JÖRG HUBER

WAS HOLLYWOOD MIT VIETNAM VERBAND — BESCHREIBUNG EINES KLIMAS

ESSAY

Die Zeit Ende der 60er und anfangs der 70er Jahre war für uns die Phase des persönlichen und intellektuellen Aufbruchs, der Grundlegung auch unserer heutigen Tätigkeit als Filmjournalisten. Rückblickend ist interessant festzustellen, dass gerade das amerikanische Kino uns damals auf vielseitige Weise provozierte und zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Film herausforderte - wobei im gleichen Atemzug gesagt werden muss, dass die produktiven Anregungen nicht aus Amerika kamen.

An Hollywood konnte man nicht achtlos vorbeigehen, der Markt war von den Amerikanern besetzt, die europäische Filmproduktion verlief zu einem grossen Teil in Abhängigkeit vom amerikanischen Kapital. Wir mussten in der Suche nach dem «neuen Film», wie allgemein in der Ausbildung einer Filmkritik, uns mit den amerikanischen Filmen konfrontieren. Im Folgenden will ich an einigen Punkten das geistige Klima beleuchten, aus dem wir auf das amerikanische Kino, im speziellen auf die Filmproduktion von Hollywood, reagierten. Es geht mir dabei nicht darum, minutiös nachzuzeichnen, wie es damals war, sondern Fragestellungen aufzugreifen, die für uns von Bedeutung waren in einer Zeit, in der so ziemlich alles in Bewegung geriet. Die Akzente, die ich hier setze, beanspruchen in ihrer Gewichtung keine Allgemeingültigkeit, diese ergeben sich aus meiner persönlichen Entwicklung. Im Vordergrund des Beitrags stehen also unsere Reaktionsweisen und nicht die Interpretation des Hollywood-Films.

Das Kino der Imperialisten

In der zweiten Hälfte der 60er Jahre wurde unser Verhältnis zu Amerika dominiert durch die Ereignisse aus der Zeit des Kalten Krieges und den aktuellen Verbrechen in Vietnam.

Für den amerikanischen Film bedeuteten die 60er Jahre einen absoluten Tiefpunkt und anfangs der 70er Jahre stand Hollywood vor dem Ruin: Es war dies das Jahrzehnt der «bombastischen Musicals ohne Charme und Eleganz, der Historien-Schinken ohne Sinn für historische Zusammenhänge, der oberflächlichen Sozial-Dramen ohne analytische Schärfe» (H. C. Blumenberg).

Wir hatten dieses amerikanische Kino satt, nicht nur, weil das, was wir sehen konnten, uns qualitativ überhaupt nichts zu bieten hatte, sondern auch, weil es das Kino der Amerikaner war, derselben Amerikaner, die in Vietnam systematisch Völkermord betrieben. Und wir spürten zwischen Hollywood und Indochina Zusammenhänge, denen wir nachgehen wollten.

Doch vorerst lehnten wir es generell ab, überhaupt amerikanische Filme uns anzuschauen: Die Filme aus den «faschistischen USA» mussten boykottiert werden. Sicher gönnte man sich hie und da eine ideologische Pause, schaltete ab und ging in einen Western - diese «Nacht-und-Nebel-Aktionen» waren aber verpönt und hatten schon gar nicht eine Auseinandersetzung zur Folge.

Was man vom amerikanischen Kino noch akzeptierte, waren klassische Regisseure wie Griffith, Orson Wehes, Hitchcock u. a., Zeugen historischer Vergangenheit, die fähig waren, durch eine persönliche Handschrift immer wieder neue Bilder zu schaffen und so innovativ auf den Film zu wirken, und deren Filme einen Gegenpol bildeten zu der hochindustrialisierten, arbeitsteiligen Filmproduktion Hollywoods: Ihre Werke setzten sich wohltuend von der anonymen Massenware, den unpersönlichen Ausstattungsstücken der 60er Jahre ab, und darüber hinaus stellten sie einen Teil Filmgeschichte dar, deren Studium zum Verständnis der damaligen Gegenwart unumgänglich war. Im Übrigen waren Leute wie Griffith oder Wehes innerhalb des offiziellen Filmbetriebs Randfiguren, die sich nach Möglichkeit den Bestimmungen des Kapitals zu widersetzen versuchten.

Die ersten Marxismus-Studien, die Diskussion um eine Faschismustheorie und die Analyse des amerikanischen Imperialismus konnten wir vorerst nur vage auf unsere eigene Realität und Erfahrungswirklichkeit beziehen - es war auch nicht der Moment, diese Vermittlung konkret anzugehen. Und doch blieb es nicht eine abstrakt politische Diskussion: Die Unterdrückung von politisch und sozial benachteiligten Gruppen in den Staaten - so etwa der Kommunisten, der Neger und Indianer - und der Versuch der USA, das vietnamesische Volk durch eine aggressive Grossmachtpolitik auszuradieren, bewegte in uns Emotionen, die ihre Wurzeln in unserer eigenen Situation hatten: Wir waren im Begriff, uns von der elterlichen Gewalt endgültig loszusagen, gegen die Autorität der Väter uns zu erheben und uns neue Wertvorstellungen zu schaffen. Wir hatten unsere eigenen, spezifischen Probleme und wollten unsere eigene Zukunft!

Und in dieser Zeit des Aufbruchs kamen dann die Amerikaner - für uns plötzlich - mit Filmen wie Bonnie and Clyde, The Graduate, Easy Rider u. a., denen wir selbstverständlich auf den Leim krochen und die wir teils kultisch feierten:

Hier wurden die Probleme von jungen Leuten «realistisch» gezeigt (The Graduate), hier wagten es einige, radikal mit dem Überkommenen zu brechen (Easy Rider) und ihre anarchistischen Wunschträume zu leben (Bonnie and Clyde). Es waren dies Filme, die unsere Polarisierung mit den Konventionen aufnahmen, die die Ausbruchversuche offen darstellten und diese trotz ihres Scheiterns nicht a priori als sinnlos desavouierten.

Was wir dabei fühlten und nachvollzogen, war einzig der radikale Gestus, eine Art demonstrative Haltung, die wir in der Form gar nicht umsetzen konnten, die uns aber emotional zusammenschloss, Gemeinsamkeit vortäuschte und Bewegung inszenierte. Ähnliche Erlebnisse hatten wir übrigens in der Musik mit den «Rolling Stones» oder in der Lektüre von Timothy Leary und ersten Kontakten mit Drogen.

In dieser Stimmung liebten wir Polanskys Chock-Film Rosmary’s Baby, die ironische Verspieltheit und politische Phantasie der Tschechen-Filme und, vorerst nur äusserlich, eine allgemeine Radikalität bei Godard (Pierrot le fou, Deux ou trois choses, Week-end), und wir glaubten, dass in Amerika eine Bewegung entstehe wie etwa die französische «Nouvelle vague». Wir sahen nicht - oder wollten nicht sehen -, dass die neuen Filme aus Hollywood wohl neue Themen aufgriffen, sie aber in völlig konventioneller Form verarbeiteten und dem amerikanischen Kino keine alternative Perspektive aufzuzeigen vermochten. Ebenso problematisch war unser Applaus, der der Vietnam-Kritik in M. A. S. H, Catch 22, Little big man und The Visitors galt und sprechend für unsere Situation war weiter, dass wir die Utopie in Alice’s Restaurant nachzuleben versuchten.

Die Themen des neuen Hollywood-Films waren unsere Themen: die Suche nach der verlorenen Freiheit, der Kampf gegen die systematische Umweltzerstörung, der Ausbruch aus bürgerlichen Moral- und Wertvorstellungen, die Aufwertung irrationaler Erfahrungen, der Versuch, dem würgenden Druck entfremdeten Lebens zu entrinnen. Es war ein Protest, der einem bestimmten Lebensgefühl entsprach, der bunt war, grell und laut, als Bewegung erfahren wurde, als Haltung demonstriert, als Gegenkraft verstanden, idealistisch. Insofern waren die Filme des New Hollywood - wie diese «Bewegung» später genannt wurde - für uns eine Alternative, obwohl der effektive Ansatz zum neuen Film im New American Cinema in New York zu suchen war, einer Filmproduktion, die bei uns nur spärlich zu sehen war.

Die New Yorker wollten den «rauhen, unpolierten, lebendigen Film», den Film «in den Farben des Blutes» (Manifest), den anarchischen, spontanen Film, und sie versuchten auch in der Produktion und der Distribution neue Strukturen aufzubauen. Einige ihrer Filme - etwa von Brakhage, Mekas, Markopoulos und Cassavetes - waren in Sonderveranstaltungen oder an den Festivals von Knokke und Pesaro zu sehen. Diese teils radikalen Versuche einer neuen Filmsprache erhielten in Insiderkreisen eine zentrale Bedeutung in der Auseinandersetzung um einen neuen Film überhaupt, sei es in der Diskussion um den Experimentalfilm und den politischen Untergrundfilm oder in der Verarbeitung klassischer europäischer Erneuerungsversuche, z. B. der «Nouvelle vague» oder des «Free cinemas». Vieles davon bekam man natürlich bei uns nicht, oder nur in vermittelter Form, zu sehen.

Die Soziologie des Films

Ich studierte Germanistik und Kunstgeschichte und ergänzend zum offiziellen Lehrbetrieb suchten wir in Theorie-Diskussionen nach einem kritischen Kulturbegriff. Dabei begannen wir unsere diffuse Ablehnung des amerikanischen Films durch eine differenziertere Kritik zu konkretisieren. Bestimmend dabei waren einerseits die Ideologiekritik der «Bewusstseinsindustrie» und anderseits die soziologische Analyse der Produktionsbedingungen der «Kulturindustrie».

Dieter Prokops 1970 erschienenes Buch Soziologie des Films» fasste die Ansätze einer ökonomischen Kritik der amerikanischen Filmwirtschaft zusammen und wurde zu einer Art Schlüsselwerk. Prokops Analyse der Entwicklung der Filmindustrie Hollywoods vom Polypol zum internationalen Monopol machte einerseits deutlich, dass der politische, militärische und wirtschaftliche Imperialismus der USA ergänzt wurde durch den kulturellen, dass anderseits die Herstellung von Kultur, im engern des Films, weitgehend bestimmt ist durch marktwirtschaftliche Gesetze, d. h. durch die Bedingungen industrieller kapitalistischer Produktion. Die Produktionsbedingungen der Filmwirtschaft bestimmten den Film nicht nur in seiner Form und technischen Herstellung, sondern auch im Inhalt: Die Produkte mussten weltweit verbreitet werden, für alle sozialen Schichten, alle Altersklassen verständlich sein, um den nötigen Profit einzuspielen. Sowohl in der Produktion wie auch der Distribution der Filme beherrschte Hollywood in den 50er und 60er Jahren auch den europäischen Markt auf verschiedenen mehr oder weniger direkten Kanälen. Wir begriffen nun besser, warum uns Love Story langweilte, und die meisten Hollywood-Filme, die in unseren Kinos und am TV gezeigt wurden, uns nichts angingen und New Hollywood keine Alternative sein konnte. Wir verstanden auch, warum die «europäischen» Grossproduktionen sich immer mehr, wie ein Ei dem andern, zu gleichen begannen. Ebenso kamen wir auf der Suche nach den Zusammenhängen von Hollywood und Indochina einen Schritt weiter, speziell auf der zweiten Ebene unseres intellektuellen Feldzuges, durch die Ideologiekritik.

In der Analyse der Funktion der Filmwirtschaft als Teil einer durchorganisierten Freizeit- und Bewusstseinsindustrie stiessen wir auf die kompensatorische Tendenz der vom Kapital inszenierten Unterhaltung, die systematische Produktion von falschen Mythen, Idolen und Träumen, die manipulative Funktion marktkonformer Ästhetik auf den politischen Meinungsbildungsprozess. Sie forderte uns gleichzeitig heraus, wieder ins Kino zu gehen und genauer hinzuschauen, rief aber auch das Bedürfnis nach einer Alternative wach, nach sogenannten revolutionären, emanzipatorischen Filmen. In diesem Zusammenhang wurden, mit einiger Verspätung, auch bei uns die Folgen der 68-Studentenbewegung offensichtlich. Neben der praktischen Suche nach persönlicher, authentischer Freiheit und substantieller Erfahrung im alltäglichen Zusammenleben erhielt die Theorie-Diskussion grosse Bedeutung: Walter Benjamin wurde neu entdeckt, die Frankfurter Philosophen gelesen und Bertolt Brecht wieder ausgegraben. Speziell an Adornos und Marcuses Kulturkritik lernte man den bürgerlichen Kulturapparat als systematischen Herrschaftszusammenhang zu befragen und Benjamin und Brecht halfen dann aus der Aporie der dialektischen Negation herauszufinden: Wir rezipierten Benjamins These von der Gefahr und der Chance der technischen Reproduzierbarkeit von Kunst und gelangten über die Theorie des «Autors als Produzent» zu einem operativen Kunstbegriff, konkret: zu der russischen Kunst der 20er und 30er Jahre, zu Avatov und Tratjakov etwa.

Sicher haben wir vieles nicht genau begriffen, und ebenso klar ist, dass einige der berühmten Thesen eher die Funktion einer Fahne als einer Sonde einnahmen, doch wichtig ist, dass diese Lektüre und Gespräche die vorangehende politische und ideologische Erstarrung und Dogmatisierung aufbrachen und wir zu denken und Fragen zu stellen lernten, auch wieder nach Filmen suchten, ins Kino gingen und genauer uns ansahen, was da war.

In alternativen Spielstellen sahen wir Filme von Vertov, Eisenstein, Pudowkin, Brecht, Yvens und natürlich der wichtigsten Figur: Godard, und eine echte Alternative aus Amerika: Bibermans Salt of the Earth. Die Frage war dabei nicht primär, ob Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin mehr mit unseren Erfahrungen zu tun hatte als etwa Howard Hawks El Dorado. Wichtig war einfach, dass Eisenstein die «richtige Haltung» hatte und diese auch in seinen Filmen durch eine entsprechende revolutionäre Filmtechnik umsetzte.

Die Polarisierung von reaktionärem amerikanischen und revolutionärem politischen Film brachte auch Vereinfachungen in der Analyse der Beziehung von ästhetischer Technik (Bildsprache) und politischer Haltung. Einzelnen ästhetischen Praktiken wurde linear undialektisch eine ideologische Absicht zugeordnet (Lukacs war dabei nicht ganz unschuldig!): Im Unterschied zu Eisensteins dialektischer Montage z. B. wurde die Parallelmontage von Griffith als Ausdruck bürgerlicher Ideologie entlarvt, da diese Technik die gesellschaftlichen Gegensätze zu parallelen Linien verdinglicht, wobei wir kurzerhand «klarstellten», dass Griffith im Gegensatz zu Eisensteins marxistischer Klassentheorie und parteilicher Haltung einer idealistischen Metaphysik verpflichtet blieb: Seine Filme behandelten das individuelle Schicksal als Ausdruck eines abstrakten menschlichen Wesens.

So elegant ging das. Gewisse technische und formale Verfahren wurden an und für sich als moralisch suspekt deklariert, so etwa die ästhetische Auswertung der Tiefenschärfe bei Orson Welles (vgl. André Bazin: Die Evolution der Filmsprache), die die Geschlossenheit des Bildes herstellt und damit den Regisseur einer idealistischen Ganzheitsideologie überführt.

In Bezug auf die Wirkung der Filme nahm man den Behaviorismus eines Bechterev zu Hilfe, was einiges rein schematisch zu klären schien - uns selbst aber, als Kinogänger, ausklammerte. Im Vordergrund stand einzig die Tatsache, dass das Publikum, wir, ernst genommen wurde und nicht, wie in den Hollywood-Filmen, für dumm verkauft. Wir machten, indem wir eine Kinokarte lösten, nicht wider Willen an unserer ideologischen Verblödung mit, sondern traten in einen Dialog mit linken Filmern, den wir im Land des Schweigens, in der Schweiz, sowieso vermissten.

Als Leitmotiv in unseren Fragen an ein alternatives Filmschaffen diente das Kriterium, wie weit der Film zur Emanzipation der Massen beitragen kann, und wir glaubten zu wissen, wer «die Massen» sind und kümmerten uns nicht so sehr um die Umsetzung unserer intellektuellen Schablonen. Persönlich war man ja betroffen, denn in der Kritik der Kulturware aus Hollywood war auch der Versuch enthalten, uns vom Kulturkanon der Väter, von den elterlichen Bücherregalen und den Bildungsidealen unserer Schulen zu befreien.

Die Wut auf das amerikanische Kino war vielschichtig geworden: Die Kritik an John Wayne etwa galt ihm als politischem Reaktionär, als Regisseur von Green Berets, als Verkörperung des Mythos des Western-Helden, als männlichem Chauvinisten, als aktivem Mitverantwortlichen eines aggressiven Kulturimperialismus, als Protagonisten weltweiter Volksverdummung und letztlich vielleicht auch als Komplizen unserer Väter, Lehrer, Professoren...

Über die Semiotik zurück zum Film

Die einzelnen Schritte in der Entwicklung unserer Beziehung zum amerikanischen Kino wurden mitbestimmt durch den oft gar nicht bewusst reflektierten subjektiven Bezugspunkt in der Fragestellung. Die erste Phase in unserer Reaktion auf den Film aus Hollywood - sowohl in der Ablehnung, wie auch in der positiven Aufnahme - war gekennzeichnet durch das Bemühen, in den einzelnen Filmen die Spiegelung unserer persönlichen Situation und ideologischen Haltung festzumachen: Diese eher unproduktiven Identifikationsversuche stellten eine Art mechanisches Reagieren dar auf Inhalte und deren ästhetische Verpackung und gingen an den zentralen Fragen nach den Produktionsweisen und der Funktion von Filmarbeit vorbei, Fragen, die dann mit dem zweiten Schritt in den Vordergrund rückten. Dieser, neue Ansatz verlangte aber konkreter ein «historisches Subjekt», das wir durch Vereinfachungen leicht in den «unterdrückten, entfremdeten Massen», dem Proletariat, fanden. Doch manchmal fühlten auch wir, dass wir in diesen Begriffskonstruktionen uns selbst entglitten. Die Aufgabe der Vermittlung von Kunst und Politik wurde auf die Frage der revolutionären Technik reduziert, und so ist es evident, dass in einem dritten Schritt die Filmsprache Thema Nr. 1 unserer Diskussionen wurde. Wir gingen den Problemen nach, die sich aus der Semiotik und allgemein einer Kommunikationstheorie ergaben, und kehrten noch genauer zurück zum einzelnen Film. In dieser vorläufig letzten Fragestellung waren die vorangehenden nicht verlassen, sondern aufgehoben.

Über die Lektüre der Bücher von Knilli, Eco, Bitomsky u. a. führte dieser Ansatz zu einem genaueren Studium der Filmsprache, zu einer spezifisch mediengerechten Kritik und half, das aktivistische Pathos der 68er Jahre und die intellektuellen Konstruktionen begrifflicher Wertsysteme zu konkretisieren und in Beziehung zu setzen. Die Ursachen dieser Hinwendung zur Filmsprache waren komplex. Eindeutigst, dass wir durch die zunehmende Radikalisierung des Repressionsklimas und die aufkommende Resignation und Desillusionierung nach dem Abklingen der 68er Euphorie gezwungen wurden, der Wirklichkeit nicht mehr nur in der vermittelten Form der Theoriebildung zu begegnen. Der Freiraum wurde enger, die Forderungen verpflichtender. Wir verstanden den Film als gesellschaftlich bedingte Kommunikationsform und begriffen, dass es erst mal die Syntax zu erlernen galt. Auf diesem Weg konnten wir den Formverlust, d. h. den technischen Ästhetizismus und die Effekthascherei der Hollywood-Filme genauer darstellen und die innere Logik der Entwicklung zu den heutigen Grossproduktionen nachvollziehen. Und die erneute Betrachtung der New Hollywood-Filme zeigte, dass ihre durch die ökonomischen Gegebenheiten bestimmten Formexperimente damals hauptsächlich faszinierten als Abwechslung den phantasielosen, sterilen Machwerken der grossen Gesellschaften gegenüber und dass sie damit nicht konsequent neue Wege einschlugen.

Jörg Huber
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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