MARTIN SCHAUB

KINOTRÄUME — EIN FEUILLETON

ESSAY

Überall hat der Film seine Bilder und Töne geholt, aber nicht überallhin hat er sie auch zurückgetragen. Die Filmer scheuten keine Mühen und Kosten, um auch in den entlegensten Ecken der runden Welt den Reflex von Menschen, Tieren und Sachen auf die lichtempfindliche Schicht - auf den Film eben - zu bannen. Aber die Projektoren und Generatoren schleppten sie in diese hintersten Ecken nicht zurück. Der feedback interessierte die Bilderjäger weniger. In plombierten Büchsen trugen sie die Beute in die Metropolen der industrialisierten Welt. Dann machten sie die «fremden Sitten und Bräuche» dem staunenden Kinopublikum bekannt.

Das Kino war immer etwas träger als der Film. Extremer noch: Als der Film immer beweglicher, nomadischer wurde, entschloss sich das Kino zur Sesshaftigkeit. Die Kinopaläste, die in diesem Heft in Wort und Bild dokumentiert werden, zeigen es deutlich. Dabei wäre das Kino-Zelt noch lange möglich gewesen, die mobile Schau-Bude.

Kino könnte überall sein, nicht nur an der Hauptstrasse, am Broadway.

Angestellte der Firma Lumiere in Lyon hatten es ganz zu Beginn der Karriere dieser «Erfindung ohne Zukunft» (Louis Lumiere) bewiesen. Sie trugen die Bilder bis nach Bombay (z. B.); sie brachten viele Bilder und holten nur wenige.

Auch das Kino könnte Räder haben, Alexander Medvedkin hat es uns gezeigt: «Heute filmen wir, morgen montieren wir, übermorgen führen wir vor», das war die Idee. Film und Kino als einzige Produktionseinheit. «Die Idee war interessant», schreibt Medvedkin in seinen Erinnerungen, «aber sie hatte noch keine Räder. Es war im Jahr 1931. Alte Wagen gab es in dem Land katastrophal wenige, und neue machte man noch nicht. Die Züge waren alle überladen. Meine Eltern erinnern sich an Schlachten vor den Billetschaltern. - Endlich kam der glücklichste Tag meines Lebens: Man gab uns drei kranke Wagen, man führte sie zur Fabrik, und unter unseren Augen weidete man sie aus, um darin eine Produktionseinheit installieren zu können.»

Damals habe der Film noch gelebt, ohne sich beeilen zu müssen. Aber Medvedkin und seine Mitarbeiter machten ihm nun Beine. 2000 Meter Film hatte man in einer Nacht entwickeln können, «sogar bei rollendem Zug». Alle Aufnahmeapparaturen führte er mit, ein Labor, Montagetische, sogar einen Tricktisch - worauf die berühmten Kamel-Geschichten entstanden - und selbstverständlich die Projektionseinrichtungen. Fünf Reisen hat der Kinozug zwischen dem 25. Januar und dem 11. Oktober 1932 unternommen. 16 Filme in der Gesamtlänge von 5830 Metern sind entstanden. Aber das war lange nicht alles. 67 Projektionen mit anschliessenden Diskussionen - nicht nur über die Filme, sondern über die in den Filmen dargestellten Sachen - nennt die Erfolgsrechnung des Kino-Zugs. Und: 35 Gründungen technischer Fortbildungsstätten, 13 Installationen von technischen Stützpunkten, 18 Änderungen bei den Herstellungsprozessen in den Fabriken, bei denen der Kino-Zug Halt gemacht hatte. Schliesslich: 48 Versetzungen oder gar Bestrafungen schlechter Arbeiter. Dafür war der Zug schliesslich gerollt. Nicht um der schönen Siebenten Kunst, sondern um der Verbesserung der Produktion willen.

In der Bundesrepublik zirkulieren zwei von Immobilienbesitzern und Stromnetz völlig unabhängige Kino-Mobile. Wo eine Strasse - selbst dritter Klasse - hinführt, da kommt auch ein Kino-Mobil hin. Ausrangierte Militärfahrzeuge ziehen zwei Kinos durch die Landschaft. Sie machen vorwiegend in Dörfern und Kleinstädten Station, in denen das sesshafte Kino den Geist aufgegeben hat oder zeigen Filme, die die Sesshaften aus Rentabilitätsgründen nicht zu zeigen wagen. Kommt der Berg nicht zu Mohammed, geht Mohammed zum Berg. Aufwendig ist die Sache schon: Ein Zelt muss aufgestellt werden, und heizbar muss es sein; ein Stromgenerator gehört auch zur Ausrüstung; nicht zu vergessen das Kassehäuschen und das andere. Die deutsche Filmförderung lässt sich diese Idee auf Rädern ein geringes kosten; darum rollt sie noch immer.

Es ginge wohl auch etwas einfacher. Ich habe mich lange gefragt, weshalb der Filmpool bei uns nicht jene Idee aus den «heroischen Zeiten» des neuen Schweizer Films wiederaufgenommen hat, die damals von Köbi Sieber propagiert wurde: den Cine-Circus. Als die Leute nicht kamen, weshalb ging man nicht zu den Leuten? Ein Grosslieferwagen hätte genügt: Mit Projektoren und Lautsprechern, einem Umroller, einer anständigen Klebepresse, den Kopien, diversem Verbrauchsund Kleinmaterial (inklusive Fotokopierer und Letraset); auf dem Dach Leinwände verschiedener Grösse und die entsprechenden Gerüste. Alles bestes Material; und einer, der es zu benützen weiss. In den Vereinssälen, den berühmten, im «Löwen» und im «Adler». Überall dort, wo ein Kinobesuch schon wegen des Wegs (und zudem auch wegen des Programms) eine Zumutung ist. Für einen solchen Kinobus müsste man doch Subventionen finden, und wenn keine Subventionen, Sponsoren.

Nur zeitweise beschäftigte Filmtechniker und Realisatoren als Filmzirkus-Direktoren. Die Bilderjäger als Bilder-Bringer! Man könnte sich das vielleicht noch heute überlegen, da das Fernsehen in die vom Film/Kino gelassene Lücke gesprungen ist. Hat es nicht ausserhalb der Städte so leichtes Spiel gehabt, weil das Kino nicht mehr dort war? Man müsste in der Praxis erproben, ob das Spiel schon ganz verloren ist. Und vielleicht bevor die Kinowirtschaft ganz gross auffährt: mit Hunderten von Magnetbandkopien neuer Filme und perfektionierten «Videokanonen», die aus jedem Zimmer mit Stromanschluss ein Kino machen.

Das Kino und die Kinos als städtische Phänomene. Langsamer Rückzug in die Gebiete der grössten Bevölkerungsdichte; die Felder räumen. In Amerika nicht vollständig: Zwischen den «Feldern» und den Städten, im Niemandsland sozusagen die «Drive-ins». Die einen fahren zum Kino «hinein», die anderen «hinaus». Aber alle bleiben irgendwie «zuhause» - vereinzelt, auch zu zweit -, im Auto zuhause. Wie lange wird das noch funktionieren? Es gibt bereits Drive-ins, die am Versteppen sind.

Lassen wir auch das und fragen: Funktioniert das Kino in seinen Reliktgebieten, den Broadways aller Städte der westlichen Welt?

Das Kinosterben hat bei uns in den fünfziger und sechziger Jahren auch auf die Städte übergegriffen und konnte erst in den siebziger Jahren gestoppt werden. Aber die wachsende Zahl der Kinos kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Zahl der Plätze jene der dreissiger und vierziger Jahre nicht wieder erreichen wird. Früher waren die Kinos Kathedralen, heute sind sie Kapellen (Hauskapellen, angegliedert und eingegliedert in grössere Komplexe). Noch verweist man uns Kinoliebhaber nicht regelmässig in die Keller, Bunker und Katakomben. (Machen wir uns keine Illusionen; zum Teil bewahren uns feuer- und sicherheitspolizeiliche Vorschriften vor dem Gang in den städtischen Untergrund mit seinen noch erschwinglichen Mietpreisen.)

Das Kino ist nicht mehr, was es war. Es ist aber auch nicht, was es sein könnte. Es könnte mehr sein als Schnell-Imbiss mit unterscheidbarer Aufmachung und fast ununterscheidbarem Angebot. Es könnte auch jetzt noch ein Umschlagplatz von Ideen und Meinungen sein und ein Ort der Begegnung.

Man wird diesen Ort vom streng kalkulierenden Kinogewerbe nicht fordern dürfen. Hier wartet eine Aufgabe auf die öffentliche Hand. Ein Dutzend kommunale Medienzentren zwischen Genf und St. Gallen, Schaffhausen und Lugano würde nicht gerade ideale Zustände herstellen - sie gab es nie und wird es im Zeitalter des Satellitenfernsehens schon gar nicht geben. Aber ein Dutzend kommunale Medienzentren in der Schweiz würden das Kino bestimmt lebendiger und interessanter machen, als es heute ist.

Siebzig Millionen Franken gibt der Staat Zürich (zum Beispiel) jährlich für seine Kultur aus, 100000 Franken - das sind 1,4 Promille - davon für die Förderung der Filmkultur. Damit kann man jedes zweite Jahr kleine Filmpreise verteilen, und damit kann man sporadisch ein Kino mieten für Vorführungen des «Filmpodiums», und damit kann man einige alte oder neue Filme kommen lassen.

Auf jeden Sitz in der Tonhalle, im Schauspielhaus und im Opernhaus legt die öffentliche Hand allabendlich so zwischen 50 und 100 Franken. Wieviel legt sie auf einen Kinosessel im «Filmpodium»? Jedenfalls bestimmt nicht so viel, wie der Filmliebhaber auf den Tisch des Hauses legt: stolze sieben Franken immerhin («Ermässigte: Fr. 6.-»).

Mit einer Million - das sind 1,4 Prozent der derzeitigen Kulturausgaben - jährlich könnte die Stadt Zürich ein Medienzentrum betreiben. Wir reden hier nicht vom Bau, denn auch bei den genannten 70 Millionen war nicht die Rede von Schauspielhausrenovation und Opernhausneubau. Mit einer Million betreibt man einen grossen Saal (200 Plätze) und einen kleinen (50 Plätze), einen Video-Showroom, ein kleines Videostudio (postproduction facilities), eine kleine Bibliothek und ein Café. Vier ständige Angestellte und eine Putzmannschaft kosten bestimmt nicht einmal eine Drittelmillion, Wasser, Heizung, Zinsen den Rest bis zu 500 000 Franken. Mit einer halben Million und dem, was die Besucher bringen, könnte man arbeiten, kulturell arbeiten. Unter anderem für viele, die Schauspielhaus und Oper nur von aussen kennen.

Eine Medienmaschine zur Verfügung der Öffentlichkeit, ein Ort für all jene, die gezielt Filme vorführen wollen, von Lehrern mit ihren Klassen bis zu spezialisierten Filmklubs und zur Cinémathèque. Sie stünde einfach da, zur Benützung frei. Und kein Ratsmitglied verlöre die Nerven, wenn es hörte, dass in dieser oder jener Vorführung nur zehn Leute waren. Weil jeder wüsste: das Medienzentrum steht zur Verfügung wie die Strandbäder und die Parke, wie die Universität und wie die Kirchen. (Die kosten ja den Staat auch recht viel, wenn man den spärlichen Kirchenbesuch bedenkt.)

Ich träume. In dem Traum kommen keine Stadtväter vor, die auf dringlichere öffentliche Aufgaben hinweisen und auf den ach so armen Staat, keine Parlamentarier, die das «ganz interessant» fänden und im Rat bereits gegen einen Planungsauftrag stimmten, keine Mitbürger, die den Baukredit und die jährliche Subvention bachab schickten, und keine Kinobesitzer, die um ihr Ein- und Auskommen fürchteten und sich irgendwie monopolistisch aufführten.

In meinem Traum finden die Stadtväter die Forderung eines von der Stadt gebauten und betriebenen Medienzentrums nur gerecht, die Parlamentarier finden es sinnvoll, dem Kinogewerbe kommt es nützlich vor für die allgemeine Promotion des Films im TV-Zeitalter. Und die Stimmbürger bewilligen Baukredit und jährliche Subvention, weil sie sich auf einen Besuch im Medienzentrum freuen.

«Man muss träumen können», hat einer gesagt zu Beginn unseres Jahrhunderts, wenn man etwas verändern will. Wer war’s doch schon wieder?

Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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