MARTIN SCHAUB

DAS «VALIUM-ZEITGEFÜHL» — GESPRÄCH MIT HUGO LEBER

CH-FENSTER

Der Schweizer Film ist sicherer geworden, was die professionelle Abwicklung der Herstellung betrifft, aber auch in der Themenwahl. Diese Sicherheit kann etwas durchaus Positives, aber auch etwas Negatives sein.

Die Sehnsucht nach Sicherheit nach Jahrzehnten des Tastens ist zu begreifen, selbst die Sehnsucht nach grösseren Budgets. So mühevoll der Weg sein kann, Geld zu beschaffen bei den verschiedensten Organisationen, so sehr geben dann eine, anderthalb, ja zwei Millionen mit einem ausgearbeiteten Drehbuch erreichte Franken dem Filmemacher eine Sicherheit, die ihn einen Teil des spontanen, kreativen Arbeitens vergessen und verdrängen lässt. Nun will und muss er nur noch professionell sein und vergisst über dieser Professionalität - oder er vermag es schon gar nicht mehr -, umgesetzte Wirklichkeit in seinen Film zu bringen.

Man mag vielleicht etwas nachsichtig lächeln über Filme, wie sie zum Beispiel Leopold Lindtberg gemacht hat in einer ganz anderen Zeit, aber sie haben zu tun mit der Unbekümmertheit und der damit verbundenen Unsicherheit der Macher. Es scheint mir ganz klar, dass dann, als die Praesens-Film Sicherheit und Erfolg errungen hatte, die Spontaneität und Kreativität verloren gingen, beispielsweise in Die Vier im Jeep, wo kaum mehr Wirklichkeit vermittelt wird.

Im Zusammenhang mit dem Zürcher «Theater-Spektakel» ist die Bedeutung des Off- und Off-off-Theaters für die Erneuerung des Staatstheaters unterstrichen worden. Die Truppen aber, die da auftraten, stammten grossmehrheitlich aus dem Ausland. Ist das Sicherheitsdenken wohl eine allgemeine Erscheinung in der schweizerischen Kultur und lässt sich in Theater, Literatur, bildender Kunst ebenso nachweisen wie beim Film?

Ich sehe Parallelen. Es gibt ja auch in der Schweiz ein «armes Theater», das zum Teil auch plötzlich Erfolg hat, weil es etwas trifft, was in der Zeit liegt, was aber die subventionierten Theater nicht bringen. Durch kreatives, improvisiertes Spiel wird ein Publikum auch in eine kreative Haltung versetzt und fühlt sich mehr angesprochen, als wenn es in den hochsubventionierten Stühlen der Staatstheater sitzt und da zum Teil - immer seltener zwar - hervorragende Aufführungen anschaut. Das Problem betrifft nicht nur die Schweiz. Ich bin selber unsicher über den immer wieder gepriesenen Erfolg des neuen deutschen Films und sehe dort ähnliche Phänomene wie im Schweizer Film. Den immer stärker hervortretenden Professionalismus, der sich über die Sinnfälligkeit, die kreative Vermittlung legt. Beispielsweise bei Wim Wenders, aber sogar bei den Filmen von Alexander Kluge, in denen Spontaneität und Innovation zum Teil abgeblockt werden durch diesen Wunsch nach Sicherheit und den Wunsch, als sicherer Wert anerkannt zu werden.

Wenn man Filmemachern mit solchen Überlegungen kommt, schieben sie die «Schuld» gerne auf die Instanzen ab, die Filme fördern oder finanzieren. Sie sagen, sie seien selber gar nicht verantwortlich für ihre «sicheren Filme»; man solle sich an die verschiedenen «Experten» wenden.

Ich glaube, dass hier ein Zwiespalt des künstlerischen Schaffens überhaupt liegt. Ich halte die Argumentation für richtig und halte sie gleichfalls für falsch. Die Fernsehdramaturgen agieren gleich wie jene, die Filme machen oder machen möchten. Sie sind dem gleichen Sicherheitsbewusstsein unterworfen, verstärkt vielleicht sogar. Sie fragen sich, was geht, und orientieren sich nicht an der Frage, was an Film eigentlich alles möglich wäre. Aber nur das Wagnis, aus der Unsicherheit heraus zu schaffen, kann auch jene verändern, die darüber entscheiden, welche Filme gemacht werden. Das tönt paradox, aber es bleibt dennoch nichts anderes als zu versuchen, über diese unglaublich hohe Mauer zu springen.

Wir sind in den vorangegangenen Gesprächen immer wieder auf diesen Gegensatz von «Machbarem» und «Unvernünftigem» gestossen. Wir haben auch behauptet, dass die «unvernünftigen Filme» vor fünf bis zehn Jahren häufiger waren als heute.

Ich glaube, das trifft zu. Aber in diesem Sinne «unvernünftig» zu sein ist heute noch viel schwieriger geworden. Es ist viel schwieriger geworden, kreativ aus der Spontaneität etwas zu tun, und nicht nur im Film. Auch der Film spiegelt ein ausserordentlich deutliches Zeitgefühl wieder. Ich möchte es ein bestimmtes «Valium-Gefühl» nennen, weil man sich die Neurose, über die eigenen Grenzen zu springen, heute nicht mehr erlauben will und kann und meint, man dürfe es auch nicht mehr.

Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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