyeur reingegangen und als Betroffener rausgekommen.

Ich habe es übernommen, den Film hier zu beschreiben. Was ich geschrieben habe, ist meine Entschuldigung dafür, dass ich’s nicht kann. Ich hoffe, man nimmt mir das ab und schaut sich den Film an.

Immerhin, eine Szene: Gegen Ende des Films liegt ein Mann, ein - verflucht, wie heisst eigentlich das Gegenteil von invalid; gesund wäre lächerlich - ein uninvalider also neben einem invaliden Mädchen. Er ist sein Freund, bemüht sich, sein Freund zu sein. Er liebt sie, aber er ist nicht fähig dazu.

So wie er hier liegt, so sind schon Männer neben Schönheitsköniginnen gelegen, neben Marilyn Monroe und neben der Serviertochter vom Bären. So liegen Männer neben ihren Ehefrauen, so liegen Männer, so ...

Ich weiss nicht, vielleicht war es dieses Liegen, was mich so erinnerte, aber ich bin überzeugt, dass meine Unfähigkeit, mit Invaliden umzugehen, auch mit meiner Unfähigkeit zu tun hat, Marilyn Monroe zu lieben.

Und nach dieser Szene sagt Ursula:

Dann pfeif ich doch drauf, dann lasst es doch, müsst mich doch nicht als Frau akzeptieren. Dabei möchte man es ja, es wäre ja das, was man sich wünschte ... Die Vorstellung, dass das eine andere Frau hören würde: ich habe es nicht fertiggebracht, mit ihr zu schmusen. Ja gut, das hört vielleicht eine Dicke auch, oder irgend mit Makel Behangene, aber also, das ist doch wahnsinnig eigentlich.

Behinderte Liebe. P, R, Schnitt: Marlies Graf; K: Werner Zuber; Ton: Florian Eidenbenz, Urs Kohler, Hugo Sigrist; Aufnahmeleitung, Script: Theres Scherer; K-ass. und Licht: Jürg Hassler 16 mm, Farbe, 120 Minuten

Peter Bichsel
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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