BERNHARD GIGER / MARTIN SCHAUB

NORMALE PRODUKTIONEN: NORMALE FILME

CH-FENSTER

Bernhard Giger: Bei den Visionierungen für den Wettbewerb des Filmfestivals von Locarno hatten wir, die Commissione Artistica, grosse Schwierigkeiten mit den Schweizer Filmen. Wir haben an einem Nachmittag fünf Filme gesehen, wobei wir bei jedem eigentlich schon nach zwanzig Minuten das Gefühl hatten, wir möchten lieber abstellen und gar nicht mehr weiterschauen.

Für mich war das etwas Neues, weil ich bisher Schweizer Filme meistens bis zum Ende angeschaut habe, mit einer gewissen Lust und einem gewissen Interesse. Ich glaube, was uns da passiert ist, entspricht der gegenwärtigen Lage des Schweizer Films. Ich frage mich, ob diese Situation sich wieder ändern wird und kann, oder ob sie - ein bisschen provokativ gesagt - der Anfang von einem Ende ist.

Martin Schaub: Man müsste hier vielleicht beifügen, dass es sich bei diesen fünf Filmen1 um Produktionen gehandelt hat, die am Rande entstanden sind. Am Rande heisst immer: ohne Filmforderung. Bis auf einen Fall, Simon Edelsteins Un homme en fuite. Die anderen waren billige Produktionen, waren auch Erstlinge. Aber die Krise der Filmförderung möchten wir in diesem Gespräch ja nicht in den Mittelpunkt stellen. Ich finde es gefährlich, wenn man sagt: 1980 werden wir eben wenig Filme und wenig gute Filme haben, weil die Filmförderung nicht mehr klappt. Das stimmt einerseits. Auf der anderen Seite ist es eine Ausrede. Ich habe schon viele Filme gesehen, die fast nichts gekostet haben und die wunderschön waren, und ich habe Millionenfilme gesehen, die mich absolut kalt gelassen haben, und wo ich mit Gründen sagen kann, das sind schlechte Filme. Die Diskussion über die Filmförderung, über die mangelnden Mittel, muss geführt werden, aber neben dieser Diskussion dürfen wir die andere nicht vergessen, jene über Kreativität, über Phantasie, über Innovation. Wenn die Filmförderung fast tot ist, heisst das noch lange nicht, dass Filme nicht lebendig sein können.

Bernhard Giger: Gibt es denn überhaupt noch lebendige Filme in der Schweiz? Gibt es noch Filme, wo man rauskommt und nicht nur denkt: «Na gut, jetzt haben wir einen Schweizer Film gesehen und es ist sehr schön, dass es wieder einen neuen gibt, dass all die Schwierigkeiten überwunden wurden, so einen Film zu machen»? Gibt es noch Filme, wo man rauskommt wie nach - der Vergleich ist jetzt ein bisschen sehr hart - wie nach Padre Padrone und sagt: «Ja, das ist jetzt wieder das, was wir vom Kino erwarten, das ist ein Film, bei dem wir wieder an das Kino glauben können.»

Ich finde schon, dass es solche Filme noch gibt, aber sie sind im Vergleich zu früher selten geworden und sie werden, was mich manchmal schon fast traurig stimmt, nicht mehr mit dem gleichen Interesse aufgenommen wie früher. Ich denke da etwa an die Reaktionen auf Clemens Klopfensteins Geschichte der Nacht, als er letztes Jahr in Solothurn lief: Ein paar Kritiker und ein paar Liebhaber sind total abgefahren auf dem Film, andererseits aber hat sich das Kino bei den zwei Vorstellungen innert kürzester Zeit halb oder sogar dreiviertel geleert. Enttäuschend war für mich auch, dass recht viele Kritiker diesen Film in ihren Berichten aus Solothurn irgendwie fast beiläufig erwähnt haben.

Martin Schaub: Ich würde neben Geschichte der Nacht vielleicht noch vier Filme nennen, die letztes Jahr für mich ein Ereignis waren, vielleicht fünf, und wenn ich ganz grossherzig bin, sechs. Für mich gehört Alain Tanners Messidor in diese Elite, aber auch Beat Kuerts Schilten und Grauzone von Fredi Murer, bei den Dokumentarfilmen Behinderte Liebe. Aber dahinter kommt der gute Durchschnitt, wenn’s hochkommt, und manchmal auch ein etwas schlechterer Durchschnitt.

Mir fällt auf, und ich möchte das nicht einfach als Nostalgie verstanden wissen nach den heroischen Zeiten des Anfangs, dass wir jährlich zwei Dutzend längere oder mittellange Filme haben, die handwerklich gut bis ausgezeichnet gemacht sind, dass es aber nur diese kleine Anzahl von wirklichen Treffern gibt. Unter «Treffer» würde ich Filme verstehen, die etwas in Bewegung setzen in mir. Ich kann das beispielsweise von keinem einzigen Film behaupten, der im Auftrag des Fernsehens entstanden ist; ich sehe einzelne Qualitäten in diesen Filmen, ich spüre aber nicht die Qualität, die mich wirklich in Bewegung setzt. Und ich frage mich nach lauwarmen Filmen, ob denn all die Fremdbestimmungen schuld sind - Erfolgszwang im Kino, Erfolgszwang auch im Fernsehen, Dramaturgie des Fernsehens - oder, um es wirklich einmal ganz brutal zu sagen, ob allenfalls nicht die richtigen Leute Filme machen in der Schweiz. Ob es bereits so weit gekommen ist, dass die richtigen Leute sich schon kaum mehr daran wagen, einen Film zu machen. Ich glaube, in der Schweiz wird seit Jahren zu viel vom Geld gesprochen und zu wenig von der Anordnung von Bildern und Tönen, von der Entwicklung von Phantasie.

Bernhard Giger: Ich kann da von einer persönlichen Erfahrung berichten, einer Erfahrung, die nicht nur ich gemacht habe: Ich plane jetzt einen Film, und ich möchte mit verschiedenen Leuten darüber sprechen. Meistens aber, wenn ich das erwähne im Gespräch, gibt es - im extremsten Fall - Leute, die mir gleich mal abraten, einen Film zu machen, weil es in der Schweiz sowieso schon zu viele Filmemacher gibt und zu viele Filme gedreht werden und zu wenig Geld da ist. Und dann gibt es jene, die anfangen zu fragen: «Hast du beim EDI schon eingegeben? Hast du überhaupt schon Geld?» Andere wollen mich davon überzeugen, den Film nicht schwarz-weiss, sondern farbig zu machen, weil ein schwarz-weisser Film beim Fernsehen weniger Chancen habe, zu einer guten Zeit ausgestrahlt zu werden. Sehr wenige interessieren sich wirklich für das, was ich machen will. Den meisten genügt es, wenn ich kurz meine Geschichte erzähle. Warum ich gerade diese Geschichte erzählen will, was sie für mich bedeutet, interessiert weniger.

Das ist auch etwas, was man in den Diskussionen, in Solothurn beispielsweise, jahrelang erlebt hat, dass man nach einem Film zuerst danach gefragt hat, wo er denn aufgeführt werden könne, dass man das einem Filmemacher schon zum Vorwurf macht, wenn er nicht bewusst fürs Kino oder fürs Fernsehen oder für die nichtkommerziellen Spielstellen einen Film macht. Das engt die Entfaltung eines freien Filmschaffens ungeheuer ein.

Martin Schaub: Man könnte vielleicht ganz kurz sagen, das Schweizer Filmschaffen habe sich normalisiert, zwar schlecht normalisiert, aber normalisiert. Man macht einen Kinofilm, oder man macht einen Dokumentarfilm fürs Fernsehen und einige Vorführungen im Parallelkino, und der Werdegang eines solchen Projekts ist ganz klar vorgezeichnet. Eingabe an den Bund, Eingabe ans Fernsehen, Gespräche mit Verleihern für eine Verleihgarantie usw., und wenn die Verhandlungen nicht zu einem guten Ende kommen, macht man den Film nicht. Ich meine nicht, dass ein Filmemacher sich in gigantische Schulden stürzen sollte, aber es erstaunt mich eigentlich wie zusehends nur noch normale und normal finanzierte Projekte durchgezogen werden. Die Unvernünftigen sterben aus, es gibt nicht mehr jene Filmemacher, die, koste es was es wolle, ihre Sache - nötigenfalls allein, nötigenfalls mit zwei, drei Freunden, nötigenfalls über eine Produktionszeit von drei Jahren - durchkämpfen und durchstehen.

Es gibt eine Erscheinung, die vielleicht einzigartig ist, und sie wirkt besonders komisch in einem Land, in dem es wenig Mittel gibt, um Filme zu machen. Es gibt keinen namhaften Schweizer Filmregisseur, dessen Filme nicht immer teurer werden. Keiner ist einmal vom Millionenfilm zurückgekommen zum Zweihunderttausendfrankenfilm. Alain Tanner sagt zwar, er sei jederzeit dazu fähig. Aber er müsste es erst noch beweisen.

Normale Produktionen, normale Filme. Ich glaube, ein gewisser Überdruss ist damit erklärt. Der Schweizer Film hat einige Formen entwickelt, die hier machbar sind, und diese Formen werden repetiert. Es gibt beim Dokumentarfilm das, was Alain Tanner den «Dossierfilm» genannt hat, es gibt beim Spielfilm das, was deutsche Fernsehanstalten «Dokumentarspiel» nennen, und auf diesen zwei Gleisen scheint doch im Allgemeinen - von wenigen Ausnahmen abgesehen - der neue Schweizer Film im Moment mehr schlecht als recht zu laufen.

Melancolie Baby, Ciarisse Gabus; Indian Summer, Michael Nussbaumer; Moon in Taurus, Steff Gruber; Un homme en fuite, Simon Edelstein; Queen Lear, Mochtar Chorfi.

Bernhard Giger
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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