PIERRE LACHAT

DAS LEBEN AN DER ARBEIT — PROVISORISCHE ANMERKUNGEN ZU EINIGEN FILMEN VON JOHN CASSAVETES

ESSAY

When it’s good, it’s very good. But when it’s bad, it’s still good. Amerikanische Filmemacher-Weisheit.

Den meisten ist er wohl mehr dem Aussehen nach, aus Filmen als von solchen her ein wenig bekannt. Nicht eigentlich die Hollywood-Type, weder ein grosser Star noch ein kleiner, hat sich John Cassavetes, heute fünfzig, doch im Verlauf von mehr als zwanzig Jahren ohne besondere Mühe, mehr aus praktischen Gründen zu einer jener vielen Besetzungen in Charakterfach und Zweitrolle gemausert, die eine der traditionellen Stärken und Stützen des amerikanischen Films sind.

Man muss ja auch sagen, er präsentiert besser, als man sich gemeinhin einen Autor und Regisseur vorstellt. Lässig-elegant in der Erscheinung, mit dem gutgeschnittenen Kopf und dem ironisch-gescheiten Ausdruck um die Augen, ein trefflicher Träger guter Kleidung (potentiell einer von den «Beautiful people»), hat er als besonderes Abzeichen und Blickfang diese merkwürdig in umgekehrter V-Form kühn himmelwärts strebenden Brauen vorzuweisen. Sie verleihen dem Äusseren erst, wie Bogarts Oberlippe, jene leicht irritierende, markante Beweglichkeit (schon wieder jenseits des «schönen Menschen»), die das Gesicht eines wirklichen Schauspielers prägt.

Die Schwierigkeit beim Besetzen von Nebenrollen ist ja die, dass die Figur meistens in Abständen mehrmals auftritt. Man sollte sie jeweils auf einen Blick wiedererkennen können, weshalb ein auffälliges Merkmal, das dem Darsteller nicht eigens aufgepfropft werden muss, wie Brille, Schnauz, Haartolle oder ähnlich, sondern grad schon da ist, eine grosse Hilfe sein und den Umweg übers Requisit oder umständliche Erläuterungen ersparen kann.

Cassavetes ist eindeutig der mit den Brauen. Sie lassen mich stets an zweierlei denken, an einen intelligenten Teufel und an Sam Spade, wie ihn Dashiell Hammett im Malteser Falken beschreibt und wie ihn John Huston in der Verfilmung dieses Romans ins Gesicht Humphrey Bogarts hat schminken lassen.

Es handelt sich demnach, um’s kürzer zu machen, bei Cassavetes im weitesten Sinn des Wortes um einen Schauspieler. Er ist von Berufs wegen in Hollywood- und andern Filmen, mitunter in denen zu sehen, die man seine eigenen nennt (wenn auch im Grunde aus Verlegenheit; man muss sie schliesslich jemandem zuschreiben). Er hat sogar Auftritte in einer Fernsehserie der späten fünfziger Jahre, Johnny Staccato, auf dem Gewissen, als hartgesotten pianospielender Privatdetektiv, wie ihr Titel nahelegt. Am besten dürfte er, als Typ, aus Roman Polanskis Rosemary’s Baby von 1968 in Erinnerung sein, wo er, ganz passend, einen Jünger Satans mimte, der sich als treusorgender Gatte und Vater gab; weniger aus Robert Aldrichs The Dirty Dozen, eine Rolle, welche ihm 1967 eine nicht eben rühmliche Oscar-Nomination einbrachte.

So gehört Cassavetes peripher mit zum Hollywood-Establishment (nun schon nicht mehr ganz junger Generation) oder könnte, läge ihm daran, dazu gehören - ein guter Schauspieler, vorausgesetzt, es gelingt, des Flüchtigen habhaft zu werden, ihn wirklich zu verpflichten. Er hätte vielleicht ein ausgewachsener Star werden können. Aber er hat es vorgezogen, statt seine Karriere zu pflegen und gemächlich reich zu werden, immer wieder zwischendurch kostspieligen ausserhollywoodischen Unternehmungen zu leben, eben mit Hilfe jenes Geldes, das er bei den Polanskis oder Aldrichs noch heute jedes Mal verdienen kann, wenn er’s braucht. Vergleichbare Fälle können einem dazu in den Sinn kommen wie Orson Welles oder John Huston, auch sie Wanderer zwischen (mindestens) zwei Welten, die sich am einen Ende holen, was sie am andern verbuttern, gemeinhin nicht eben gewinnbringend: letztlich ein schizophrenes Verhalten, zu dem nur starke Naturen befähigt sind, Schauspieler eben, in der Kunst der Verstellung, des Spielens von mehr als einer Rolle bewandert. Besonders wenn einer, wie Cassavetes, in Hollywood auch schon Regie geführt, das heisst eine gewisse Vergangenheit hat, an der man ihn aufhängen kann.

Auch ist es, verglichen mit Welles oder Huston, noch gar nicht so lange her, dass er sich entsprechende Aufträge unvorsichtigerweise anvertrauen liess: Too Late Blues und A Child is Waiting entstanden in den frühen sechziger Jahren, nach dem Überraschungserfolg seines Erstlingswerkes Shadows von 1961, jenes frühen Aussenseiterfilms, der dem amerikanischen Filmschaffen abseits von Hollywood wichtige Impulse gegeben hat. Hinzu kommt, um die Sache mit den zwei Welten zu komplizieren, dass Cassavetes mit Gena Rowlands verheiratet ist, die ein ähnliches Schauspieler-, bzw. Schauspielerinnen-Spiel zwischen Hollywood und Off-Hollywood getrieben hat, allenfalls noch heute treibt; und dass er Leute wie Peter Falk oder Ben Gazzara, auch sie einschlägig erfahren, zu Freunden hat.

Die Schizophrenie nun besteht bei Cassavetes nicht etwa darin, dass er am einen Ort Schauspieler, am andern Autor und Regisseur wäre. Im Gegenteil, eine gewisse Verbindung bleibt zwischen den beiden Polen gewahrt, indem er auf beiden Seiten primär Schauspieler ist - nur nicht im gleichen Sinn, wie wir sehen werden. Denn was er abseits der offiziellen Medienindustrien für sich gemacht hat und was also zählt von seinem (meinetwegen) «Werk», stellt in erster Linie eine Negation des ganzen Funktionsprinzips Hollywoods dar.

Verneint wird die Maschine, das heisst die Bürokratie und Hierarchie, die streng reglementierte Arbeitsteilung, das Setzen aufs Todsichere, das wohlfeil-denkfaule Argumentieren (Niederreden des andern) mit den «Wünschen des Publikums», das «nicht überforderte werden darf, der verschwenderische Umgang mit den Mitteln; kurzum jener ganze organisierte Wahnsinn, der einen beträchtlichen Teil der Energien gar nicht direkt in die Herstellung von Filmen steckt, sondern für die reine Selbsterhaltung und -rechtfertigung absurder Apparate, unsinniger Rangordnungen, namenloser Leerläufe, ans Wettmachen unglaublicher Reibungsverluste durch Rivalität und Kompetenzenstreit vergeudet; und das alles noch in schönster Ordnung findet, für den gegebenen Lauf der Welt erachtet.

Der Norm-Film Hollywoods, auch der gute, den es unvermeidlicherweise trotzdem gibt, sieht ja, verglichen mit denen Cassavetes’, ganz danach aus: streng ausgemessen, auf Ökonomie und Perfektion hin angelegt, noch wo diese, ausser sich selbst, gar nichts bringen; von Financiers bewilligt, von Produzenten geplant, von Szenaristen erdacht, von «Art Directors» entworfen, von Regisseuren ausgeführt, von Darstellern bestritten, von Komponisten verschönt, von Werbern ausgerufen, von Kritikern gelobt, von den Leuten verbraucht und vergessen; von daher notwendig auf «Themen» hin ausgerichtet, die, versteht sich, bedeutend, aktuell, originell, interessant, gehalt- und kulturvoll, zweckmässig, erbaulich, unterhaltend, belehrend oder sonstwie weltbewegend-relevant zu sein haben, es doch sein möchten oder wenigstens zu sein vorgeben; endlich deshalb zwingend der «Story» verpflichtet, jenem merkwürdig glatten, saubern, runden Gebilde mit der heiligen Dreieinigkeit: Anfang, Mitte und Ende (Ende vor allem, beglückendem Ende, wann immer es geht). In diesem Sinne krankt der Hollywoodfilm in allem an seiner Überorganisiertheit, an seiner oft entmutigenden, generalstabsmässig herbeigeführten Zweckmässigkeit, die im Zweifelsfall immer das eine will: die Leute zum Kauf einer Eintrittskarte bewegen, damit sich die Branche (inklusive Unternehmerprofite) weiterfinanzieren kann.

All dem verweigern sich die von Cassavetes ausserhalb Hollywoods arrangierten Filme in mehrfacher Hinsicht -einmal schon nur von der Autorenschaft her. Denn die Rolle des Autors und Regisseurs wird auf ein Minimum, auf die eines blossen Vorbereiters beschränkt, der einen gewissen Rahmen bezüglich Thematik, Besetzung, Schauplätzen, ungefährer Handlungslinie absteckt. In erster Linie ist er selber («nicht mehr als») ein Schauspieler, einer mit besonderen Aufgaben, ein Erster unter Gleichen.

Er hat dafür zu sorgen, dass die andern, vorzugsweise Freunde von ihm, mit denen er sich gut versteht, ihr Spiel spielen können, wissen, wo sie anzusetzen haben, sich nicht in der spontanen Improvisation einfach verlaufen. (Auf eine separate Diskussion von Begriffen wie «Improvisation» und «Spontaneität» im Zusammenhang mit Cassavetes verzichte ich hier bewusst, weil es dergleichen im Film in absoluter Form nicht gibt; es gibt nur verschiedene Grade der Vorbereitung - Cassavetes beschränkt das Präjudiz aufs Kleinstmögliche.)

Der Schauspieler als ur-konstituierende Figur jeder Art von Darbietung erhält in dieser Anlage seine Autonomie, etwas von seiner ursprünglichen Bedeutung als primärer «Autor» zurück. Er führt keinen vorgegebenen Auftrag aus, sondern «trägt» die Rolle wieder im alten Sinn, hat sie effektiv selber inne und gestaltet sie eigenhändig in grösstmöglicher Freiheit. Cassavetes seinerseits dokumentiert die Bescheidung des Autors und Regisseurs, der zum Arrangeur wird (zum «Spielleiter»: leider ein Nazi-Wort, das man fast nicht mehr brauchen darf), indem er häufig selber vor die Kamera tritt, sich also in eine Reihe mit den Mitwirkenden stellt. Am nächsten stünden ihm, unter den Klassikern, Renoir und Godard, am fernsten «Tyrannen» wie Sternberg oder Hitchcock.

Was auf diese Weise entsteht, ist notwendig «unterorganisiert», manchmal schlicht konfus, sicher oft das Werk des glücklichen Zufalls, in keinem Moment glatt, gefällig und sparsam, noch der Schlag-auf-Schlag-Dramaturgie unterworfen. Aber auf der andern Seite atmet es das, was als unabdingbare Voraussetzung in das jeweilige Unternehmen (allemal ein Wagnis) investiert werden muss, wenn es trotzdem gelingen soll: die Lust am Machen derer, die es an die Hand genommen haben; eine Art Glück von Menschen, für die es nichts Wonnigeres gibt, als einen Film zu machen, der schief gehen kann und darf, der nichts ist, das geleistet werden müsste, sondern den sie er-spielen dürfen.

Und der fast trotzig, als Apotheose der anti-hollywoodischen Verneinung, die logische, geschlossene Story, besonders das Happy oder Unhappy End verweigert und stattdessen so etwas wie eine entwaffnend offene, fast naive Folge von skizzierten Szenen aus einer möglichen Geschichte, einem denkbaren «richtigen», «fertigen» Film anbietet; der also nicht mehr sein will, als er sein kann, und der sich, wie der geniale Opening Night, auch einmal sozusagen selbst mit einer grossen herrlichen Bewegung vom Tisch wischt und für gegenstandslos, unzuständig erklärt:

Denn das Leben, wird uns da bedeutet, ist problemlos, solange man es wirklich lebt, statt Rollen in vorgefertigten Stücken zu spielen, sei’s auf der Bühne und vor der Kamera, sei’s in der Wirklichkeit. Die Existenz, freuen wir uns, ist sinnlos, heisst das, keinem Ziel und keinem Zweck zuzuordnen. Erst das macht sie erträglich, errettbar: wenn man es bloss versteht und gewillt ist, voraussetzungslos, hier und jetzt, glücklich zu sein, sich gegebenenfalls zu seinem Glück zu zwingen. Und Filme zu machen, die dann schon irgendwie, Hals- und Beinbruch, gelingen werden.

Statt ein idiotisches Problemstück über Altern und Emanzipation oder ähnlich über die Bühne zu schleppen (wo man nicht die mindeste Lust dazu verspürt und das Ganze im Grund für einen Humbug hält), das heisst statt das Leben in der «Verantwortung» und «Bedeutsamkeit» zu ersticken, wäre es besser, wie Cassavetes und seine Gena in der denkwürdigen «Schluss»-Szene von Opening Night», unwiderruflich aus der Rolle zu fallen und aus der Haut zu fahren, das Kalb abzulassen, einen öffentlichen alkoholisierten Skandal zum Besten zu geben (was noch immer die beste Unterhaltung ist) und sich den Teufel um die Folgen (Karriere ruiniert) zu scheren. Der Zufall ist mächtig, aber wir, selber nichts als Zufall, sind es halt auch.

So, wie in den Filmen von Cassavetes gespielt wird, wie sie entstehen, wie die Kamera in ihnen geführt ist, so sollte man leben lernen. Die Form wird zur direkten Metapher für die Aussage, weshalb sie Cassavetes weit über das «Thema» geht. Nicht was einer mache, sagt er, sei entscheidend, sondern wie («It’s how you do it»). Seine Filme handeln nicht ab und rechnen nicht vor, sie sind das Gegenteil von Problemfilmen.

A Woman Under the Influence zum Beispiel, was tut sie? Sie versucht, sich dem «Einfluss», sprich der Kontrolle, den Zwängen und Konventionen ihrer vorgeschriebenen Rolle als Hausfrau-und-Mutter zu entziehen, was für krank, psychiaterreif erklärt wird; dabei sind die andern verrückt, die, die in ihren Rollen verharren. Ben Gazzara in The Killing of a Chinese Bookie tut das exakte Gegenteil: er spielt seine Rolle, die eines Mannes von Unterwelt, der er in keinem Moment gewachsen ist, bis zum bittern Ende weiter. Er stirbt lieber als auszusteigen. Wir möchten ihn ohrfeigen: «Lass’ doch diese Wahnsinnigen stehen, geh’ einfach weg!» Aber er begreift nichts. Cosmo Vitelli heisst er: schön und vital bedeutet das. Dafür hält er sich, das könnte er sein. Nur hat er von Schönheit und Lebenskraft die geltenden falschen Vorstellungen, was er nicht überlebt. Er ist in Wahrheit, statt schön und vital, nur schick und erfolgssüchtig: das, was Cassavetes hätte sein können, aber nicht hat sein wollen.

Er spielt nun seine Partie gegen organisierte Moral und organisierten Film schon manches Jahr. An mehr oder weniger desorganisierten Filmen sind in dieser Zeit, ausser den erwähnten, noch Faces, Husbands und Minnie and Moskowitz entstanden. Ich stelle mir vor, dass es ihm nicht sehr darauf ankommt, was er mit ihnen erreichte, welche «Wirkung» sie haben. Diese Unbekümmertheit ermöglicht es ihm wohl erst, heute noch so zu arbeiten wie damals, in den sechziger Jahren, als sein Stil noch etwelchen vorherrschenden Trends (besonders in Europa) entsprach. Während er jetzt weitgehend allein dasteht mit seinen Spontan- und Improvisiermethoden, nachdem sich das Filmschaffen weltweit auf konventionellere Art des Vorgehens zurückbesonnen hat. Er macht halt Filme nicht zu unserer Erbauung, damit wir uns bessern lernen (das müssten wir dann schon selber tun), sondern für sich selbst, seine Frau und seine Freunde, damit sie auf Erden zusammen eine gute Zeit gehabt haben werden. Der Tod ist an der Arbeit, wer wüsste es nicht. Aber das, siehe Opening Night, sollte uns nicht weiter beelenden. Was interessiert, ist, das Leben an der Arbeit zu zeigen.

Pierre Lachat
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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