WERNER JEHLE

GESCHICHTE DER KINO-ARCHITEKTUR — ANSTATT EINES VORWORTS

ESSAY

Wer von Filmkultur spricht, meint nicht nur Filme, belichtetes Zelluloid, verfilmte Themen und ihre Realisatoren. Zur Filmkultur gehören die Publikationen, die dem Film ihre Spalten widmen, die seriösen und die weniger seriösen, gehört Starrummel, gehören Filmklubs, Cinematheken und Filmschulen. Der Filmkultur sind aber auch die Orte zuzurechnen, an denen Filme gezeigt werden: die Kinos. Sie zählen zu den interessantesten Bauten des zwanzigsten Jahrhunderts, aber auch zu den verrufendsten. Das liegt wohl daran, dass sie in ihrer äusseren und inneren Aufmachung nicht gerade diskret sind, dass sie hochtrabend feudale oder anrüchige Namen haben, entliehen aus der antiken Mythologie und der Pariser Demi-Monde. Sie wurden nicht für die Ewigkeit gebaut. Dem Stuck und Plüsch im Innern entspricht die Fassadenkulisse mit Transparenten, Spiegelglas, Marmor und Leuchtschriften.

Kaum ein der Öffentlichkeit dienender Bautyp ist so kurzlebig wie das Kino. Das mag wohl daran liegen, dass jede Filmmode, jede Filmgattung, manchmal sogar der einzelne Film Einfluss haben auf die Architektur des Abspielortes. Der Raum, seine Hülle, signalisieren bereits, was sich begibt auf der Leinwand. Mit Ben Hur, Quo Vadis und den Ten Commandements blühten die klassischen Säulenordnungen, das «Palace», «Odeon», «Forum», «Capitol», «Rex» mit möglichst vielen Sitzplätzen. Die «Nouvelle Vague» und das «New American Cinema» präsentierten sich am besten in unprätentiösen Studios. Der Trend, grosse Säle in kleine zu verwandeln, Filmpaläste in Duplex-Kinos, die ihre Namen nicht mehr aus Tausendundeinernacht herleiten, sondern aus der Sprache der Filmtechnik («Camera», «Movie», «Atelien», «Studio»), hat auch etwas zu tun mit der Filmgeschichte der letzten zwanzig Jahre, mit der Entwicklung des Autorenfilms, der Wiederentdeckung des Filmhandwerks gegenüber dem industriell hergestellten Produkt.

Die Parallele «Filmgeschichte-Abspielort» lässt sich am Beispiel des amerikanischen Drive-ins drastisch illustrieren. Eine ganze Zivilisation hat in diesem Typus des Freiluftkinos, das man durch die Windschutzscheibe geniesst, ihren Spiegel gefunden. Nicht verwunderlich, dass in dem Augenblick, da diese Zivilisation, deren Pilotobjekt das Automobil ist, in Frage gestellt ist, die Drive-ins versteppen. Peter Bogdanovich lässt den populärsten Frankenstein-Darsteller Hollywoods, Boris Karloff, ein Symbol auch der Alten Traumfabrik, in «Targets» von 1967 ausgerechnet in einem Drive-in sterben. Ein Topos der amerikanischen Romanze, der Flirt in der Limousine vor flimmernder Bildwand, wird bald nur noch als Zitat aus der Klamottenkiste Hollywoods Verständnis finden.

Die Abspielorte für belichteten Film wandeln sich. Dabei könnte der Film eigentlich überall zu Hause sein. Die Gebrüder Lumière fanden sich bei ihrer ersten Vorführung am 28.Dezember 1895 im «Salon Indien» des Grand Café zurecht. Wer sich um die Vorgeschichte des Films kümmert, findet durchs ganze 19. Jahrhundert hindurch allerlei optisches Gerät, von Physiologen entwickelt, in den Kinderstuben als Spielzeug wieder. Die kleinen Maschinen, die einen Männchen hüpfen sehen Hessen, passten sich im Aussehen und Format häuslichem Gerät an. Man stellte sich mit dem «Lebensrad» oder «Phenakistikop» vor seinen Spiegel, blickte vom Stuhl aus durch die Schlitze der «Wundertrommel», des «Zoetrops», oder schaute über die Kante des «Praxinoskops». Kurbelnd war man sein eigener Operateur. Man war mit Leib und Seele am Geschehen auf der rotierenden Scheibe oder der Schlaufe im Tambour beteiligt. Man selbst bestimmte mit der Hand den Lauf der Kurzhandlung, die auf den Karton gedruckt war. Emile Reynauds Praxinoskop-Theater von 1879 war bereits eine Art Heim-Kino. Gekoppelt mit der Laterna Magica mauserte sich das Spielzeug schon 1880 zum ernst zu nehmenden Filmprojektionsapparat. Reynaud verbesserte ihn und projektierte zwischen 1892 und 1895 seine selbst gezeichneten Animationsfilme im Pariser Musée Grévin. «Théatre optique» nannte Reynaud sein Werk.

Die Verwandtschaft mit dem bürgerlichen Schauspiel und die Theater-Architektur und -Innenarchitektur, von der klassizistischen Fassade über das Foyer bis zur Bühne und dem Vorhang, wirken bis heute auf die Architektur des Kinos. Ein anderer Keim der Ästhetik von Lichtspielhäusern ist im Bereiche des Jahrmarkts, der billigen Vergnügungen, des Budenzaubers und des Variétés des Fin de Siècle zu suchen. Edisons «Kinetoskop», dem Publikum erstmals 1894 zugänglich, war ein Kasten mit einem Sehschlitz und stand in den Vorräumen von Amüsierlokalen. Hinter der Maschine, in der eine Endlos-Schlaufe Zelluloids mit einer kleinen Geschichte drauf ablief, bildeten sich Schlangen. Die Apparate wurden verbessert und mit mehreren Gucklöchern versehen. Sie sind noch heute in Gebrauch in der Dritten Welt. Als der Filmemacher Sebastian Schroeder Anfang der siebziger Jahre Pakistan bereiste, fand er fahrendes Volk Filmschnipsel vorführen mit einem mobilen Kinetoskop. Neben den Nickel-Odeons, die sich aus den Kinetoskop-Arkaden entwickelten, den Lauben, in denen die Black-Boxes Edisons als Münzautomaten standen, kümmerten sich Variété- und Music-Hall-Impresarios um den Film und brauchten ihn als Pausenfüller. Auch fuhr das Kino bis zum Ersten Weltkrieg als Schaubude durch die Provinz. Rudolf Harms schreibt 1926:

Das Kinotheater entstand zuerst auf den Märkten und Messen. Notdürftig gebaute Bretterbuden, Reihen von Holzbänken, ein weisses Tuch und ein handbetriebener Apparat stellten das ganze Inventar dieser ‘Filmtheater’ dar. Es war nicht nötig, den Raum besonders abzudunkeln, die Vorführung geschah im allgemeinen abends . . . Eine Spieldose oder ein Trichtergrammophon sorgte für ‘musikalische Illustration’, ein ‘Ansager’ für Unterhaltung.1

Aus den Bereichen der Unterhaltungsindustrie des 19. Jahrhunderts übernahmen die ersten kommerziellen Filmproduzenten nicht nur die Themen, sondern auch den Vorführstil. Sie nannten die ersten festen Häuser «Globe, Bijou Palace, Pictorium, Imperial, Empire, Jewel». Mittelalterliches, Römisches, Neubarockes, Orientalisches, jedenfalls herrschaftliches architektonisches Vokabular wurde bemüht, um sich dem Pomp von Theatern und Opernhäusern der Gründerzeit anzunähern. Die Architekten, die zitierten, sind weitgehend anonym geblieben. Sie funktionierten wohl im Sinne der Auftraggeber als Dekorateure. Sie antworteten aber auch dem Pathos der ersten Kolossalfilme, etwa Pastrones Cabiria (1913) oder Griffith’ Intolerance (1915).

Wunderliche Formen gigantischen Ausmasses führten die Amerikaner in den zwanziger Jahren ein. Kino-Paläste mit bis zu fünftausend Sitzen entstanden für die gewaltigsten Kostümfilme, aber auch für die Premierenauftritte der ersten Diven und Super-Stars des Show-Business. Auf der Suche nach Luxus und Eleganz des Kinos - «on the search for class» - bildeten sich in den USA um 1920 zwei Architektur-Schulen: die «Standard-» oder «hard-top-school» und die «atmospheric-school». Im Auftrag von S. L. Rothafel, einem als Roxy legendär gewordenen Kino-Ketten-Besitzer, baute der geborene Schotte Thomas W. Lamb erstmals 1914 den Typ des «Moving Picture Palace» im Strand Theatre in der 47sten Strasse am Broadway: über und über vergoldet und marmorverkleidet, mit Pfeileralleen renommierend, von schweren Kristallüstern unter dicken Kassettendecken beleuchtet. Im Orchestergraben hatten ein Dreissig-Mann-Symphonie-Orchester und eine immense Wurlitzer-Orgel Platz. Lamb machte sich einen Ruf als Spezialist im Kino-Design, bekannt wegen seiner Vorliebe für Empire und Louis XVI. Neben ihm arbeitete sich John Eberson, ein in Wien und Dresden ausgebildeter Architekt, empor. «We visualise and dream a magnificent amphitheatre under a glorious moonlit sky in an Italien garden, in a Persian court, in a Spanish patio, or in a mystic Egyptian temple-yard, all canopied by a soft moonlit sky»,2 schrieb Eberson und überwölbte seine stützenfreien Säle, deren Ränder märchenhafte Architekturkulissen bildeten, mit illusionistisch bemalten azurblauen, mittelmeerischen Himmeln von beruhigender Wirkung («therapeutic value»). Das Kino, dem auch noch geräumige Foyers, Wandelgänge und Treppenanlagen vorgelagert waren, war Fluchtburg geworden.

Dort, wo der Film sich eine gewisse Unabhängigkeit von Hollywood bewahren konnte, zum Beispiel in Deutschland, entwickelte sich eine entsprechend selbständige Kino-Architektur. Die Baukunst spielte ja im expressionistischen Film, vom Golem bis zu Metropolis, eine führende Rolle, und dies schlug sich nun auch nieder auf den Stil der Vorführhäuser. 1926 baute Hans Poelzig das Berliner Capitol, sechs Jahre nachdem er die Golemstadt in Paul Wegeners zweiter Version des Studenten von Prag entworfen hatte. Auffallend die sachliche Fassade, in deren zurückhaltend klassizistischem Gebälk sowohl die Leuchtbuchstaben des Kinobetriebs als auch die Schriftzüge der im gleichen Gebäude untergebrachten Läden Platz fanden. Den Innenraum überwölbte Poelzig mit einer stucküberzogenen polygonalen Schale, in deren Lamellen sich indirektes Licht vielfältig verfangen und brechen konnte. Höhepunkt des deutschen Kinodesigns der zwanziger Jahre bildete jedoch Mendelsohns Universum am Berliner Kurfürstendamm. Als Erstaufführungshaus der UFA wurde es zwischen 1926 und 1929 realisiert und fand so viel Anklang, dass nach dem gleichen Muster weitere UFA-Paläste gebaut wurden: in Koblenz 1930 und in Danzig 1931. «Gepflegten Prunk» der Oberfläche hat Siegfried Kracauer den neuen Berliner Kinos der zwanziger Jahre bescheinigt:

Sie sind wie die Hotelhallen Kultstätten des Vergnügens, ihr Glanz bezweckt die Erbauung. Eröffnet aber auch die Architektur Stimmungskanonaden auf die Besucher, so fällt sie doch keineswegs in das barbarische Prangen wilhelminischer Profankirchen zurück...3

Klar, dass in Russland nach der Oktober-Revolution auch keine Kristallpaläste mehr gebaut wurden. Eisensteins, Pudowkins, Dowshenkos, Vertovs Filme befassen sich mit dem Alltag der Massen, mit den historischen Ereignissen der Gegenwart und wollen ihr Publikum wachrütteln und nicht in Trance versetzen. Dementsprechend braucht der Raum, in dem gespielt wird, keine stimmungshaften Ingredienzen. Dsiga Vertov, einer der konsequentesten Vertreter des russischen Revolutionsfilms, geht davon aus, dass seine Zuschauer auch die Beteiligten am Film sind und plant das Kino als kollektiven Kommunikationsort, als Faktenfabrik.

1926 fordert Vertov:

Die Fabrik der Fakten. Aufnahmen von Fakten. Sortierung von Fakten.

Verbreitung von Fakten. Agitation mit Fakten. Propaganda mit Fakten. Fäuste von Fakten.

Blitze von Fakten.

Berge von Fakten.

Wirbelstürme von Fakten.

Und einzelne kleine Fäktchen.

Gegen die Filmzauberei.

Gegen die Filmmystifikation.

Für die wahrhaftige Kinofizierung der Arbeiter-und-Bauern-UdSSR.4

Der so verstandene Film verlangt nach einer Kultur-Maschine als Heimat, nach einem Haus mit vielfältigem Nutzungsangebot, wie es die Arbeiterklubs darstellen, etwa das Moskauer Gebäude des Rusakow-Klubs (1927-1929) von Konstantin Mjelnikow. Dieser Klub mit seinem zahnradförmigen Grundriss könnte im Sinne von El Lissitzky, einem anderen Revolutionskünstler, als «soziales Kraftwerk» verstanden werden. Auch das Modell für die «Leningradskaja Prawda» von 1924, ein Werk der Gebrüder Leonid, Viktor und Alexander Vesnin, dürfte illustrieren, welche Orte sich die russische Filmkultur geschaffen hätte, wäre ihr revolutionärer Höhenflug in den dreissiger Jahren nicht jäh gestoppt worden durch die Administration Stalins. Mit dem Plan für ihr Zeitungsgebäude liefern die Vesnins das Modell einer transparenten Maschine der Information und Kommunikation. Von aussen einsehbare Liftschächte, vornübergeneigte Leuchttafeln und Scheinwerfer, mit denen Nachrichtenhätten auf Wolken projiziert werden können, eine monumentale Uhr, Lautsprecher und Fahne hätten zum Wahrzeichen revolutionärer Dynamik gepasst. Die Räume für den Zeitungsverkauf im Erdgeschoss, der Lesesaal im ersten, Büro und Anzeigenannahme im zweiten Obergeschoss sowie die Redaktionsräume darüber wären ausgestellt gewesen wie in einer Vitrine. Der Holländer Jan Duiker hat die Idee 1934 in seinem Amsterdamer Handelsblad Cineac-Gebäude meisterlich verwirklicht.

Vertows Faktenfabrik ist vielleicht im Kinozug von Medvedkin am klarsten verwirklicht. Im rollenden Studio -Kinemathek, Filmlabor und Vorführsaal in einem - konnte das Filmteam direkt reagieren aufs Publikum in der Provinz.

Während die kantige Ästhetik der russischen Revolutionsarchitektur oder Duikers durchsichtiger de-Stijl-Kasten offenbar keine Schule machten, gewann der Mendelsohn-Typus oder jedenfalls dessen dynamisch wirkender Design mit den die Stromlinien-Silhouette betonenden Halo-Streifen an Popularität. In England erklärte der Inhaber der 1933 gegründeten Odeon-Kino-Kette, Oscar Deutsch, den expressiven, aus geschwungenen plastischen Körpern komponierten Filmpalast zum verbindlichen Modell. Er schrieb 1937:

It was always my ambition to have buildings which were individual and striking, but which were always objects of architectural beauty... we endeavour to make our buildings express the fact that they are specially erected as the homes of the latest, most progressive entertainment in the world today...5

Das Architekturbüro von Harry W. Weedon in Birmingham lieferte die meisten Entwürfe für die Odeons, von denen es Mitte der dreissiger Jahre dreihundert gab.

Diese Sorte von Architektur ist durch und durch städtisch. Ihre geschwungenen Partien, ihre horizontalen Lichtstreifen scheinen auf den grossstädtischen Verkehr zu antworten, dem Glanz des Boulevards in der Nacht. Typisch, dass das Büro Weedon seine Ansichtspläne mit Vorliebe in nächtliches Dunkel tauchte: regennasses Pflaster, auf dem sich die Lichtkegel der Autoscheinwerfer spiegeln, die Schatten der Passanten. Darüber die technoide Architektur, deren integrierender Bestandteil das Neonlicht ist. Der Asphalt-Dschungel der amerikanischen «Schwarzen Serie», die grossen Gangsterfilme, Little Caesar, Scarface, Angels with dirty Faces, tatsächlich auch die erfolgreichsten der Dreissiger, sind zu Hause in dieser Welt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzten sich in Europa die amerikanischen Muster wieder durch. Mit den überlangen Kolossalfilmen in Farbe - zunächst Gone with the Wind, später Quo Vadis, The Ten Commandments, Ben Hur (teilweise Neufassungen von Stummfilm-Erfolgen) -, aber auch mit einer Serie von Kriegsfilmen und Western eroberte Hollywood noch einmal den internationalen Markt und gab wieder den Ton an für die Erwartungen und Ansprüche des Publikums an die Stätte der Vorführungen. Die abstrakte Kunst der Plastiker Arp und Calder, der späte Expressionismus des Berliner Philharmonie-Architekten Hans Scharoun, der in den Niederungen der Massenproduktion und des Massenkonsums bald zum unerträglichen Nierentisch-Stil verkam, vermischte sich in den Kinointerieurs und Fassaden mit der aus den USA importierten Ästhetik von Las Vegas. Als schönes Beispiel eines Interieurs jener Tage sei das Mannheimer Alhambra genannt mit seinen wellenförmig geschweiften Balkonen, die Oberflächenreiz und Eleganz mit Funktion verbinden. Deutlich lässt sich der Niederschlag der aktuellen Kunst auch spüren im Corso von Lugano.

Seit den sechziger Jahren, seit der Film wieder als selbständiges Medium und nicht einfach als Transportmittel von Geschichten und Illusionen diskutiert wurde, kam der Begriff des Kinos als Maschine wieder auf. Das neunzigsitzige Kino von Anthology Film Archives in New York ist vom Österreicher Peter Kubelka «als eine Maschine für das Ansehen von Filmen» entworfen worden. Alle Elemente des Raums sind schwarz, vom Bodenbelag über die Sitze, die Wände bis zur Decke. Der Anstieg der Reihen und die Sitzhauben bewahren die ungehinderte Sicht auf die Leinwand. Blenden verhindern seitliche Ablenkung. Kubelka nannte sein Werk «unsichtbares Kino». «Kritische Faktoren des Hörens, der Körperhaltung und Projektion sind in der Konstruktion des Raums sorgfältig bedacht worden. Im Entwurf der Akustik haben wir die beste verfügbare Ausstattung eingebaut: die Wände sind speziell überzogen, isoliert und bespannt worden; die Sitzhauben sind gemacht worden, um den Ton aufzufangen, der von der Mitte der Leinwand kommt.»6

Das «unsichtbare Kino» am Astor’s Place in Greenwich Village konnte am 30. November 1970 eröffnet werden. Möglich wurde das Unternehmen im Klima des New American Cinema, dessen Vertreter sich seit Beginn der sechziger Jahre organisieren. Herbert Linder schreibt:

Sie gründeten die Film Maker’s Cooperative (eine genossenschaftliche Verleihorganisation, The international Exposition of the New American Cinema (eine Wanderausstellung . . .) und The Film-Maker’s Cinematheque (eine ständige Spielstelle von Filmen des New American Cinema, aber noch ohne festen Sitz); aus der letzteren sollte schliesslich Film Art Funds hervorgehen, als gemeinnützige Firma Träger zweier Cinematheken, von denen Anthology’s Film Archive mit ihrem festen geschlossenen Programm die eine ist.. .7

Das Anthology Cinema ist also eingebettet in eine ganze Kultur, in eine Szene, die neue Ansprüche an den Film heranträgt. Es ist entstanden zu einer Zeit des Kinosterbens, zu einer Zeit, da das Fernsehen in manchen Ländern die Hauptrolle zu spielen begann bei der Verbreitung von Filmen.

Film und Fernsehen bedeutet zwar in vielen Fällen eine optimale Information über einen Film, nie aber den Film selbst. Andererseits: die Krise des Films ist nicht nur eine Krise der (fernsehunabhängigen) Produktion, ist nicht nur die schwerwiegende Krise der Filmverteilung, der Filmförderung, sondern eben auch eine Krise der Lichtspielhäuser. Kein Glied der langen Kette zwischen Filmbelichtung und Filmbesichtigung ist allein schuld, aber jedes trägt mehr oder weniger zur Flaute bei.8

Wenn ich ein kleines Kino sehe, eingebaut in die Passage eines Theaters, die Vorführmaschinen als Blickfang benützend statt der Zinnen der Alhambra, wenn es «Atelier» heisst statt «Elite», glaube ich, dass die Flaute überwunden ist. Die Möglichkeit des Kinos als Maschine muss ein Symptom sein für den Aufwärtstrend der Filmkultur. Das Atelier steht übrigens in Basel.

Rudolf Harms, Philosophie des Films - seine ästhetischen und metaphysischen Grundlagen, Leipzig 1926, benutzte Auflage Zürich 1970. S. 61.

Dennis Sharp, The Picture Palace and other buildings for the movies, London 1969. S. 74.

Siegfried Kracauer, Kult der Zerstreuung in: Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse, Frankfurt/M. 1963, S. 311-317. Zitiert nach Karsten Witte, Theorie des Kinos, Ideologiekritik der Traumfabrik, Frankfurt/M. 1972. S.230.

Wolfgang Beilenhoff (hrsg.), Dziga Vertov, Schriften zum Film, München 1973. S.33.

Sharp, Picture Palace, a. a. O. S. 140.

Manifest des unsichtbaren Kinos, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 50, 27728. Februar 1971.

Herbert Linder, Anthology’s Cinema: ein Musterkino? in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 50, 27728. Februar 1971.

Alf Brustellin, Manifest des unsichtbaren Kinos, in Süddeutsche Zeitung, Nr. 50,27728. Februar 1971.

Werner Jehle
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]