MARTIN FREI

QUARTIERARBEIT MIT VIDEO — ZUM BEISPIEL LONDON

CH-FENSTER

Seit Sommer 1979 gibt es am Ethnologischen Seminar der Universität Zürich eine Gruppe, die sich praktisch und theoretisch mit Stadtteilarbeit und speziell mit der Verwendung von Video in der Quartierarbeit befasst. Anfangs April dieses Jahres verbrachte ein Teil der Gruppe «Community-Medien» einen Informationsaufenthalt in England. In London besuchten wir vier verschiedene Projekte und zeichneten mit Video Gespräche und Arbeitsbeispiele auf. Ich habe mir die Bänder angeschaut und rückblickend einige Notizen gemacht.

The Basement Project

Ein Strassenzug, eine Brandmauer, an der ein Wandbild entsteht, ein Haus: die Strasse ist die Cable Street in East London, das Wandbild - «Die Schlacht an der Cable Street» -zeigt, wie die Bevölkerung 1936 die Faschisten unter Sir Oswald Mosley am Eindringen ins East End, einen Stadtteil, in dem zu dieser Zeit tausende von jüdischen Flüchtlingen wohnten, hinderten. Im Keller dieses Hauses befinden sich die Räume des Basement Projects.

Dan Jones und Maggie Pinhorn, zwei Initianten, berichten:

Die Leute in dieser Gegend sind ausgesprochen arm. Viele Bengalen, Inder und Pakistani wohnen hier. Die Zahl der Arbeitslosen ist hoch, ebenso die Kriminalitätsrate. Die Polizei diskriminiert die farbige Bevölkerung. Wir sind ein «Neighbourhood Resource Centre» (Nachbarschaftshilfe) und sind stark in das Quartiersgeschehen einbezogen. Wir arbeiten zur gleichen Zeit an sechs oder mehr Projekten, wobei Video, Siebdruck und Super-8 je nach Bedarf eingesetzt werden. Da war etwas: Kinder, die im Konflikt mit dem Gesetz standen, vorwiegend schwarze Kinder, wollten ein Buch schreiben. Also gut, wir schreiben euch ein Buch. Die Kinder sagten: nein, wir schreiben ein Buch, wir schreiben die Wahrheit. Dann entschieden sie: wir machen einen Film, den wir in Hollywood zeigen. Einer schrieb ein Drehbuch. Danach produzierten sie den Film anhand dieses Drehbuchs. Die Kinder sagten: wir sind da, wir sind wichtig. So entstand auch eine Schriftstellergruppe. Ein Lehrer, der im Unterricht nicht Shakespeare besprach, sondern die Kinder aufforderte, ihre eigenen Probleme auszudrücken und niederzuschreiben, wurde von der Schule gefeuert. Die Folge waren Streiks von verschiedenen Schulklassen. Der Lehrer kam dann mit seinen Schülern zu uns, um seine Arbeit fortzusetzen: Zwei Schüler schrieben ein Buch über die Probleme der Schule, mehrere schrieben Gedichte.

Government Poetry Warning

Ladies and Gentlemen,

Your attention for a moment.

The metropolitan police, (Creeping Subversion devision)

have asked us to make the following announcement.

A dangerous lunatic

has escaped from his cell

in the Hat above you

and dressing himself

in shorts

gold wellies

and a cape

is at large in East London.

He is calling himself

«The Word»

and is believed to be

inciting the general public

to write poems contrary to their education

and societies needs

He has been seen

challenging young children

to master himself

ans frightening old ladies

with the power

of their own words.

The public are instructed

that if seen

he should be

ridiculed

ignored

shunned

and most of all

rejected

and if touched by him

please be very guiet

and

keep

it

to

your

self.

(by Alan Gilbey)

Auch alte Leute kamen und schrieben ihre Lebensgeschichte auf und die, die nicht schreiben konnten, sprachen auf Band. Die Arbeit mit den so entstandenen Texten war insofern wichtig, als sie Bewusstseinsprozesse in Gang zu bringen vermochte.

Photography at the 51° Community Centre

– Die lächelnde Queen, Sprechblase: Wir müssen alle Opfer bringen, – eine Dogge, – Leute aus der Wirtschaft, dazu die Angabe des Goldpreises, - ein verslumtes Quartier, – Soldaten in Nordirland, – ein alter Mann, auf einer Bank liegend, Sprechblase: Wir müssen alle Opfer bringen, - der Goldpreis ist gestiegen... Diesen Bildern wird die Nationalhymne unterlegt und Bob Dylan singt: «We don't work on Maggys farm no more» (Margeret - Maggy - Thatcher ist Englands Premierministerin). The land of hope and glory ist eine Tonbildschau über Patriotismus und Rassismus von zwei Quartierfotografen, die im 51° Community Centre arbeiten. Neben der engagierten Fotografie organisieren sie Fotokurse und stellen den Leuten ihr Labor zur Verfügung. Viele Menschen verschiedensten Alters machen davon Gebrauch: Leute aus dem Pensioners' Club, von einem Frauenzentrum, Schulklassen aus einer nahen Schule und auch einzelne Leute aus dem Quartier. Neben diesen Kursen starten die Foto-Aktivisten auch eigene Projekte. Zusammen mit einem «Housing Action Committee» machten sie eine Ausstellung über schlechte Wohnverhältnisse. Im grössten Raum des Community Centres findet eine Fotoausstellung statt: Boys out! Its Girls Night!: Ulrike begleitete ein Girls Project in North Paddington. Man sieht Bilder aus dem Theaterstück Housewife, aus dem Videofilm Superman and the Bride, von einer Kateda-Demonstration (Selbstverteidigungstechnik) und aus einer Tonbildschau über schwarze Mädchen in England. Diese Quartiersarbeit wird unterstützt von der Abteilung für Quartierskunst des Arts Council of Great Britain.

West London Media Workshop

If you're intervening with video it is no good if you're just a video-person; you have to be a community-action, a community-worker person. (Andy Porter)

Andy arbeitete 1968/69 als Jugendarbeiter in Notting Hill. Diese Gegend, rund um die Potobello Road, war zu der Zeit Ausgangspunkt der alternativen Kulturbewegung. Die Flower-Power-Bewegung nahm hier ihren Anfang, die erste Quartierzeitung - «The International Times» - erschien hier und ebenso entstand hier eine der ersten Quartier-Organisationen, «The Peoples Association». Die Verwendung von Medien in der Quartierarbeit etablierte sich. Andy lernte den Umgang mit Videogeräten in einem Kurs für Gemeinwesen- und Jugendarbeit am Goldsmith College.

Ken Lyham war in einer Organisation tätig, die sich für die Belange der alten Leute einsetzte. Seit fünf Jahren nun arbeiten Andy und Ken zusammen und entwickeln die Video-Arbeit weiter in der Zusammenarbeit mit Kindern in einer Freizeitanlage.

Dem «West London Media Workshop» ist auch ein Fotoprojekt angeschlossen, das von zwei weiteren Leuten betreut wird. «I want a wage on the end of a week, just for security; after five years without it, you stop enjoying life, in a sense.» Die Foto- und Videogruppen brauchen rund 120 000 Fr. im Jahr. Einen Teil erhalten sie vom Staat (Arts Council of Great Britain), einen Teil bringen sie durch Auftragsproduktionen selber ein. Ihr Arbeitsplan sieht pro Jahr sechs Übungskurse, vier Produktionen und die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen vor. Ein Übungskurs dauert einen Monat. Die Teilnehmer führen am Schluss ein Projekt im Quartierbereich durch. Die Produktionen, von denen eine rund 6000 Fr. einbringen soll, bedingen Arbeit im regionalen Bereich. Ken ist momentan an einem Band, das von einem «Hospital Campaign Committee» und der Gewerkschaft finanziert wird: In den letzten Jahren sind in London über hundert Spitäler geschlossen worden. Der ganze Spitaldienst wird zentralisiert, was für die Unterprivilegierten eine Verschlechterung der medizinischen Versorgung zur Folge hat. Zurzeit werden eine Anzahl von kleineren Spitälern besetzt gehalten. Kens Band handelt von der Strategie, Spitäler zu besetzen und den Möglichkeiten, sich gegen diese Entwicklung zu wehren. «You can only use video where there is a movement - any-way it is only a tool...»(Andy)

Martin Frei
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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