MARTIN SCHAUB

DER HANG ZUR WELTVERBESSERUNG — GESPRÄCH MIT HEINY WIDMER

CH-FENSTER

Wir können feststellen, dass im Schweizer Film in den letzten zehn Jahren eine eminente Verbesserung auf technischer Ebene eingetreten ist. Wenn man heute die «alten» Filme -zum Beispiel Fredi Murers Bernhard Luginbühl - anschaut, stellt man eine wenig professionelle Kamera, einen unkultivierten Schnitt, ein eher improvisiertes Licht fest. Der Trend zur Professionalisierung ist offensichtlich. Natürlich haben sich auch das 16-mm-Material, die Kameras verbessert, aber das erklärt nicht alles.

Früher wurden viele Dilettantenfilme zur Jurierung nach Bern geschickt. Sie sind heute fast ganz verschwunden. An die Stelle jenes früheren Dilettantismus, den man nach ein paar Minuten hat erkennen können, ist ein neuer getreten, ein manchmal auch ganz amüsanter. Die neuen dilettantischen Filme sind zwar technisch recht gut, aber die Inhalte, die da dargestellt werden, sind dermassen übersteuert, derart über den Köpfen der jeweiligen Filmer, dass eine tiefe Diskrepanz zwischen Kunst-Wollen und Kunst-Können klafft.

Aber einer der alten Grundzüge des Schweizer Films ist geblieben. Er wird nur etwas weniger deutlich sichtbar im Moment, nämlich der Hang zum Didaktischen, der seligunselige Hang zur Weltverbesserung, zur geradezu eschatologischen Hoffnung auf die Verbesserung des Menschen. Dieser Hang, der die Schweizer Kunst seit jeher bestimmt hat, ist lebendig geblieben. Gotthard Jedlicka hat ja einmal gesagt, dass die Charakterstärke der Schweizer Künstler das wichtigere Stilelement sei als ihre künstlerische Potenz. Das würde ich heute noch unterschreiben. Der Hang hat sich im gegenwärtigen Schweizer Film zwar etwas maskiert, aber wenn man Schweizer Filme vergleicht mit Filmen aus anderen Nationen, dann ist doch diese Belastung noch immer sehr stark feststellbar. In einer mittleren Phase war der didaktische Hang gekoppelt mit expliziter Gesellschaftskritik. Das hing indirekt auch zusammen mit der wirtschaftlichen Hochkonjunktur. In dieser Zeit konnten die Autoritäten ein höheres Mass an Gesellschaftskritik tolerieren, konnten sich eine gewisse «Unaufmerksamkeit» einfach leisten. Heute, in einer Zeit der sich ankündenden Rezession, ist Gesellschaftskritik schon etwas schwieriger geworden.

Nun gelten Sie in der Schweiz als ein Kenner und Interpret jener Kunst, die im Outside entsteht und oft auch im Outside bleibt. Haben Sie nicht den Eindruck, dass durch den von Ihnen gelobten Trend zur Professionalisierung auch im Film bereits eine Abdrängung gewisser wichtiger Autoren ins Outside stattgefunden hat? Fehlen Ihnen schlecht gemachte, völlig unkonventionelle, verrückte Filme noch nicht?

Diese Filme fehlen ausgesprochen. Ich bin potentiell immer in der Erwartungsstellung, dass solche Filme auftreten würden. Aber ich habe noch keinen gesehen, keinen wirklichen Ausbruch in die Verrücktheit.

Da haben wir auf der einen Seite den didaktischen Hang, auf der anderen Seite den Erfolgszwang. Gibt es da überhaupt einen Ausweg?

Wenn man einem Künstler sozusagen ein sorgenfreies Schaffen ermöglichen würde durch erhöhte Subventionen, würde man ihn gleichzeitig in ein keimfreies Ghetto stossen, in dem dann gewisse Spannungsfelder einfach fehlen. Nur sehr starke Persönlichkeiten können eine solche Ghettosituation künstlerisch ausschöpfen. Es wäre bestimmt ziemlich sentimental zu sagen: Der Künstler muss leiden, damit seine Grösse zum Vorschein kommt. Aber es ist eben doch so, dass die Befreiung des Künstlers von allen diesen Spannungen nicht immer zu den erwarteten Resultaten führt. Ich glaube, Entwicklung kann nur stattfinden, indem man einen Dialog zwischen Kunst und Publikum fördert. Man müsste eine Wechselwirkung etablieren können, aus der die Wirklichkeit eben nicht ausgeklammert ist, sondern immer wieder sich in ihrer ganzen Schärfe und Undurchschaubarkeit einschaltet.

Tscharniblues von Bruno Nick, im Verleih der Filmcooperative, Zürich. Nick arbeitet zurzeit an seiner ersten 16-mm-Produktion, «Eine vo dene» (Arbeitstitel).

Harlan County, von Barbara Kopple, 1978 ausgezeichnet mit dem Oscar für den besten langen Dokumentarfilm, wird in der Schweiz von der Rialto-Film, in Zusammenarbeit mit der Filmcooperative, verliehen. Er startete in den kleinsten Kinos.

Martin Schaub
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(Stand: 2020)
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