JÖRG HUBER

AUF DER SUCHE NACH POLITISCHER WIRKLICHKEIT

CH-FENSTER

Mit Preis der Angst ist nach dem Schwangerschaftsfilm Lieber Herr Doktor ein weiteres Beispiel einespolitischen Interventionsfilms entstanden. Die Super-8-Gruppe Zürich versuchte mit filmischen Mitteln in einen Abstimmungskampf einzugreifen, indem sie kritische Gegeninformation über das Projekt einer Bundessicherheitspolizei verbreitet. Die billige Technik, die veränderten Arbeitsbedingungen und die politische Zielsetzung weisen darauf hin, dass Filmarbeit nicht nur in der Produktion, sondern auch in der Vermittlung einen neuen Stellenwert innerhalb einer politischen Auseinandersetzung erhalten soll. Gerade in Bezug auf den Einsatz aber ergeben sich Fragen, die von allgemeiner Gültigkeit für alternative Medienpraxis sind: Die Filme werden zu einzelnen politischen Ereignissen hergestellt und in relativ kurzer Zeit (zwei Monate) vor dem Abstimmungsdatum massiert auf den Zuschauer losgelassen. Was die politische Alltagserfahrung anbelangt, bleibt der Kontakt zwischen Filmerund Bürger erstens punktuell und zweitens auf das zur Diskussion stehende spektakuläre Ereignis bezogen. Zum ersten Punkt: Mit grossem aufklärerischen Impetus («niemand soll nachher sagen können, er hätte nicht gewusst, um was es geht...») wird der einzelne Mensch als Staatsbürger mit markigen Parolen, exemplarischen Dokumenten und historischen Daten bombardiert. Die Frage ist, wieweit auf diese Art effektiv ein Meinungsbildungsprozess in Gang gebracht werden kann - simpler gesagt: Wie mancher Zuschauer ändert seine Meinung nach dem Film? Diese Unsicherheit ist charakteristisch für eine Medien-Gegenöffentlichkeit, die sich auf das Parkett der offiziellen Politik begibt und sich auf die institutionalisierten Formen öffentlicher Meinungsbildung -den Urnengang z. B. - beschränkt. Ich verweise hier nur auf die Diskussion um die fragwürdige wirkungpolitischer Plakate. Der «Gegner» hat die Möglichkeit, langfristiger und vielschichtiger auf die Bevölkerung einzuwirken.

Der politische Interventionsfilm muss nicht nur kontinuierlicher produziert und eingesetzt werden, er muss auch von einer Medienarbeit ergänzt und getragen werden, die in kleinen, überschaubaren Lebensbereichen in ununterbrochenem Kontakt mit der Bevölkerung die Alltagserfahrungen aufnimmt, umsetzt und bewusstmacht. In Preis der Angst wird z.B. gegen die Bundessicherheitspolizei als Instrument staatlicher Repressionspolitik Sturm gelaufen. Soweit so gut. Sieht man dann aber eine Stunde lang nur Polizei, Militär und uniformierte Gewalt, so fehlt mir die Vermittlung des Problems und der Erfahrung des Bürgers mit einer subtilen, nicht so offensichtlichen Form alltäglicher Repression durch Behörden und Institutionen. Die historische Herleitung des Gedankens einer BuSiPo ist sicher wichtig; die Gefahr ist aber konkreter, sinnlich begreifbarer, wenn man die Möglichkeit erhält, die Funktion dieses staatlichen Kontrollinstruments auf sich selbst, auf persönliche Ängste und Ohnmachtsgefühle zu beziehen. Und damit ist auch schon der zweite Punkt berührt: Filmarbeit sollte versuchen, in welcher Weise auch immer, Wirklichkeit wahrzunehmen, versteckte Prozesse aufzugreifen, zu beobachten und Beobachtetes zu vermitteln. Das tägliche Leben muss in seiner inszenierten Form, in der luftleeren Perspektivlosigkeit durchbrochen werden durch die teilnehmende Dokumentierung unspektakulärer Vorgänge. Erst so erhält individuelles und kollektives Leben Konturen und kann erfahr- und veränderbar gemacht werden.

Im Dokumentarfilm Gösgen, einem Film zur Geschichte der Volksbewegung gegen Atomkraftwerke, ist diese Aufgabe teilweise versucht worden. Die Autoren Donatello und Fosco Dubini und Jürg Hassler räsonieren nicht primär über die Argumentation der Atomlobby und die Problematik der Energiefrage allgemein, sondern versuchen mit Interviews und Bildern die Erfahrung der Bevölkerung in der politischen Bewegung und darüber hinaus die Ohnmacht des Staatsbürgers gegenüber Behörden und Institutionen allgemein einzufangen. Gösgen ist nicht nur ein Film über den Kampf gegen AKW, sondern auch ein Dokument über die Existenzangst des Menschen in der sogenannten Demokratie und die Möglichkeit, sich aus gemeinsamer Erfahrung solidarisch in Bewegung zu setzen.

In diesem Zusammenhang scheint mir die von Hans Helmut Prinzler geäusserte Kritik an gewissen Passagen aus Deutschland im Herbst wichtig, einem Film, der auch aus der Absicht entstand, ausserhalb der eingeübten Filmproduktion, spontan auf die politische Gegenwart zu reagieren, und persönliche Gefühle wie allgemeine Zustände zu dokumentieren:

Aber auch die dokumentarische Neugier von Kluge und Schlöndorff ist zu begrenzt. Sie richtet sich eben doch nur auf die Haupt- und Staatsaktionen, denen sie arabeskenhaft, mit ironischer Attitüde, Nebenbeibeobachtungen abgewinnt. Auf Menschen lässt sich diese Neugier nicht ein, auf das Alltägliche schon gar nicht. Gezeigt werden Partikel des Sensationellen, gefunden mit einiger Autorenphantasie. (Jahrbuch Film 78/79)

Die kritische Begleitung des Alltags mit der Kamera könnte weitergeführt werden mit der Erstellung einer Art Archivs, in dem die gefilmten Beobachtungen, Arbeitsprodukte aller Art, gesammelt würden. Dieses Material würde der Filmarbeit zur Verfügung stehen, die rasch und gezielt, in irgendeinem konkreten Bezugsrahmen, eingesetzt werden sollte. Perspektive und Montage dieser Medienpraxis ergäben sich aus dem unmittelbaren Lebenszusammenhang aus dem kontinuierlichen Dialog von Filmemacher und Bürger.

Gösgen - ein Film über die Volksbewegung gegen Atomkraftwerke. P: Filmkollektiv Zürich; R., B., K., Ton, Montage: Donatello und Fusco Dubini, Jürg Hassler 16 mm, Farbe, 116 Minuten.

Preis der Angst. P: Super-8-Gruppe Zürich; R., B., K., Ton, Montage: Super-8-Gruppe Zürich Super-8, Farbe, Magnetton, 60 Minuten

Jörg Huber
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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