MARTIN SCHAUB

SPECIAL EFFECTS — WIE NEU IST «NEW»?

ESSAY

Die Abneigung, die wir (Parteigänger des «neuen Films») gegen Hollywood hegten und die wir auch begründen konnten - das war nicht nur Dämonisierung, das war nicht nur Exorzismus -, hat sich in Skepsis gegenüber New Hollywood gewandelt. Sie äussert sich schon in der Betonung des aktuellen Zauberwortes: New Hollywood oder New Hollywood! Die Skepsis wächst mit jedem unbedeutenden, konventionellen, schlecht gedachten und oberflächlich inszenierten Film, der uns unter dem neuen Etikett angeboten wird. Die Nullitäten sind noch immer in der Überzahl.

New Hollywood hat sich - im Gegensatz zum «New American Cinema», zum «neuen deutschen Film», zur französischen «nouvelle vague» - nie definiert ausser mit seinen Filmen. Die Definitionen haben jene Regisseure, die eine Art «langen Marsch durch die Institutionen Hollywoods» angetreten haben, uns überlassen. Aber wie soll man da definieren, wenn es kaum Linien der Erneuerung gibt, keine deklarierten Ziele?

Der Aufgabe hat sich im Juni dieses Jahres die gesamte namhafte italienische Filmkritik an der Mostra Internazionale del Nuovo Cinema in Pesaro unterzogen. Die Veranstaltung, die seit 15 Jahren das «neu» in ihrem Namen führt, hatte den neuen Film immer auch als jenen gesehen, der dem unbeweglichen «Hollywood-Pinewood-Mosfilm-Cinecittà-usw.-Kino» (Godard) auf den Leib rückte. Die «Mostra» war vierzehn Jahre lang der Ort gewesen, an dem sich die internationale «68er-Filmergeneration» kritisch mit den eigenen theoretischen Positionen auseinandersetzte. Das Hollywood-Kino war mit Werken nie präsent, sondern als der wohlbekannte übermächtige Gegner, dem es - von den Rändern her - zuzusetzen galt. Die «Mostra» war das Meeting der europäischen und zuweilen auch der überseeischen Kino-Resistance. Sie zeigte aus den USA das «New American Cinema» im Zusammenhang, machte mit den Filmen von Robert Kramer (Ice, On the Edge, Milestones) bekannt und mit der Arbeit der News-reel-Gruppe. Und nun «Hollywood settanta». War’s eine Kehrtwendung? Natürlich gab es in Pesaro auch jene unbedingten neuen Americanophilen, die es zum Teil auch aus Widerspruch gegen die «68er» und deren ewiges Kopf-Kino geworden waren, aber die meisten versuchten, ein Phänomen in den Griff zu bekommen, das sich nie selbst deklariert hatte. Man hatte seine Anfänge unterschätzt oder verpasst (weil man mit den eigenen Problemen des «Ideen-Kinos» zu sehr beschäftigt gewesen war) und suchte sich nun mühsam von Apocalypse Now rückwärts bis zu The Graduate durch.

Das plötzliche Interesse der europäischen Kritiker, Theoretiker und Zuschauer für den neuen amerikanischen Film ist zum Teil eine Folge des Niedergangs des «neuen Films». Während die «nouvelle vague» verebbte, das brasilianische «cinema novô» starb, der neue italienische Film nur noch mit Hilfe des Fernsehens überlebte, war das amerikanische Kino wieder erstarkt. Europa war bereit, von den neuen amerikanischen Filmen übernommen zu werden. Ist Hollywood «der letzte Strand des Kinos»? Lino Micciché fragt so in seinem Einleitungsaufsatz zu dem 550seitigen Quellen- und Kommentarwerk, das die «Mostra» herausgegeben hat. (Hollywood 1969-1979; Cinema, cultura, società/Industria, autori, film; Marsilio Editori.)

Die europäischen Kritiker versuchen, New Hollywood in den Griff zu bekommen. Francis Ford Coppola, wohl der Prototyp des neuen Hollywood-Tycoons, hingegen behauptet, der neue deutsche Film sei der beste auf der Welt. Sollten «neuer Film» und «New Hollywood» doch irgendwo in vielleicht schon naher Zukunft sich treffen? Sollte der subjektive Autorenfilm, der ganz und gar in persönlicher Verantwortung entstandene und eine ganz und gar persönliche Position artikulierende Akt der Selbstmitteilung der Fluchtpunkt aller Bemühungen derer, die den Marsch angetreten haben, sein? Gesellschaftspolitische Entwicklungen in den USA scheinen ähnlich zu verlaufen. Die Schwächung der Zentralmacht in innenpolitischer Hinsicht, die Verstärkung der kleinen Netze sind nicht mehr zu bestreitende Trends. Eine eigentliche Opposition (mit einem grundlegend anderen Gesellschaftsentwurf) gibt es nicht. Es gibt nur die Mutation. Vielleicht ist die Mutation die spezifisch amerikanische Form der Dialektik. Vielleicht kommt man ihr mit den orthodoxen materialistischen Begriffen nicht bei.

Um zu unserem Gegenstand zurückzukehren: Der europäische «neue Film» und jener der Entwicklungsländer waren und sind als Kampfmittel und Selbstdarstellung einer wahren Opposition begrifflich verhältnismässig leicht zu definieren. New Hollywood hingegen scheint mir eine Mutationsstufe darzustellen - man spricht ja bereits auch von «New new Hollywood» -, die sich der Analyse immer wieder entzieht. Die Praxis der Mutation hat noch keine Sprache entwickelt, und die Sprache der Konfrontation vermag die neuen Prozesse nicht mehr zu definieren.

Neben den Mutmassungen über New Hollywood gibt es allerdings noch immer auch Gewissheiten. Die Mutationen im Inneren hinderten und hindern die USA bekanntlich nicht daran, eine imperialistische Aussenpolitik zu betreiben. Nur gelingt sie nicht mehr: die Vietnamkatastrophe war der stärkste Beweis dafür. Im Film hingegen funktioniert der Imperialismus noch immer bestens. Während die Produktion mutiert, kommt die Distribution noch immer mit dem alten Hollywood-Schneid daher. Und die zwei, drei, viele Kino-Vietnams, die Godard in seinem Vorspruch zu La Chinoise forderte, sind wieder in weite Feme gerückt. Wir sind Provinzen des Imperiums.

Private Eye oder Die Pistolews

Die Vertreter und Verfechter des US-Films in Europa wollten es selbst in den frühen sechziger Jahren nicht wahrhaben, und doch gab es keinen Zweifel: Hollywood war am Ende. Es hatte seine Muster, sein «geschlossenes Kino» so lange repetiert, bis es keiner mehr sehen wollte. Hier soll nicht die Rede sein von den roten Zahlen der Companies, von den Liquidationen und vom neuen Management. Wichtiger war der Bankrott einer Grammatik, besser wohl einer Rhetorik des Kinos und die Voraussetzungen, die dieser Bankrott für gewisse Neuerungen schuf. Hollywood hatte sich den Kurszerfall in fast masochistischer Weise immer wieder bestätigen lassen, mit Leuten wie Cukor, Minelli und Mankiewicz, mit Musicals, die niemand sehen wollte, und mit Melodramen, patemalistischen Jugendfilmen, Kriegsfilmen, leeren Western, die man auch am Fernsehen serviert bekam.

Der unerwartete Erfolg von The Graduate und wie erst von Easy Rider war auch ein Erfolg der Langeweile, die die Hollywoodfilme der Krisenzeit ausgestrahlt hatten. Jetzt liess sich Hollywood allmählich von den «Nonkonformisten» verführen, nicht so sehr von den Formen und Inhalten ihrer Filme natürlich, sondern von deren Anfangserfolgen. Es gibt sie natürlich noch immer, die unpersönlichen, grammatikalischen, langweiligen Hollywoodfilme, die von ganzen Mannschaften und ihren Stäben mit der ihnen eigenen Disziplin und Unbeweglichkeit in überraschungslosen langwierigen Produktionsprozessen gebaut werden; es gibt aber daneben (und doch im losen Zusammenhang mit der Industrie) die privaten Visionen der Allen, Altman, Ashby, Coppola, Hell-man, Lucas, Mazursky, Nichols, Schröder, Scorsese und Spielberg (um nur ein paar wenige zu nennen).

So wie es immer die Polizeikorps gegeben hat und den Privatdetektiv, den Private Eye, der genau jene Bezirke erforscht, die den konventionellen Aufklärern verschlossen sind, der sich die Hände schmutzig macht, weil ihn die Sache etwas angeht. Im Umgang mit der sich verdunkelnden Welt ist der Private Eye dem Kommissar weit überlegen; er spürt sie, und er spürt sich in ihr. Und er erfindet täglich neue Methoden und neue Tricks.

Die Private Eyes haben ihre Büros in den Seitenstrassen der Boulevards downtown. Roger Corman und andere B-Pictures-Produzenten waren ihre Nachbarn. (Aber lassen wir das Bild, es wird ohnehin irgendeinmal falsch.) Die Vorläufer einiger Filme, die wir heute New Hollywood zurechnen, entstanden in der B-Pictures-Produktion. Weil da weniger Geld auf dem Spiel stand, waren Experimente eher möglich als bei den Prestigeproduktionen der Industrie, und weil sie schneller entstanden und häufiger, konnten sie auch aktueller und modischer sein.

Die Winkelproduzenten heuerten sich junge «Pistoleros» an. (Einige haben heute einen guten Namen: Bogdanovich, Scorsese, Coppola, Hellman usf.) Diese Pistoleros des Films waren jung, schnell, lebendig, rücksichtslos draufgängerisch. Easy Rider fiel keineswegs vom Himmel: Motorrad-, Jugend- und Drogenfilme gab es schon längst bei Roger Corman. Viele Formen, die New Hollywood heute ausmachen, kommen aus dem Billigfilm.

Zoom, Jump cut, Frozen frame and Company

Obwohl New Hollywood - ich meine vor allem die kleineren Filme mit grosser Distribution - in erster Linie einmal andere Geschichten mit anderen Gegenständen und anderem Personal erzählt, sind gewisse formale Eigenheiten feststellbar. Einige sind uns aus europäischen Filmen bekannt, andere scheinen mir «amerikanischer»).

Während der europäische Film zum Beispiel den Zoom rationierte oder gar verpönte, erfüllte er im neuen amerikanischen Film ganz spezifische Funktionen. Der konventionelle Hollywoodfilm goss seine immer wiederkehrenden Problem- und Erzählmuster, Personen und Situationen in Silber, in Bronze, in Blei und zuletzt in Gips. Nicht zuletzt infolge einer normativ grammatischen Decoupage, einer «unspürbaren Kamera», einer homogenen Ausleuchtung der Schauplätze und der Akteure, eines unter klinischen Bedingungen nachsynchronisierten Dialogs entstand dieser Eindruck der Immobilität und zuletzt der Totenstarre. Die klassische Dramaturgie und Handhabung der Technik täuschten auch da noch Sinn vor, wo längst Unsinn herrschte. Sie waren zu potemkinschen Fassaden geworden, zu sinnlosen, nur noch scheinenden Kulissen, zu Leerformen.

Der amerikanische Billigfilm der 60er Jahre riss diese Formen auf: mit ausgiebigem Gebrauch des Zoom-Objektivs (nicht nur für Transfokal«fahrten», sondern auch zur Herstellung jeder möglichen Kadrierung, besonders auch im Nah-und Ganznahbereich), mit kontinuitätsbrechenden, sprunghaften Decoupagen, mit von blendendem Gegenlicht bis zu echter Nacht reichenden Lichtwechselbädern, mit von Hand bewegten Schwenks und improvisierten Fahraufnahmen, mit «verschleppten Schärfefahrten» (d. h. jenen auffälligen Unscharfen, die erst «zu spät» in den logischen Schärfebereich gezogen werden), mit der falschen Teleobjektiv-Nähe, mit zuweilen prekärem Direktton. Einesteils sind diese Techniken Folge der kleinen Budgets, der unwahrscheinlichen («Pistolero»-)Geschwindigkeit, mit denen Unmengen von Filmen hergestellt wurden, andererseits mehr oder weniger bewusst eingesetzte Mittel, um die ehernen Gesetze Hollywoods, die Genres und ihre Moral aufzubrechen.

Hellman, Hopper, Rafelson, Altman, Alan Rudolph, der frühe Scorsese, Corman selber, Henry Jaglom, John Carpenter, Larry Cohen und viele andere mehr verwirrten und vermischten die Genres und die Zuschauer mit solch unorthodoxer Handhabung der Mittel.

Hollywood (und sein Publikum) wies einige dieser Freistil-Filmer allerdings in ihre Schranken. Hellman, Hopper, Rafelson, Jaglom haben auffallend wenige Filme gemacht. Symptomatisch scheint mir die Laufbahn von Dennis Hopper zu sein: The Last Movie, sein zweiter Film, verschwand nach einigen wenigen Vorführungen, und Hopper hat keinen dritten gemacht. Sein Negativismus ging offensichtlich zu weit.

Die zur Schau getragene Ratlosigkeit der Filme der Produktionsgruppe BBS (Bert Schneider, Bob Rafelson, Steve Blonner) und Monte Hellmans Hess sich nur schlecht verkaufen, so schlecht ungefähr wie gewisse europäische Autorenfilme in den USA. Es gibt sie zwar noch immer, die billigen unkonventionellen, in ihrer Gesamttendenz mehr oder weniger zerstörerischen Pistolero-Filme, die aktuelle amerikanische Themen skizzieren und Probleme aufwerfen (ohne sie irgendwie zu lösen zu versuchen), die eineinhalb Stunden (nicht länger!) hektisch oder doch mindestens «ausser Atem» hinter einigen sich unschlüssig bewegenden Figuren her sind, und die in der Regel mit einem frozen frame - bei Two Lane Blacktop von Hellman gar mit einem schmelzenden Einzelbild - mehr willkürlich als logisch zu einem abrupten Ende gebracht werden, aber den Durchbruch hat dieses Kino der Ratlosen und Revoltierten nicht gebracht. Den Durchbruch brachte das «Super-Kino» der ehemaligen Filmstudenten und jener, die - wie beispielsweise Robert Altmann - die Ratlosigkeit immer reicher orchestrierten.

Produkte aller kinematographischen Faktoren

Die B-Pictures waren ein Weg der Erneuerung, die Universitäten und die Filmschulen ein zweiter. Bob Rafelson äussert sich darüber sehr skeptisch:

Die Filmschulen perpetuieren bloss die Tradition und die Wertbegriffe der Studios. Sie lehren ihre Schüler bloss das Publikum zu erreichen und erobern, und nicht einen persönlichen Diskurs zu artikulieren. Die Schulen bringen den Studenten den,Hollywood-Stil’ bei, lehren sie, andere Regisseure und die Filmgeschichte zu analysieren; sie lehren sie nicht, sich auf persönliche Art auszudrücken. Nicht dass das an und für sich schon eine negative Tatsache wäre, aber ich glaube einfach nicht, dass man lernen kann, persönliches Kino zu machen, indem man in eine Schule geht. Das Kino erlernt man, indem man Kino macht. (Hollywood 1969-1979, op.cit.)

Peter Bogdanovich, der zwar beim Kino als Pistolero begann (Targets), war einer jener Kenner und Kritiker, denen Rafelson misstraut. Er war der Ansicht, alle guten Filme seien schon gemacht. Scorsese, Coppola, Schrader, Brian de Palma, Terrence Malick und George Lucas, um wieder nur ein paar wenige zu nennen, waren glänzende Filmschüler, und sie hatten wie Bogdanovich alle die guten Filme kennengelernt und analysiert. Sie absolvierten ihre «Lehre» nicht nur auf Drehplätzen, sondern auch im Kino.

Ihr Überdruss mit der gängigen Hollywoodproduktion der 60er Jahre war wohl nicht geringer als jener der schon genannten Ratlosen und jener der hier nicht zur Darstellung kommenden TV-Regisseure, doch ihre Reaktion fiel anders aus. Sie versuchten nicht nur, den gängigen Hollywood-Stil mit dessen provokativen Negation zu unterlaufen. Sie und einige andere, die entweder über das Fernsehen oder über die Drehbucharbeit zur Regie gekommen waren, haben einen anderen, monumentalen Ehrgeiz kultiviert: das Beste, was sie aus dem europäischen und amerikanischen Film, und das Raffinierteste, was sie in den TV-Studios kennengelernt hatten, zu kombinieren in ihren Super-Filmen, in totalen audio-visuellen Spektakeln: New York, New York und The Last Waltz, Godfather und Apocalypse Now, Jaws und Close Encounter of the Third Kind, The Exorcist, Days of Heaven, Star Wars usf.

Während das Wesen einiger der oben erwähnten Pistolero-Filme geradezu in einer Art Verachtung des Perfektionismus besteht, feiern die neuen Hollywood-Superfilme die kinematographische Technologie, wie sie bis anhin noch nie gefeiert worden ist. Spielberg, Lucas und Coppola ist kein technisches Verfahren zu kompliziert oder zu teuer, wenn es nur die Grenzen des kinematographisch Machbaren einen Millimeter hinauszuschieben verspricht.

Die Technologie und ihr Produkt, der special effect, können jederzeit zum eigentlichen Inhalt einer Szene werden. Es geht dann schon gar nicht mehr um die Abbildung der Wirklichkeit; der Film wird zur einzigen überhaupt in Frage kommenden Wirklichkeit (z. B. in Close Encounter oder in Star Wars, aber auch in Apocalypse Now).

Die neuen Regie-Superstars haben wie der Halbgott Herakles den gordischen Knoten des Kinos - zum Schein, wohlverstanden - gelöst: Sie benützen die Apparaturen, die Techniken und die Menschen als einzige kreative Maschinerie. Sie spielen Gott an den sieben Schöpfungstagen. Sie lassen sich die Hände und die Phantasie nicht mehr binden durch irgendwelche lähmende Reflexion moralischer, politischer oder philosophischer Art über die Fragen der Wirklichkeitsspiegelung. Sie schaffen keine Abbilder, sie kreieren Bilder. The Medium is the message. Es gibt nicht realistisches oder weniger realistisches Kino; es gibt nur die Realität Kino. Und im besten Falle ist diese Realität Kino die perfekte, mit der kompliziertesten Technologie realisierte Projektion einer einzigen Innerlichkeit, der des Autors. («Und Gott erschuf die Welt nach seinem Bild».) Es scheint mir im neuen amerikanischen Kino jetzt Leute zu geben, die in einer Art Flucht nach vom die Problematik der Abbildung zu «überwinden» versuchen.

Ist ein Travelling ein moralisches Problem?

Der neue europäische Film hat die kinematographischen Mittel und Formen problematisiert. Das war (und ist) richtig, vor allem inmitten der bewusstseinslosen Pornographie (Straub), die den Kinoweltmarkt beherrschte (und beherrscht). Godard, der überspitzt formulierte, die Benützung eines Travellings sei eine moralische Frage, erntete bei den Pornographen und bei den pragmatischen Amerikanern Befremden und Hohn.

Aber es gibt im Kino Falschmünzerei, und New Hollywood ist nicht frei davon, im Gegenteil. Weil es keine Lehre hat, riskiert es sie täglich blind. Der europäische neue Film riskierte auf einer anderen Seite ebenso viel. Indem er das richtige Bild suchte - Godard: «Ce n’est pas une image juste, c’est juste une image» -, verlor er zum Teil den Kontakt mit dem Publikum.

Die Europäer reflektierten zuerst, dann machten sie. Die Amerikaner machen und drücken sich um die Reflexion, vielleicht noch lange. Unsere Form-Inhalt-Diskussion ist den meisten Amerikanern völlig fremd. Sie staunen und lassen sich nicht darauf ein, zum Beispiel auf eine formal-inhaltliche Diskussion von Peckinpahs slowmotion oder auf Scorseses Apotheose der Gewalt am Schluss von Taxi Driver.

Sie sind jetzt «einfach» daran, mit den raffiniertesten Techniken neue Bilder und Töne zu suchen. Neue Bilder sind nie ganz falsch; Bilder und Töne werden erst falsch, wenn sie für jeden und zu allem verfügbar und missbrauchbar sind.

In Pesaro haben Theoretiker des neuen Films die «Godard-Fragen» nach den Formen im neuen amerikanischen Film gestellt, nach den Formen, die nie nicht Inhalt sein können. Die amerikanischen Teilnehmer des Kolloquiums über New Hollywood reagierten verständnislos. Sie antworteten ohne Zusammenhang; später verzogen sie sich.

Bevor sie es aufgaben, bemerkte einer der scharfsinnigsten Ästhetiker des neuen europäischen Films, Gianni Toti von «Cinemasessanta» (!) - gar nicht etwa sarkastisch aggressiv, fast hilflos: «Ja merkt Ihr denn nicht, dass sie, wenn Ihr von ‚Form’ sprecht, special effects verstehen?»

Vielleicht muss hier doch noch die Skepsis gegenüber dem «neuen» Kino aus Hollywood schärfer umschrieben werden.

Das Kino hat sich realisiert («Alle guten Filme sind gemacht»); es ist in der Agonie, nachdem die wirklichen Erneuerungen nicht stattgefunden haben. Das amerikanische Kino liegt in der Intensivstation; eine unvorstellbar raffinierte Technologie verlängert das Leben eines Todkranken, aber sie macht ihn nicht mehr jung und lebendig.

Ist es vielleicht das, was mich, vor den grössten Super-Filmen sitzend, nicht ganz glücklich werden lässt? Die Ahnung, dass dieses Kino nur scheinlebendig ist?

Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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